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06. Oban, 16. November 2013

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Der verdammte Nebel lag noch immer über der Bucht, kroch in sämtliche Ritzen wie ein hungriges Tier auf Beutezug, das seine feuchten Tatzen nach mir ausstreckte. Um diese Zeit ein leider häufig auftretendes Phänomen. Gegen Mittag ließ ich alle Rollläden herunter, um das milchige Weiß auszusperren. Aber die Kälte und Feuchtigkeit spürte ich trotz der modernen Ölheizung, die Tante Emily hatte einbauen lassen, noch immer. Zum ersten Mal seit langem wusste ich absolut nichts mit mir anzufangen. Ich tigerte in dem kleinen Wohnzimmer mit den altmodischen Eichenmöbeln auf und ab, nahm ein Buch nach dem anderen zur Hand und legte es wieder hin. Gedichte. Normalerweise liebte ich sie – aber nicht heute.

Ich hatte unruhig geschlafen, von Träumen gequält, die sich beim Aufwachen verflüchtigten und einen vagen Eindruck von Traurigkeit und Schmerz in mir hinterließen. Geistesabwesend kaute ich an meinem Müsli herum und dachte an Elinor. Sie hatte sich gestern Abend ziemlich kühl von mir verabschiedet. Natürlich war sie wegen der Weigerung, ihr von meinem Problem zu erzählen, eingeschnappt, auch wenn sie es nicht offen zeigte. „Gegenseitiges Vertrauen ist die Basis von Freundschaft“, meinte sie noch, bevor sie ging. „Danke für das Essen“, war alles, was ich herausbrachte. Sie nickte hoheitsvoll und marschierte die Stufen zur Straße hinunter, mit geradem Rücken, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich sah ihr zu, wie sie in den Wagen stieg und davonfuhr. Sie würde sich bestimmt wieder beruhigen. Elinor war nie lange beleidigt, aber ich mich plagte trotzdem das schlechte Gewissen.

Den ganzen Vormittag über ertappte ich mich insgeheim dabei, wie ich auf das Telefon starrte oder lauschte, in Erwartung von Elinors Anruf. Natürlich war das Unsinn. Ich musste den ersten Schritt tun, aber ich konnte nicht. Wozu sollte ich sie mit etwas belasten, das längst vorbei war? Es hatte Spuren bei mir hinterlassen, ohne Frage. Aber ich wollte auf keinen Fall die Vergangenheit wieder zum Leben erwecken.

Als ich das Frühstücksgeschirr auf die Anrichte stellte, fiel mir die Karte auf, die mir der Fremde gestern gegeben hatte.

Es könnte sein, dass der Mörder Ihrer Mutter wieder zugeschlagen hat.

Was meinte er damit? Natürlich ging das Weltgeschehen zum größten Teil an mir vorbei, das war eben so, wenn man sich den Medien verweigerte.

Ich betrachtete die Karte. Nobles Cremeweiß mit schwarzem Aufdruck in einer schön geschwungenen Schrift. Er war kein Journalist, ein Anwalt. Das Büro hatte eine Adresse in Mayfair in London. Was mochte ihn veranlasst haben, mich aufzusuchen und dann so schnell aufzugeben? Aber vielleicht hatte er das ja gar nicht? Ich folgte einem Impuls und schlich zur Haustür, öffnete sie einen Spaltbreit. Der Laurel Crescent lag im Nebel vor mir, die Straßenbeleuchtung verschwommene gelbliche Flecken im diffusen Zwielicht. Ein Uhr mittags und die Welt war in Düsternis und Stille versunken.

