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02. Oban, Schottland, 12. November 2013

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An undefined, an awful dream,A dream of what had been before;A memory whose blighting beamWas flitting o’er me evermore.

Emily Bronte (1818 – 1848), A Dream

Ich hasse November.

Die Worte hallten im Takt meiner Schritte im Kopf, pulsierten als dumpfes Echo hinter der Stirn. Ich wiederholte sie wie ein Mantra. Ich. Hasse. November.

Die Tablette, die ich gegen den Migräneanfall gleich nach dem Aufwachen geschluckt hatte, begann endlich zu wirken und der stechende Schmerz verwandelte sich in ein Gefühl, als wäre mein Gehirn in Watte gepackt.

Mein Hals und meine Brust taten aber noch immer weh. Ich musste wieder im Traum geschrien haben und wie so oft war ich dankbar für die abgeschiedene Lage von Tante Emilys Häuschen, die nächsten Nachbarn außerhalb meiner Rufweite.

Ich blieb stehen, lauschte in die nebelverhüllte Welt um mich herum.

Stille.

In einer plötzlichen Anwandlung von Orientierungslosigkeit drehte ich mich um die eigene Achse, obwohl ich wusste, dass sich hinter mir der weiß lackierte Zaun und die Gartenpforte des Cottage befanden, das ich gerade verlassen hatte.

Ich hasse Nebel.

Ich wartete auf das altbekannte Ziehen zwischen den Schulterblättern und die Vorstellung, beobachtet zu werden. Langsam ging ich weiter, suchte mit meinem Blick den Dunst zu durchdringen, der wie eine schwere Decke über dem Hügel lag. Normalerweise liebe ich es, mich im Gewirr der Gässchen zu verlieren, die den Laurel Crescent bilden. Aus der Vogelperspektive sieht er aus wie ein Kreuz, das durchgeschüttelt wurde und dessen längere Enden sich an die Laurel Road klammern. Tante Emilys Cottage, das seit zwei Jahren mir gehörte, stand am nördlichen kürzeren Teil dieses Kreuzes gänzlich abgeschieden und war für Uneingeweihte schwierig zu finden. Genau das Richtige für mich.

An Novembertagen war ich jedoch immer froh, zur Kreuzmitte zu kommen und wenigstens noch ein paar Anzeichen mehr von Zivilisation zu sehen, auch wenn die Mietcottages seit dem Sommer schon leer standen. Im Haus der MacAllisters brannte wie immer um diese Zeit Licht und ich genoss den Anblick des tröstenden warmen Scheins.

Als ich das Haus hinter mich ließ, verschluckte mich wieder die weiße Unendlichkeit. Prompt kehrte das Gefühl wieder, beobachtet zu werden. Ich versuchte mit allen Kräften, die aufsteigende Panik zu unterdrücken.

Da ist niemand. Du bildest dir das nur ein.

Ich ging weiter, mit mechanischen Schritten, sah stur geradeaus, bemühte mich, die Büsche zu ignorieren, hinter denen jemand stecken konnte. Die leeren Häuser nicht zu beachten, in denen er womöglich auf mich wartete. Wenn er mir folgte, wusste er, wo er mir am besten auflauern konnte.

Unsinn. Er ist nicht da. Es ist vorbei. Schon lange.

Ich weiß, ich bin seltsam. Aber ich kann nichts dafür. Wem so etwas wie mir widerfahren ist, der hat jedes Recht, seltsam zu sein.

Meine Kindheit endete ein paar Monate nach meinem zehnten Geburtstag an einem Novemberwochenende. Das ist jetzt ziemlich genau siebzehn Jahre her. Ich stürzte in die Finsternis, und als ich am tiefsten Punkt ankam, war alles zu Ende und nichts würde mehr so werden wie früher. Ich hatte alles verloren. Meine Mutter, meine Unschuld und meinen Glauben an das Gute im Menschen.

