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Ganz zuhinterst im Fjord

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Ganz zuhinterst im Fjord wohnen auch Menschen. Dort ist das Wasser schmal und schwarz vor Tiefe. Dort sind die Berge blau und hoch. Sie sind so hoch, daß sie bis gegen den Johannistag noch weiße Wintermützen tragen. Und sie sind breit und klotzig; sie nehmen fast allen Raum für sich allein ein und lassen für Gras und Wald und Tier und Mensch nur wenig Boden übrig. Wenn im Sommer der Schnee endlich geschmolzen ist, zeigt es sich, daß alle diese Berge kahle Schädel und alte, grimmige Gesichter haben. Sie sind nicht freundlich. Sie stoßen das Leben von sich.

Darum sind es hier andere Menschen als draußen an der Küste. Ganz gewiß tüchtige Menschen in ihrer Art, gut und klug auf ihre Weise. Aber sie haben nur einen Scherben von Himmel über sich. Sie müssen stets im Schatten der Felsen wandeln.

Zäh sind sie. Wenn der grüne Boden nur eine Steinwurfsbreite erreicht, muß er ihnen schon dienstbar sein. Gleich bauen sie ihre Hütten und Häuser hin, kommen mit Schafen und Ziegen und Kühen daher, nehmen Besitz vom Land und zeugen Nachkommen ...

Da, wo drei Bergzüge zusammentreffen, hört der Fjord auf, und es bildet sich eine Bucht. In der Bucht liegt der Platz Mjelvik. Es sind vielleicht fünfzig Häuser und einige zerstreute Gehöfte, vielleicht mögen es auch sechzig Häuser sein. Mehr sind es sicher nicht.

Zwischen den drei Bergzügen liegen zwei Täler. Jedes Tal sendet seinen Bach ins Meer. Wenn es regnet, werden diese armseligen Bäche sogleich zu böswilligen Flüssen. Man hat zwei Brücken geschlagen, eine hölzerne und eine aus grauen, dicken Schieferplatten. Das Wasser mag die beiden Brücken nicht leiden; es knurrt und faucht und nagt unablässig an den Pfeilern. Es schiebt Geröll heran, die Durchfahrt zu verstopfen. Das macht den Menschen Verdruß und viel unnütze Arbeit.

Sommer und Winter, Tag und Nacht poltern große und kleine Steine von den Berghängen nieder und rollen in die Täler, so daß die Bäche niemals in ihrem Bette ruhen können und sich stets neue Wege suchen müssen. Die Menschen wissen mit all den vielen Steinen nichts Gescheites anzufangen und verfluchen sie und lehnen sich in gottlosen Worten gegen das Walten der Naturkräfte auf. Die kleineren Steine räumen sie immer wieder von ihrem grünen Lande hinweg, die größeren aber müssen sie liegenlassen und umgehen. Darin gleichen sie dem Wasser. Auch die Menschen finden hier nicht Ruhe und Frieden und müssen sich ohne Unterlaß durchs Leben kämpfen ...

Es gibt in Mjelvik nicht einmal soviel wie eine Kirche, so unbedeutend erscheint dieser Ort selbst dem lieben Gott. Nein, wenn die Leute beten und singen oder sich sonstwie öffentlich erbauen und ihren Glauben stärken wollen, müssen sie mit dem Boot an die fünf Stunden weit übers Wasser hinrudern oder fast ebensolange auf der Bergstraße wandeln nach dem Pfarrort, der Lunda heißt.

Im Winter liegt aber viel Schnee auf den Bergen und versperrt die Straße, und auf dem Fjord heult der Sturm. Und da kommt es nicht so gar selten vor, daß brave Christenmenschen auf dem Kirchgange ihr Leben verlieren. Die Leute von Mjelvik verstehen das nicht recht.

Sie forderten vom Bischof eine eigene Kirche. Aber der Bischof sagte: „Nein! Das lohnt sich nicht,“ sagte er. „Mjelvik ist noch zu klein. Ihr müßt zuerst wachsen und groß werden.“

Natürlich hat der Bischof recht. Er kann nicht jedem Hausvater eine Kirche vors Küchenfenster stellen. Unmöglich.

Aber die Leute von Mjelvik verstehen es dennoch nicht. Sie schelten den Bischof und das hohe Ministerium und verwünschen beide mit ähnlichen Worten wie die Naturmächte mit den vielen überflüssigen Steinen. Die Leute von Mjelvik haben sich im Laufe der Zeit allmählich verhärtet in Bitternis und Trotz. Ach, diese armen Schafe wurden wohl schon ein wenig schwärzlich in der Wolle.

Vielleicht flucht man in Mjelvik um einiges mehr und kräftiger als andernorts. Das ist möglich. Verwunderlich kann es nicht sein, wenn eine Herde ohne Hirt auf schlechter Weide auf Abwege gerät.

Ist Mjelvik somit in geistlicher Beziehung ein bißchen vernachlässigt und zurückgeblieben, so hat es im weltlichen Aufschwunge wenigstens mit der Zeit tapfer Schritt gehalten. Das ist einzig und allein Sigmund Borsas Verdienst.