Ich hielt es mit einem Mal nicht mehr aus. Der Satz von Mr. Holden schwebte wie ein drohendes Beil über mir. Dazu Elinor, die sich nicht meldete und mich dadurch zum einsamsten Menschen von ganz Schottland machte. Ich musste etwas tun. Ich zog die Laufschuhe und den Anorak an und verließ das Haus. Bevor sich das Gefühl von bohrenden Blicken in meinem Rücken einstellen konnte, begann ich zu rennen, folgte der Laurel Road hoch Richtung Norden. Hier war die Gegend noch dünner besiedelt und ich lief hauptsächlich durch bewaldetes Gebiet. Meine Füße wirbelten das modrige Laub auf. Der Geruch stieg in meine Nase und hinterließ in mir einen flüchtigen Eindruck von Tod und Vergänglichkeit. Ich schloss alle Gedanken aus, konzentrierte mich auf die Bewegung der Beine, hörte nichts als meinen Atem. Selbst das Geräusch der Schritte wurde durch den Nebel gedämpft. Ich lief, atmete kontrolliert. Die Feuchtigkeit drang in meine Lungen und langsam merkte ich, wie ich mich entspannte. Laufen half mir immer, den Kopf von nicht sortierten Eindrücken und Erinnerungen zu befreien.

Ich traf niemanden, alle Welt schien sich in den eigenen vier Wänden verbarrikadiert zu haben.

Feuchtigkeit legte sich mit der Zeit auf Haare und Gesicht. Ich roch das Meer und spürte Salz auf meinen Lippen. Keuchend hielt ich inne, schlug dann die Richtung zum Hafen ein. Gedämpft hörte ich bald darauf den Verkehrslärm und sehnte mich plötzlich nach Menschen. Nach einer warmen Tasse Tee und frischen Scones.

Als ich in die Craigard Road einbog, warf ich einen Blick auf Elinors Café. Es war geschlossen, wie immer an Samstagen im Spätherbst. Auch in der Wohnung brannte kein Licht. Natürlich, es war Sarahs Edinburgh-Wochenende und Elinor nützte bestimmt die Gelegenheit für einen Ausflug, so wie sie es angekündigt hatte.

Ich bog in die George Street ein, eine der Hauptstraßen in Oban. In den Sommermonaten war sie belebt, aber jetzt herrschte nur mehr mäßiger Verkehr. Als ich an der Whisky-Brennerei vorbeiging, sah ich ein Grüppchen Männer in Anzügen, die sich vor dem Eingang des Besucherzentrums scharten. Der Anblick der schwarz Gekleideten vor dem dunklen hohen Gebäude erinnerte mich an eine Trauergesellschaft. Mit einem Mal graute mir vor den langen, kalten Abenden, wenn die Dunkelheit den halben Tag für sich eroberte.

Ich lief weiter die George Street entlang, in Richtung des Fährterminals, bis ich das Caledonian Hotel erreichte. Im dazugehörigen Café gab es immer frische Scones mit Tee, eigentlich ein Angebot für Touristen, aber die Preise waren jetzt außerhalb der Saison so moderat, dass ich mir einen kleinen Imbiss gönnen durfte.

Warme, nach Gebäck und Kaffee duftende Luft und Stimmengewirr empfing mich. Das Café war gut besucht, alle Tische bis auf drei besetzt. Ich ging an die Bar, bestellte Tee, Sandwiches und Scones, suchte mir einen Platz im hintersten Winkel und zog meine Jacke aus. Mit den Fingern ordnete ich mein feuchtes Haar.

Am Nebentisch debattierte eine ältliche Damenrunde in Strick-Twinsets, karierten Faltenröcken und mit Perlenketten um den Hals. In der gegenüberliegenden Ecke saß ein Ehepaar in mittlerem Alter. Ich kannte die beiden vom Sehen und nickte ihnen grüßend zu. Daneben hatte ein junges Paar alle Mühe, die beiden quirligen Kleinkinder im Zaum zu halten.

Ich lehnte mich zurück, beobachtete. So war es mir am liebsten. Unter Menschen zu sein, ohne mich mit ihnen unterhalten zu müssen. Was für ein seltsamer Vogel ich doch geworden war!

Der Kellner brachte meine Bestellung und ich vertiefte mich, mit einem Mal hungrig geworden, in mein Essen.

Dann fiel mir wieder ein, warum ich unter anderem diesen Ausflug unternommen hatte, angelte mir eine Zeitung und begann sie durchzublättern.