Meine geschundene Seele wehrte sich, indem sie den Schleier des Vergessens über diese drei Tage legte, in denen ich die Hölle durchlebte. Trotz jeglicher Therapie änderte sich daran nichts. Irgendwann gab ich es auf und akzeptierte, dass ein Teil meiner Erinnerung fehlte. In Anbetracht eines Menschenlebens ist diese Zeitspanne von drei Tagen unerheblich. Doch tief in mir lauert ein furchtbares Wissen, das niemals ruht und das mich unablässig quält. Ich verdränge diese Tatsache mehr oder weniger erfolgreich. Der Lohn sind ständig wiederkehrende Albträume, Migräneattacken und Panikanfälle.

Besonders an Novembertagen wie diesem, wenn der Nebel meine Welt eroberte, sie in dichte, undurchdringliche Schwaden hüllte, die alles um mich herum erstickten, kratzte die eingeschlossene Erinnerung mit scharfen Nägeln in meinem Inneren, versuchte, mit Macht an die Oberfläche zu gelangen und schaffte es doch nicht. Dann wurde jeder Weg zur Tortur, zum Spießrutenlauf.

Ich bog in die Laurel Road ein, das Blut rauschte in meinen Ohren und mein Herzschlag dröhnte. Ich schwitzte, obwohl es so frostig war, dass der Atem weiße Wölkchen bildete. Jetzt kam der schlimmste Teil des Weges. Hier standen keine Häuser, es gab nur dichtes Buschwerk und mit Gras bedeckte Hügel. Unbebautes Niemandsland, das perfekte Verstecke bot. Linkerhand erhob sich der MacCaig’s Tower, das markanteste Wahrzeichen von Oban. Heute konnte ich die Umrisse des mächtigen Runds über mir nur erahnen. Die Straße lag wie ausgestorben vor mir.

Ich beschleunigte meine Schritte. Zwei verschwommene gelbe Lichter tauchten auf. Das erste Auto, das mir an diesem Morgen begegnete. Ich wich zur Seite, starrte auf den Wagen, der langsam an mir vorbeifuhr, hoffte, dass er nicht hielt und der Fahrer mich nicht ansprach. Das Fahrzeug verschwand um die nächste Biegung und ich blieb stehen, lauschte, bis sich das Motorengeräusch verlor und ich mir sicher war, dass er nicht gewendet hatte, um was auch immer zu tun.

Ich stieß den Atem aus, den ich angehalten haben musste, seit ich das Auto bemerkt hatte.

Es ist nichts. Du solltest dich nicht so verrückt machen.

Normalerweise brauche ich zu Elinors Café, meiner Arbeitsstätte, etwa zwanzig Minuten, wenn ich zu Fuß gehe. Mit dem Fahrrad schaffe ich es in nicht einmal der halben Zeit. Aber die Bremsen waren kaputt und ich hatte noch keine Zeit gehabt, sie reparieren zu lassen. Ein Auto konnte ich mir aufgrund meiner knappen Budgetlage nicht leisten.

Meine Beine begannen sich wie von selbst schneller zu bewegen, wie von einem fremden Willen getrieben, lief ich die Straße hinunter Richtung Hafen. Wenig später bog ich in die Craigard Road ein. An ihrem Ende an der Ecke zur Hauptstraße befindet sich Elinor Rockwells kleines Café in einem schlichten, zweistöckigen Haus mit grauer Steinfassade. Keuchend stand ich schließlich vor der Haustür und musste meinen Atem beruhigen.

Die Fenster im ersten Stock waren erleuchtet, was bedeutete, dass Elinor und Sarah bereits beim Frühstück saßen. Alle Anspannung fiel von mir ab. Nun war ich in Sicherheit.