Sigmund Borsa — seht, das ist der Mann, der alle anderen Leute von Mjelvik um Haupteslänge überragt und auf den es hier ankommt. Er stammt aus einem alten Geschlecht.

Den Borsa hat einmal ganz Mjelvik zu eigen gehört; ein großes Stück der drei Bergzüge und der zwei Täler und alles Land zu Füßen der Felsen. Wie sie dazu kamen, weiß heute kein Mensch mehr. Keiner fragt danach. Es fielen im Laufe der Zeit ein paar Fetzlein ab. Da und dort ein Zipfel. Aber Sigmund hält noch immer allen wertvollen Boden in seinem Besitz. Sie nennen ihn König.

Wenig kann hier in Mjelvik ohne den König Sigmund geschehen, das meiste nur durch ihn; aber nichts gegen ihn. Er sitzt auf Trollhaugen.

Er sitzt auf einem uralten Lederstuhl vor einem schweren Eichentisch und regiert. Und seine Nase ist lang und groß — eine wahrhaft majestätische Nase, die weit aus dem übrigen Gesicht hervorragt. Der Mund klebt eigentlich nur noch unten daran. Und das Kinn hat sich völlig in ein paar tiefe Hautfalten zurückgezogen. Wenn der Hemdkragen nicht da wäre, ließe sich kaum bemerken, wo der Hals beginnt. Seine Augen sind ungewöhnlich. Es sind graue Augen. Eins schaut geradeaus und das andere einige. Striche daneben. So ist Sigmund, der König.

Er hat den großen Hof mit allen Außenwerken in rechtschaffener Weise von seinem Vater geerbt, eine Seifenfabrik gegründet und die alte Fischjacht „Solrenningen“ erworben. Im Winter kauft er Fische draußen an der Küste, salzt sie in Tonnen und führt sie mit seiner Jacht in die Stadt.

Sigmund Borsa — er ist derjenige, von dem alle Menschen hier in irgendeiner Weise leben. Fast alle haben ihre Häuser auf seinem Grund und Boden erbaut. Fast alle arbeiten in seinem Sold. Fast alle sind seine Schuldner.

Nur dem Krämer Benjamin Sagensen ist es vor einem kleinen Menschenalter mit List und durch Zufall gelungen, sein Geschäft und den Boden, auf dem das Geschäft steht, zu kaufen. Das war bald nach dem Tode des Post-Nicolaj, zu einer Zeit, als der Strand in größter Erregung und der König in finanziellen Nöten war. Der ganze Ort Mjelvik bebte damals und drohte zu fallen.

Ja, jenes war eine böse Zeit. Man hat sie noch nicht vergessen. Der große Kramladen des Königs war fast leer. Kein Korn auf der Mühle, kein Mehl in den Säcken, kein Kredit in der Stadt — Gott allein weiß, wovon die Weiber in Mjelvik ihre Grütze kochten. Selbst auf dem Herrentisch von Trollhaugen fehlte mehrere Tage lang der Zucker. So schlimm stand es.

Aber dann starb also der Post-Nicolaj. Nicht vor Hunger starb er, sondern an einem großen Loch im Kopf. Und die lederne Posttasche mit Horn und Löwe und Königskrone war verschwunden.

Die Leute sagten sich ganz richtig, daß hier ein Mord vorliege. Die Obrigkeit mischte sich in die Angelegenheit in Person des Vogts Kolbjörn Fagernes und suchte nach der Posttasche, die an jenem Tage viel Geld enthielt, und nach dem Mörder. Man bedauerte den jungen Nicolaj und war erschüttert von seinem gewaltsamen Ende. Von seiner Jugend an hatte er jede Woche zweimal die Posttasche durch das lange Tal hinauf nach dem reichen Ort Furuvoll getragen. Da hatte ihn also auf dem Weg der Tod ereilt. Und die Obrigkeit erklärte, daß der Mörder die gefüllte Posttasche mit sich genommen habe. Der Vogt und sein Schreiber Daniel und sein Knecht, der Polizei-Sören, dem damals gerade die ersten verschämten Haare unter der Nase hervorsproßten, suchten im Walde, in den Häusern, in den Geröllhalden. Aber der Steine sind in dieser Gegend, Gott bessere es, gar zu viele. Die Obrigkeit konnte nicht unter allen herumscharren. Und es verging Tag um Tag, und sie fand die Tasche nicht und sie fand den Mörder nicht.

Der Vogt wollte schon seinen Schreiber Daniel mit den Akten in die Stadt schicken, als Arnika Oevreseth mit dem Neuen Testament in der einen und einem weißen Taschentuch in der andern Hand auf seinem Kontor erschien und unter viel Seufzern und Tränenerguß eine seltsame Mitteilung machte.