Danach wusste ich wieder, warum ich mir das nie antat. Nur Negatives, Berichte über Krieg, politische Ränke, Wirtschaftsskandale. Auch Morde waren darunter, aber nicht solche, die mir einen Hinweis auf Mr. Holdens Bemerkung gegeben hätten.

Ich verließ das Café und machte mich auf den Heimweg. Das Laufen zumindest hatte mir gutgetan und ich fühlte mich besser.

Als ich die Gartenpforte öffnete, sah ich unter dem Vordach auf der Fußmatte etwas liegen.

Ich blieb abrupt stehen, starrte auf den Fremdkörper vor der Tür, ging dann langsam näher. Mein Herz klopfte wild. Jemand war hier gewesen. Ein Eindringling, ein Fremder.

Unsinn. Vielleicht hat der Paketzustelldienst etwas abgegeben.

Es war ein dickes, großes Kuvert, beschriftet mit meinem Namen. Ein gelbes Post-It klebte daran.

Bitte sehen Sie sich den Inhalt an, stand da in schwungvoller Handschrift. Unterschrieben war der Zettel mit Benedict Holden.

Ich musterte das Ding, als wäre es eine giftige Schlange. Überlegte schon, ob ich es einfach liegen lassen sollte, hob es dann doch auf. Es war schwer, allem Anschein nach beinhaltete es einen Stapel Papier.

Ich deponierte es auf dem Küchentisch. Den Teufel würde ich tun und es öffnen. Ich ahnte, dass es Aufzeichnungen über meine Vergangenheit enthalten musste, und davon hatte ich ein für alle Mal genug.

Um fünf hielt ich es nicht mehr aus und wählte Elinors Nummer. Eine Ewigkeit lang ließ ich es erfolglos läuten. Auch auf dem Handy erreichte ich sie nicht. Wahrscheinlich war sie tatsächlich ohne mich nach Glasgow gefahren, um sich einen schönen Tag zu machen, so wie sie es angekündigt hatte. Und ich saß einsam da. Aber das hatte ich mir nur selbst zuzuschreiben. Bevor das Selbstmitleid mich überwältigte, beschloss ich, eine ordentliche Portion Glückshormone zu mir zu nehmen. Ich setzte Tee auf, holte die Reste des Chocolate Fudge Cakes aus dem Kühlschrank und aß die Schüssel leer.

Danach schmerzte mein Bauch, aber das lenkte mich wenigstens von meiner depressiven Stimmung ab. Ich legte mich auf das Bett, betrachtete die Zimmerdecke. Das gedämpfte Licht der Nachttischlampe warf Schatten darauf. Draußen war alles still und ich fühlte mich plötzlich in einen dichten Kokon eingesponnen. Ich starrte in die Dunkelheit und mir war, als würde sie sich ausbreiten wie ein hässliches Geschwür. Zugleich bewegten sich mit einem Mal die Wände des Zimmers auf mich zu. Ich holte Luft, wollte schreien, brachte nur ein Krächzen zustande. Etwas legte sich auf mein Gesicht, auf meinen Mund, schnürte mir den Atem ab, ich keuchte panisch. Zog die Beine an und kauerte mich zusammen. Hörte ein Wimmern, es war mein eigenes.

Mama, hilf mir! Bitte!

Ich weiß nicht, wie lange ich im Bett kauerte, ob ich ohnmächtig vor Angst war oder wodurch ich wieder zu mir kam. Mit einem Mal schlug mein Herz ruhiger, die Wände des Schlafzimmers waren wieder dort, wo sie hingehörten und die Schatten hatten nichts Bedrohliches mehr. Ich atmete ein paar Mal ein und aus, fuhr mit dem Ärmel des Sweatshirts über meine schweißbedeckte Stirn. Vielleicht hatte Elinor recht und ich sollte doch wieder einmal Hilfe in Anspruch nehmen. Nur – ich hatte schon alles versucht, was möglich war. Es gab keine Therapie für mich, wenn ich mich nicht erinnern wollte. Aber das musste ich wahrscheinlich, um die Gespenster der Vergangenheit endlich zu vertreiben.