Ich läutete. Gleich darauf polterten Schritte die Treppe herunter und Elinors Tochter öffnete. Seit den zwei Jahren, seit ich sie kannte, hatte sie sich vom etwas pummeligen Grundschulmädchen in einen Teenie mit schlaksigem, ungelenkem Körper verwandelt – mit den üblichen pubertären Anwandlungen, wie Elinor mir manchmal klagte. Jetzt drehte sie sich wortlos um, ohne mein „Hi Sarah, wie geht’s?“, abzuwarten, die Ohren zugestöpselt und zu einer für mich unhörbaren Musik summend.

Ich folgte ihr die schmale, steile Treppe in das Obergeschoss. Würziger Kräuterduft hüllte mich ein. Elinor saß am reichlich gedeckten Frühstückstisch, ein Korb mit frisch gebackenen Scones verströmte diesen köstlichen Geruch. Neben ihr stand der aufgeklappte Laptop.

„Hi, Süße“, nuschelte sie kauend, schluckte hinunter und strahlte mich an. „Setz dich. Du musst unbedingt die Kräuter-Scones probieren.“

Elinor war eine begnadete Bäckerin – einer der Gründe, warum das Café zumindest während der Sommermonate ausgezeichnet lief. Die ruhigen Spätherbst- und Winterwochen nutzte sie, um Rezepte auszuprobieren und ich durfte Versuchskaninchen spielen.

Elinor war vor vier Jahren nach Oban gekommen, nachdem sie sich von ihrem Mann Thomas getrennt hatte. Er war Buchhalter bei der Bank of Scotland, ein durch und durch korrekter und etwas farbloser Typ, der sich aber strikt an die vereinbarte Sorgepflicht hielt und Sarah jedes zweite Wochenende nach Edinburgh holte.

Elinor hatte damals meine Idee, einen kleinen Buchladen mit neuen und gebrauchten Büchern in der anderen Hälfte des Cafés einzurichten, begeistert aufgenommen und nun bildeten wir ein unschlagbares Team.

Ich setzte mich an den Tisch, goss mir eine Tasse Tee ein, nahm mir ein noch ofenwarmes Gebäck, halbierte es und strich gesalzene Butter darauf. „Hmm – köstlich! Vielleicht eine Spur zu viel von … Lavendel?“

„Tatsächlich? Ja, mit dem Zeug muss man aufpassen. Es ist ziemlich intensiv.“ Sie sah auf und ich merkte, dass ich sie aus einer anderen Welt geholt hatte.

„Chattest du schon am Morgen mit einem deiner Verehrer?“

Im Gegensatz zu mir liebte Elinor alle Möglichkeiten der modernen Kommunikation. Ich besaß zwar ein Handy, nutzte es aber nur in Notfällen. Fernsehgerät und Computer waren für mich tabu. Eine Tatsache, über die sie nur den Kopf schüttelte. In ihren Augen war ich eine rückständige Hinterwäldlerin. Aber ich hatte meine guten Gründe dafür.

Sie grinste. „Nö, ich checke gerade die E-Mails.“ Sie warf mir einen vorsichtigen Seitenblick zu, bevor sie weitersprach. „Ich hab hier eins von einem Typen über ein Partnerforum gekriegt. Der schreibt schräge Sachen. Ich glaube, der fällt eher in deinen Bereich, ich kenn mich mit diesem Zeugs nicht aus.“

Sie schob mir den Laptop zu.

Say, wilt thou go with me, sweet maid.Say, maiden, wilt thou go with meThrough the valley depths of shade,Of night and dark obscurity.Where the paths has lost its way,Where the sun forgets the day, -Where there’s nor light nor life to see,Sweet maiden, wilt thou go with me?

Wo die Sonne den Tag vergisst, wo zu sehen ist kein Licht und Leben … Die Gedichtzeilen waren wie ein Faustschlag ins Gesicht. Eine Gänsehaut lief über meinen Körper. Ich schnappte unbewusst nach Luft, stürzte ab, in mein kaltes, dunkles Loch, aus dem ich gerade heute Morgen geklettert war.