Arnika Oevreseth war nicht als hervorragend begabte, aber als tiefreligiöse Frau bekannt. Und nun sitzt sie also auf der äußersten Stuhlkante und sagt: „Er ist es — der Herr tröste mich!“

Der Vogt Kolbjörn Fagernes, verdrießlich über seine große und vergebliche Mühe mit dem Postraub, schaut vom Briefe auf und fragt: „Wer soll was sein? — Siehst du denn nicht, daß ich hier sitze und schreibe, alte Frau?“

Und weiter beachtet der Vogt diese Arnika nicht. Arnika aber sagt: „In des Herrn Namen — ich habe sie gefunden.“

„Ja“, murmelt der Vogt, ohne den Blick zu heben. Und dann wird er wütend über die Störung und sagt auch noch: „Ja, gute Seele — scher dich nun in des Herrn Namen zum Henker ... Denn ich habe keine Zeit für dich, siehst du.“

Ach, der Vogt war damals ein noch sehr junger Mann und erst vor kurzem in diese Gegend gekommen. Er setzte sich durch seine kräftige Sprache sogleich bei allen mächtig in Respekt.

„Vogt, versündige dich nicht!“ ruft Arnika Oevreseth. Hei, wie ihre Lippen zucken, und wie ihr das Kinn zuckt. „Er und kein andrer ist es!“ ruft sie. „Gott stehe ihm bei! ... Und ich habe die Tasche gesehn ...“

„Die Tasche?“ fragt der Vogt und legt die Feder weg. „Doch wohl nicht die Posttasche?“

Arnika nickt und beginnt nun heftig zu schluchzen. Aber das, was heraus muß, kommt schließlich doch heraus. Alles kommt heraus: „Ja — aber war es die Posttasche!“ ruft sie.

Arnika Oevreseth hat ihren eigenen leibhaftigen Sohn Haldor mit der Posttasche überrascht. Ja, und unter einem großen Stein hinter der Scheune liegt sie. Und das wäre nun allerdings eine Neuigkeit.

Der Vogt setzt sogleich seine Amtsmütze mit den Goldschnüren und der Kokarde auf, ruft seinen Knecht herbei, und fort geht es, das Tal hinauf. Alles stimmt. Da ist der Stein. Da ist die Tasche. Aber die Tasche ist leer.

Der Sohn Haldor liegt auf seinem Bett und schläft friedlich und ohne Gewissensbisse. Man weckt ihn, und die Obrigkeit erforscht unerbittlich seine Seele.

Aber nein, dieser Sohn gesteht nicht. Er habe die Tasche im Walde gefunden, gibt er an. Und mehr wisse er nicht, gibt er an. „Und glaubt mir nur, Vogt, sie war schon leer!“ ruft Haldor. „Und ich habe die Tasche doch nur so mitgenommen.“

Und als die Tasche dann überall gesucht wurde, schwieg Haldor, weil er sich plötzlich fürchtete. Haldor war vielleicht ein wenig beschränkt im Geiste und, wie es hieß, mit einem schwachen Kopf geboren. Es hieß plötzlich auch, Haldor sei allezeit träge zur Arbeit gewesen und dazu grob im Mund. Keiner wunderte sich, daß es ein Ende mit Schrecken nehmen mußte!

„Gott sei mein Zeuge!“ ruft Haldor.

Aber das war doch zum Lachen idiotisch. Nun wunderten sich alle Leute nur noch darüber, daß dieser Bursche so standhaft leugnen konnte, trotz Kreuzverhör und schmaler Kost und hartem Lager im Keller unter dem Vogtkontor.

Der Vogt war doch noch so jung und schneidig, damals. Er hatte den Mörder und die Tasche erwischt. Nun wollte er absolut auch das viele Geld finden. Oh, er war scharf, der Vogt.

Wenn Haldor Oevreseth sehr hungrig wurde, sagte er: „Ja. Da und da habe ich es vergraben, das Geld.“

Dann gab man ihm zu essen. Aber das war doch alles nur Schwindel und führte zu nichts. Wenn man hinging, war doch nichts vergraben. Das Geld war verschwunden. Das Geld blieb verschwunden.

Der einzige Trost war, daß man wenigstens den Mörder hatte. Der Vogt führte ihn in die Stadt.

Haldor Oevreseth wurde seines schwachen Kopfes wegen nicht zum Tode, sondern nur zu achtundzwanzig Jahren Kerker verurteilt. Und damit war diese Sache erledigt.

Sie wurde viel besprochen in Mjelvik. Denn soweit die Menschen zurückdenken konnten, hatte sich an diesem Strande nichts Ähnliches ereignet. Dies und die schwierige Lage des Königs und der allgemeine Hunger rüttelte die Gemüter nicht übel auf. Die Leute krümmten ihre Rücken unter der Geißel des Himmels, und viele unter ihnen begannen ihre Zunge zu zügeln, bezähmten ihr hitziges Gemüt und taten mit Seufzern und frommen Sprüchen Einkehr. Ja, sie scheuten sogar zu dieser Zeit nicht mehr den langen und beschwerlichen Weg nach dem Pfarrorte Lunda.

Und es schien wirklich so, als nähme der Himmel ihre reumütige Buße gnädig auf und halte inne mit der Fuchtel und den unbegreiflichen Heimsuchungen.

Im Königreich Mjelvik

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