Dann fiel mir die Kiste ein.

Ich kroch aus dem Bett, kniete auf den Boden. Ich hatte das einzige Erinnerungsstück an die Vergangenheit bei meinem Einzug unter dem Bett verstaut und seitdem nie mehr hervorgeholt. Wenn ich es genau bedachte, hatte ich sie nicht mehr geöffnet, seit ich Portree verlassen hatte. Vor siebzehn Jahren.

Im Dunklen tastete ich nach dem Metallring, der als Griff diente. Ich zog, ignorierte das hässliche Kratzen, als der Metallbeschlag über die Dielen schabte.

Ich wischte mit dem Ärmel den Staub ab. Die Kiste hatte meinem Vater gehört. Sie war aus massiven Eichenbrettern, mit kunstvoll geschmiedeten Metallbändern verziert. Eine richtige Piratenkiste. Wo war nur den Schlüssel dazu? Ich durchsuchte fieberhaft die Schublade des Nachttisches und die der Kommode, bis ich ihn in der Lade mit dem Schmuck ganz unten fand.

Mein Herz begann wild zu klopfen. Ich wusste nicht einmal mehr, was ich in diese Kiste gepackt hatte.

Ich hob den Deckel und starrte hinein. Obenauf lag ein dünnes Fotoalbum, das ich herausnahm und zur Seite legte. Zuerst musste ich meine Neugier stillen, was den restlichen Inhalt betraf.

Meine Finger stießen auf Seidenpapier, darin eingehüllt Stoff. Die Erinnerung überwältigte mich und ein dicker Kloß in meinem Hals entstand. Das Lieblingstuch von Mum aus feinem dunkelgrünem Wollstoff, bedruckt mit dunkelroten Rosen. Ein Hochzeitsgeschenk ihrer Mutter. Meine Großmutter war ein Jahr danach verstorben, die einzige Verwandte, die wir noch hatten. Die Großeltern väterlicherseits waren lange tot, mein Vater war ein Einzelkind gewesen. Nach dem Tod von Maureen hatte es keine Verwandtschaft mehr gegeben, die sich um mich hätte kümmern können …

Ich schluckte und legte das Tuch zur Seite. Keine Ahnung, was ich damit tun sollte. Ich besaß kaum elegante Kleidung und es passte nirgends dazu.

Ich stöberte weiter und fand meine Lieblingspuppe Kitty. Das erstarrte Lächeln auf ihrem Plastikgesicht täuschte Unschuld und Fröhlichkeit vor. Die mit buntem Papier beklebte Schachtel, in der sich ihre Kleider befanden, lag daneben. Meine Mutter hatte sie mit der Hand genäht und ich bewunderte die exakten feinen Stiche mit Wehmut. Kurzerhand beschloss ich, Kitty aus ihrem Gefängnis zu befreien und ihr einen Platz auf der Kommode zu gönnen.

Ich stieß auf einen Stapel Bücher. Die Literatur meiner Kindheit, abgegriffen und zerlesen. Eine Ausgabe von Peter Pan, The Chronicles of Narnia, Alice in Wonderland. Und die gesammelten Werke der Dichter der englischen Romantik. Ich strich über das vernarbte Leder, über die Goldprägung und erinnerte mich an den Tag zurück, an dem ich es bekommen hatte. Dieses Buch war mein größter Stolz gewesen, denn meine Mutter wollte mir damit zeigen, dass sie mich für reif und einer Erwachsenen gleich hielt, auch wenn ich damals erst zehn Jahre alt war. Ich legte es zur Seite.

Eine weitere, mit Geschenkpapier beklebte Schachtel kam zum Vorschein. Sie klirrte leise, als ich sie aus der Kiste nahm. Eine dumpfe Ahnung überkam mich. Mit zitternden Fingern hob ich den Deckel.