„Hey, was ist? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!“ Elinors Griff um mein Handgelenk holte mich aus der Finsternis.

Ich schüttelte den Kopf, kniff die Augen zu. Als ob das gegen die bösen Geister helfen würde!

„Ich kenne das.“ Ich drängte die Dunkelheit in mir zurück in jenen verborgenen Winkel, in dem sie immer lauerte. „Das Gedicht ist von John Clare, einem Dichter des 19. Jahrhunderts, nicht von diesem Typen. Sieht man doch gleich an der Schreibweise.“ Meine Stimme hörte sich in meinen Ohren fremd und gequetscht an. „Du solltest ihm nicht antworten, lass die Finger davon.“

Elinor sah mich verständnislos an. „Jetzt spinnst du aber, oder? Das ist doch harmlos! Okay, ein bisschen makaber vielleicht, aber das ist ja gerade interessant. Wir schreiben uns seit zwei Wochen und es passiert gar nichts.“

„Seit zwei Wochen?“ Ich war perplex. „Du hast mir nichts erzählt …“

Sie senkte den Kopf, mit einem Anflug von Schuldbewusstsein auf ihrem hübschen Gesicht. „Er meinte, ich solle es nicht an die große Glocke hängen.“

Irgendwo in meinem Inneren begann es zu kribbeln. „Du meinst, er hat dir verboten, über ihn zu sprechen?“

„Blödsinn“, sagte sie, ein wenig zu heftig und ich wusste, dass er genau das getan hatte. Sie zog den Laptop mit einer raschen Bewegung zu sich heran. „Ich wollte dir eigentlich nur das Gedicht zeigen, weil ich weiß, dass dir so etwas gefällt. Ich dachte … naja, vielleicht interessierst du dich für ihn. Aber ich wollte nicht, dass du mir Vorhaltungen machst.“

„Vergiss es! Du schreibst einem Kerl, der dich mit düsteren Gedichten beglückt, der dir verbietet, über ihn mit jemandem zu reden, dem du vertraust, und du findest das völlig in Ordnung?“

Es war unfassbar!

In Elinors Augen erschien ein trotziges Funkeln. „Ich bin eine erwachsene Frau und ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Und ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens irgendeinem langweiligen Typen jeden Abend sein Bier und seine Hausschuhe zu bringen und mit ihm vor dem Fernseher zu versauern. Ich hatte das schon mit Tom und es machte überhaupt keinen Spaß. Ich möchte auch nicht als eine Art Kampfnonne leben, wie eine gewisse Person, die ich kenne, die jedem männlichen Wesen, das in ihre Nähe kommt, am liebsten in die Eier treten würde.“

Ich musste wider Willen lachen. „Du übertreibst maßlos. Ich bin keine Kampfnonne.“

Elinor grinste. „Sorry, das stimmt vielleicht nicht ganz. Aber du musst zugeben, dass du es den Kerlen nicht leichtmachst.“

Sie hatte recht. Ich habe ein problematisches Verhältnis zu Männern. Doch auch dafür gibt es Gründe.

Die Spannung hatte sich gelöst. Für Elinor war der Disput damit erledigt und ich fragte mich selbst, ob ich nicht an Paranoia litt. Sie wandte sich wieder ihrem Laptop zu und las das Gedicht noch einmal halblaut. „Ich könnte mir vorstellen, dass er wie dieser Schauspieler aussieht, der jetzt Sherlock Holmes spielt. Du weißt schon, Benedict Cumberbatch. - Groß, sehr schlank, mit schwarzen Locken und unwahrscheinlich blauen Augen“, sagte sie auf meinen verständnislosen Gesichtsausdruck. „Ach, vergiss es. Du hast ja keine Ahnung, wenn du nicht einmal die Klatschzeitungen beim Friseur liest.“