Silberglanz, buntes Funkeln. Brians Schmuckstücke, Geschenke an meine Mutter und mich. Der kleine Schwalbenschwanz mit Lapislazuli … Ich schloss den Deckel wieder und stellte die Schachtel zur Seite. Dabei fiel etwas zu Boden.

Verwundert starrte ich auf den Rosenkranz, der auf dem Teppich lag. Ich nahm ihn auf und ließ ihn durch die Finger gleiten. Die schwarzen Holzperlen waren abgewetzt, als wäre er viel gebraucht worden. Das Kreuz mit der kleinen Christusfigur war verbogen. Meiner Mutter hatte der Rosenkranz bestimmt nicht gehört, sie hasste die Abbilder des Gekreuzigten. Aber wem sonst? Keine Ahnung, wie er unter meine Erinnerungsstücke gekommen war.

Dann fand ich mein Poesiealbum, ein kleines, mit rotem Samtstoff bezogenes Buch. Er war an manchen Stellen ganz kahl, so oft hatte ich es damals zur Hand genommen. Als ich darin zu blättern begann, wurde plötzlich meine Kindheit wieder lebendig. Ich glaubte, den Atem des Loch Fada zu riechen, die Farben der Hügel, die sich mit den Jahreszeiten änderten, zu sehen. Hörte das Gekreisch und Gelächter der Kinder auf dem Schulhof, erinnerte mich an meine beste Freundin Brianna. Ihr Eintrag befand sich gleich auf der ersten Seite des Albums.

Ich blätterte weiter, entdeckte noch mehr Kindheitserinnerungen. Andy Murphy, der Mittlere der drei Murphy-Jungs, mein heimlicher Schwarm, ein schmaler Junge mit dunkler Haut, schwarzen Locken und braunen Augen, genau wie sein Vater. An einige der Namen erinnerte ich mich kaum noch. Stella McBride, Eileen Donovan, Stanley Higgs.

Seltsam, da fehlte eine Seite, klar ersichtlich durch die ausgefransten Ränder. Ich hatte das bestimmt nicht getan, mein Poesiealbum war mir damals heilig. Unten in der Ecke konnte ich ein mit rotem Stift gemaltes „S“ erkennen. Wer hatte da hineingeschrieben und danach die Spuren tilgen wollen? Ich erinnerte mich mit bestem Willen nicht daran.

In der Mitte des Buchs stieß ich auf den Eintrag meiner Mutter. Ihre zierliche, gestochene Schrift, in der sie Lord Byrons Zeilen niedergeschrieben hatte.

She walks in beauty, like the nightOf cloudless climes and starry skies;And all that’s best of dark and brightMeet in her aspect and her eyes:Thus mellow’d to that tender lightWhich heaven to gaudy day denies.

Du bist das Beste, was mir je geschehen ist. In Liebe, Deine Mutter.

Das Blatt trug das Datum meines zehnten Geburtstags.

Gleich dahinter fand ich Brians Seite.

Für meine Prinzessin April – bewahre immer den Frühling in deinem Herzen! … stand da in flüchtiger, großzügiger Handschrift. Dazu die Zeichnung eines Schmetterlings, die Flügel weit geöffnet, verschlungene, zarte Muster darauf.

Ach Brian! Was hast du nur getan …

Etwas stieg heiß in mir auf und ich musste schlucken. Meine Augen begannen zu brennen, aber ich hatte längst keine Tränen mehr. Eine Ewigkeit lang starrte ich auf den Schmetterling, auf das weiße Papier, die geschriebenen Zeilen, ohne auch nur irgendetwas denken zu können.

Erst nach einer Weile fand ich die Kraft, das Fotoalbum zur Hand zu nehmen.

Ich schlug es auf, um meine Reise in die Vergangenheit fortzusetzen. Die Bilder waren chronologisch geordnet. Fotos von meinen Großeltern, den McPhersons. Das Cottage am Loch Fada, das wir auch später bewohnt hatten. Mein Vater, der stolz seinen Fang, einen riesigen Hummer, präsentierte. Ich betrachtete sein Gesicht, den dunklen Haarschopf, sein Lächeln und alles an ihm erschien mir seltsam fremd.