Ich musste wieder lachen, obwohl das mulmige Gefühl nicht verschwand, als ich die vertrauten Worte noch einmal hörte. Elinor war nicht nur eine ausgezeichnete Bäckerin, sie hatte auch eine überbordende Fantasie. Oft genug zu ihrem Pech, denn sie forderte Enttäuschungen geradezu heraus. Aber vielleicht hatte sie diesmal recht und der Kerl war wirklich nur ein romantischer Spinner. Sie konnte ja nicht wissen, dass diese Gedichtzeilen für einen winzigen Moment eine Tür zu einem Bereich meiner Vergangenheit geöffnet hatten, den ich für immer im Dunklen lassen wollte.

***

Ich schluckte noch zwei Tabletten, bevor ich in den Laden ging, nur um sicher zu gehen, dass mich keine weitere dieser heimtückischen Kopfschmerzattacken außer Gefecht setzte. Sarah hatte die ganze Zeit im Bad verbracht und verließ die Wohnung mit einem flüchtig hingeworfenen Gruß wie immer um acht, um zur Schule zu gehen. Ich half Elinor beim Aufräumen und um halb neun öffneten wir das Café.

Elinor hatte mir erzählt, dass gestern Abend noch eine Kiste mit Büchern aus dem Nachlass der alten Mrs. Tennant gebracht worden war und ich war begierig, sie zu durchforsten. Mrs. Tennant war eine gute Kundin gewesen, die alte Kriminalromane sammelte und ich konnte sicher sein, einige für mich interessante Exemplare zu finden.

Ich ging in den kleinen Lagerraum im rückwärtigen Bereich des Erdgeschosses und knipste die Lampe an. Sofort wurde der fensterlose, mit Regalen vollgestellte Raum in trüb gelbliches Licht getaucht. In dieser wenig ansprechenden Umgebung vertiefte ich mich in meine Arbeit. Es waren etwa hundertfünfzig Bücher, ein Bruchteil von Mrs. Tennants Schätzen. Hauptsächlich Romane von Agatha Christie, darunter sogar eine Erstausgabe von The Murder in the Vicarage aus dem Jahr 1930. Ein paar von Wilkie Collins waren dabei und ein ziemlich zerlesener Sherlock-Holmes-Band. Die Agatha Christies würde ich auf jeden Fall in den Laden stellen, sie waren bei den Touristen immer begehrt.

Elinor erwischte mich beim Schmökern, als sie den Kopf mit einem verschwörerischen Grinsen und einem Blick auf die Uhr an der Wand durch die Tür streckte. Es war fünf Minuten vor elf und ich verstand.

Ich erhob mich, klopfte meine Jeans ab, ging in die Toilette, um mir die Hände zu waschen und band eine der weißen Schürzen um, die an einem Haken neben der Eingangstür zum Lagerraum hingen.

Elinor verschwand in der kleinen Küche des Ladens. Hier bereitete sie die Snacks und Suppen zu, während sie in der größeren, besser ausgestatteten Küche in ihrer Wohnung Kuchen und Kekse fabrizierte.

Pünktlich um elf Uhr klingelte die Glocke der Ladentür und Mr. Hunter betrat das Café. „Hallo Gerald“. Ich lächelte ihn an.

„Guten Morgen, April.“ Sein Blick schweifte suchend durch den Raum.

Wie immer ergriff mich eine leise Ahnung von Mitleid.

„Ist Elinor nicht da?“ Seine hellen blauen Augen – Elinor bezeichnete sie gerne als babyblau – bekamen einen leidenden Ausdruck.

„Ich fürchte, sie hat keine Zeit.“ Ich hoffte, mein Tonfall klang bedauernd genug und warf einen kurzen Blick in Richtung Küche. „Shortbread“, sagte ich aufs Geratewohl. „Sie knetet gerade den Teig und ist komplett voller Mehl. Sorry.“

Er nickte resigniert, griff nach der Zeitung und setzte sich an den hintersten Tisch in der Ecke. Dort saß er immer, in der meist vergeblichen Hoffnung, einen Blick auf Elinor zu erhaschen oder sie womöglich sogar zu sprechen. Er tat mir manchmal wirklich leid, obwohl ich, wie schon erwähnt, mit Männern so meine Probleme hatte.

„Ich könnte Ihnen heute die Zitronentarte empfehlen. Oder den Brombeerkuchen. Beides ganz frisch.“

Er räusperte sich. „Den Brombeerkuchen bitte. Und Tee. Wie üblich.“ Er stellte die mitgebrachte Papiertasche sorgfältig auf den freien Stuhl neben sich und vertiefte sich in seine Lektüre. Immer wieder warf er verstohlene Blicke in Richtung Küche. Ich hörte, wie Elinor darin rumorte, wie um zu betonen, wie beschäftigt sie war. Gerald hätte nie gewagt, die Küche zu betreten, der arme Kerl. Er blieb in der Ecke sitzen, trank Tee, aß den Kuchen, pickte jeden einzelnen Krümel auf. Ein farbloser Mittvierziger in grauer Strickjacke, das glatte, hellbraune Haar sorgfältig gescheitelt. Gerald war Besitzer des Oban Guest House, ein Bed & Breakfast in der Albert Road und er kam jeden Vormittag zur gleichen Zeit. Man konnte die Uhr nach ihm richten. Er war nett. Nicht mehr und nicht weniger. Er würde niemals eine Chance bei Elinor haben, aber er begriff es nicht.

Pünktlich um halb zwölf stand er auf und bezahlte. Diesmal ging er aber nicht gleich, sondern blieb stehen, sah mich flehend an. Aus der Papiertüte – ich hatte mich schon gefragt, wozu er die brauchte – holte er ein Päckchen, eingewickelt in cremefarbenes Papier, das mit rosafarbenen Röschen bedruckt war. Eine hellrosa Schleife zierte das Präsent. Ich hielt unwillkürlich den Atem an. Er tat also den nächsten Schritt. Ein Geschenk.

Er räusperte sich. „Würden – würden Sie das Elinor von mir geben? Ich hätte es ihr gerne selbst … aber sie ist ja leider so beschäftigt… gewissermaßen unabkömmlich … was ich durchaus verstehe …“ Er verstummte abrupt, drückte es mir in die Hand und verschwand so plötzlich, dass ich nicht einmal mehr einen Abschiedsgruß anbringen konnte.

Ich starrte das Ding an. Natürlich musste ich es Elinor geben. Sie würde es hassen, was immer es auch sein mochte, davon war ich überzeugt. Ich legte es auf die Anrichte hinter der Theke und vergaß es.

Der Tag verlief ruhig. Am Nachmittag kamen ein paar Besucher zum Tee. Mrs. Cooper mit ihrer Tochter, drei Arbeiter, die auch noch ein Bier tranken, ein verspätetes Touristenpärchen, das einen Reiseführer und ein Exemplar der Scottish Folk Tales kaufte.

Ich begann, die Bücher aus Mrs. Tennants Kiste zu katalogisieren und in die Regale zu stellen, während Elinor bediente.

Wir hatten das Café gemeinsam gestaltet. Fotos aus Obans Vergangenheit und Nachdrucke von Gemälden von William Turner zierten die Wände, die Möbel hatten wir auf Flohmärkten besorgt, ein Sammelsurium von Stilen, wobei wir darauf achteten, nur dunkle Möbel zu nehmen. Es gab im Gastronomiebereich sechs Tische und im Buchladenbereich ein weiteres Tischchen mit dazugehörigen Stühlen und eine gemütliche, schon ziemlich abgewetzte Ledercouch. Die beiden Bereiche trennte ein mit Büchern vollgestellter Raumteiler, sodass man von zwei Seiten Zugriff auf die Lektüre hatte. Ein offener Durchgang führte vom Café in den Ladenteil und über allem schwebte eine Duftmischung von Tee, Kaffee, frischem Gebäck oder auch würziger Suppe und alten Büchern. Ich mochte meinen Arbeitsplatz, er war gemütlich und überschaubar und oft verbrachte ich Stunden nach Ladenschluss auf der Ledercouch, in irgendeinen Schmöker vertieft, wenn mir vor dem Heimweg und der Einsamkeit zu Hause graute.