Das Hochzeitsfoto meiner Eltern, Mum im schlichten weißen Kleid, die schwarzen Haare zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Mein Vater im dunklen Anzug, auch dieser Anblick wirkte unvertraut.

Schließlich ich als Baby, ein Schnappschuss, der gleich nach der Geburt aufgenommen worden sein musste. Ein winziges, runzeliges Gesicht, das voller Gram in die Kamera blickte, als wüsste es bereits, was ihm bevorstand.

Dann ein paar Bilder aus der Schulzeit. Klassenfotos, Familienfeiern. Auch eines von meinem zehnten Geburtstag. Meine Mutter hatte eine Party gegeben, obwohl das bei uns sonst nicht üblich war. Ich selbst, mein Haar eine wallende Lockenmähne, zur Feier des Tages durfte ich es offen tragen. Ich präsentierte mich in einem neuen T-Shirt mit aufgestickten Blüten, dazu eine hellblaue Weste und Jeans. Stolz lächelte ich in die Kamera. Neben mir stand meine Mutter und ich stellte wieder fest, wie sehr wir uns ähnlich sahen. Brian, der betont lässig in die Kamera grinste. Sein Anblick brachte noch immer mein Herz zum Stolpern und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er …

Ich stoppte meine Gedanken abrupt und betrachtete die anderen Personen. Da war noch die gestrenge Mrs. Phibbs, unsere nächste Nachbarin, deren Cottage sich fünf Autominuten in Richtung Portree befand, daneben ihre Söhne Tom und Lewis, mit karottenroten Schöpfen. Dahinter Mr. Phibbs, eindeutig der Erzeuger der beiden Jungs, wie seine Haarfarbe bewies und Miss Milly, die meiner Mutter manchmal im Laden half.

Meine Freundinnen Brianna und Stella, die drei Murphy-Jungs.

Hamish Ferguson, mein Patenonkel, seine große, unbeholfen wirkende Gestalt auf dem Lehnstuhl, die riesigen Hände gefaltet. Er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen, starrte mit von der Kamera abgewandtem Gesicht finster auf Brian. Hamish hatte meine Mutter geliebt, wie ich erst später mitbekam.

Dann noch Frank Shelby, mein Lieblingslehrer. Er unterrichtete Englisch und Geschichte, ein rundlicher Mann mit Stirnglatze und Brille.

Etwas abseits entdeckte ich Reverend Jack Brennan. Seltsam, ich hatte ihn völlig vergessen. Kein Wunder, er war ein unauffälliger blasser Mann mit dünnem, sandfarbenem Haar. Ich fragte mich, warum Mum ihn eingeladen hatte. Wir gingen nicht zur Kirche, auch wenn wir katholisch waren. Aber ich erinnerte mich, dass er uns manchmal besuchte und mir aus der Bibel vorlas. Ich mochte seine tiefe, melodiöse Stimme. Er hatte Portree irgendwann Anfang Herbst verlassen.

Ich legte das Album zur Seite. Es weckte zwar Erinnerungen in mir, aber es half mir nicht weiter.

Ich wusste, was damals geschehen war. Man brachte es mir im Waisenhaus schonend bei, als sie glaubten, ich könnte die Wahrheit verkraften. Später bekam ich auch den Polizeibericht. Aber es war, als würde ich die Geschichte einer anderen Person erfahren oder einen Horrorroman lesen. Der Anblick der Fotos in der Akte brannte sich mir auf immer ein, aber ich erkannte die Tote darauf nicht als meine Mutter. Eine fremde Frau, die Furchtbares erleiden musste. Natürlich wusste ich auch, was mit mir geschehen war, weil man es mir sagte. Aber ich erinnerte mich nicht an diese drei schlimmsten Tage meines Lebens, wollte es nicht – nie wieder!

Schmetterlingstränen

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