„Kommst du auf einen Tee mit hoch? Ich hab auch noch einen Rest Linsensuppe.“ Elinor blieb im Durchgang stehen. Sie hielt Geralds Päckchen in der Hand. „Ist das von ihm?“

Ich nickte. „Sorry, hab vergessen, es dir zu geben.“

Elinor lächelte spitzbübisch. „Er geht also zu Plan B über, der arme Kerl.“ Sie kicherte und drehte sich um. „Weißt du was? Wir streichen den Tee und gönnen uns ein Gläschen Wein. Dann öffnen wir feierlich das Liebespräsent.“

Wenig später saßen wir in ihrer Küche. Die altmodischen, weiß lackierten Möbel im Landhausstil strahlten urige Gemütlichkeit aus, Lampenschirm und Vorhänge aus rotweißem Karo verstärkten den rustikalen Eindruck noch. Besonders stolz war Elinor auf die alten Kuchenformen aus Kupfer, die sie von Zeit zu Zeit polierte. Sie standen in einem eigenen Regal über der Anrichte und verbreiteten vornehmen Glanz.

Die Linsensuppe schmeckte wie immer ausgezeichnet. Elinor schenkte uns ein Glas Chardonnay ein und legte dann Geralds Päckchen auf den Tisch, betrachtete es wie ein Forscher, der ein seltenes Insekt unter dem Mikroskop begutachtet.

„Was könnte da drin sein?“

Der Wein wärmte mein Inneres, ich fühlte mich leicht und mir fiel ein, dass ich den ganzen Tag keine Kopfschmerzen mehr gehabt hatte. „Ich tippe auf ein Schmuckstück. Eine Brosche oder ein Medaillon. Das würde zu ihm passen.“ Eine dunkle Ahnung kratzte an den Rändern meines Bewusstseins, aber ich verdrängte sie sofort wieder. Auch ich war neugierig, welches Präsent Elinors hartnäckiger Verehrer ausgesucht haben mochte.

Sie zupfte an der Schleife und löste sie. „Sieh dir nur diese Verpackung an. Bedrucktes Seidenpapier. War sicher teuer.“ Ich nickte bloß und sah Elinor gespannt zu, wie sie die Umhüllung entfernte. Eine kleine Schachtel kam zum Vorschein. Ich bemerkte das goldfarbene B auf dem Deckel und erstarrte, spürte, wie das Loch sich vor mir auftat, der kalte Hauch der Finsternis mich streifte. Nicht, wollte ich sagen. Mach es nicht auf, aber ich brachte keinen Ton heraus. Elinor achtete nicht auf mich, öffnete den Deckel und stieß einen erstaunten Laut aus. „Das ist ja wunderhübsch! Das hätte ich diesem Langweiler gar nicht zugetraut!“

Sie hielt mir die Schachtel entgegen. Feiner Silberdraht, vollendet geformt zu weit ausgespannten Schmetterlingsflügeln, die eingearbeiteten smaragdgrünen Splitter glitzerten im Schein der Lampe. Ich hörte Brians Stimme aus den Tiefen meiner Erinnerung. Schmuck für meine Prinzessin.

Das silberne Ding verschwamm vor meinen Augen, begann sich flirrend im Kreis zu drehen. Schmerz explodierte in meinem Kopf, Dunkelheit hüllte mich ein, ich erstickte darin und stürzte in bodenlose Tiefe.

Schmetterlingstränen

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