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Der Geheimnisvolle
ОглавлениеVerborgene Fäden knüpfen ferne Dinge zusammen. Alles hat seine Bedeutung. Die Bondorfs starben; sie machten im Ritterhof Platz für die Lohmanns. Ein ganz verwickelter Zug im grossen Spiel.
In den Tagen, da im verlassenen Garten die Äpfel reiften, wurde die Familie Lohmann von einem hartherzigen Hausbesitzer auf die Strasse geworfen. Diese zahlreiche und sprachgewaltige Familie bezahlte ihre Miete höchst mangelhaft und wurde von den Hausbesitzern verachtet und von den Nachbarn gefürchtet.
Klaus Lohmann, der Grossvater, ein buckliges, mageres Männchen, das stets mit dem Kopf wackelte, zog einst mit seiner Frau und fünf Töchtern vom Lande in die Stadt. Klaus selber führte ein Schattendasein, ging in der Stube aus und ein, setzte sich an den Tisch, beteiligte sich selten an der Unterhaltung. Sein Wort fand von niemand Beachtung. Sie nannten ihn den Ältesten; doch es lag keine Ehre in diesem Titel.
Wovon die Lohmanns lebten, liess sich schwer ergründen. Zuweilen arbeiteten sie, zuweilen trieben sie einen kleinen Handel, meistens arbeiteten sie nicht. Sie lebten irgendwie und ernährten sich von einem Tag auf den anderen.
Bald nach ihrer Ankunft in der Stadt fand die Tochter Barbara einen Bräutigam, der Lorentz hiess und sogleich starb. Nachdem er gestorben war, widmete sich die Tochter Barbara der Trauer um ihn, nannte ihn Lorentz selig und nähte nebenbei ein wenig.
Die zweite Tochter heiratete einen Eisenbahner und bekam schnell nacheinander drei Buben — Werner, Emil und Arnold. Damit hörte die Fortpflanzung der Familie Lohmann auf. Sie vermehrte sich jedoch noch auf diese Weise, dass ein Mädchen, das vielleicht einen lockeren Lebenswandel führte, den Knaben Konrad ins Haus brachte und hernach wieder spurlos in der Ferne verschwand.
Konrad zählte zwei Jahre mehr als Werner. Er war gewiss ein Kind der Sünde. Er hatte ein stilles, erschreckend blasses Gesicht und darin ein paar treue blaue Augen. Die drei Knaben umschlichen ihn, betrachteten ihn eingehend; darauf zogen sie sich in ihre Dachkammer zurück.
Emil sagt: „Das ist der Sohn des Geheimnisvollen.“
„Jetzt schwafelst du wieder“, erklärt Werner, indes er sich müht, das Werk einer alten Schwarzwälder Uhr in Gang zu bringen.
„Zuweilen, in der Dämmerung, spricht er mit mir“, sagt Emil weiter.
Die Schwarzwälder Uhr beginnt rasselnd zu schlagen, schneller oder langsamer, je nachdem Werner an der Kette zieht.
Emil sagt: „Er heisst Konrad. Weisst du, warum?“
Keine Antwort.
„Weil er das uneheliche Kind einer Stallmagd und eines Grafen ist“, fährt Emil unbeirrt fort.
„Woher weisst du das?“ fragt Werner.
„Ich weiss es. Ein Fluch lastet auf ihm.“
„Wer sollte ihn denn verflucht haben?“
„Der Vater des Grafen. Niemand weiss das, nur ich allein. Darauf nahm Konrads Vater eine Pistole und schoss sich tot.“
„Er schoss sich selber tot? Keine Spur.“
„Doch. Auch ich werde mich einmal totschiessen. Ich weiss das alles In Konrad fliesst blaues Blut.“
„Wo kann man das sehen?“
„An den Schläfen. Vielleicht werde ich einmal eine Gräfin heiraten. Soviel ist mir schon verraten worden.“
„Wer hat es dir verraten?“
„Im Traum ...“
Arnold, der jüngste, klettert auf eine grosse, leere Kiste; vorgebeugt, die Hände in den Hosentaschen, lauscht er gespannt und füllt mit der Zungenspitze die Backe aus, so dass eine Beule entsteht. Wenn ihm Emils Rede besonders gefällt, trommelt er mit den Fersen auf die Kiste.
Emil war damals zehn Jahre alt. Sie gingen alle in die Stube hinunter und betrachteten den Knaben Konrad nochmals eingehend, die hohe Stirn und die Äderchen an den Schläfen. Es stimmte. Er hatte blaues Blut. Er war geheimnisvoll.
„Was soll aus diesem Knaben werden?“ fragte Hannes Frank, der Eisenbahner, mit bösen Falten zwischen den Augenbrauen. „Sind nicht schon mehr als genug unnütze Mäuler vorhanden?“
Aber die Lohmanntochter Elisa war ein mündiges Frauenzimmer; sie hatte ein kleines Gesicht, eine spitze Nase und einen schmalen, geraden Strich darunter; sie sagte zu Hannes Frank: „Du solltest dich vor dir selber schämen! Schweig und sieh seine Augen an!“
„Darauf pfeif’ ich“, sagte Hannes. „Mit seinen Augen wird er sich den Bauch nicht füllen.“
„Ob einer mehr oder weniger mit uns isst, hat nichts zu bedeuten.“
Offenbar hatte das dennoch etwas zu bedeuten. Denn es entwickelte sich daraus einer der unzähligen Wortwechsel mit Tischklopfen, Fluchen und Türschmettern. Das Ende vom Spektakel war, dass der Knabe Konrad in die Familie Lohmann aufgenommen wurde. Der Herr im Himmel sorgt in unversiegbarer Güte für seine Kinder.
Es ging. Die Lohmanns ernährten sich immerzu. Es ging durch alle Jahreszeiten. Zumeist ging es mit Brot und dünnem Kaffee und noch dünnerer Wassersuppe. Manchmal ging es fast wie durch ein Wunder. Die Lohmanns kämpften mit dem Schicksal und erhielten sich am Leben. Disteln gleich standen sie am Rande der Wüste und lebten von Licht und Luft und gar nichts. Wahre Meister des Sparens und des Hungerns, überaus fromme Seelen. Wenn alles Bargeld ausging, sagten sie: „Gott wird weiterhelfen.“ Und ihr Glaube wurde nicht zuschanden. Zu Hannes Frank, der sich mit groben Worten gegen den Niemandssohn Konrad versündigte, sagten die Frauen: „Wohltun trägt Zinsen.“
Die Entwicklung der Dinge gab den Frauen recht. Denn kein anderer als Konrad war es, der die Kunde vom leeren Ritterhof ins Haus brachte. Konrad trieb sich oft auf der Strasse herum und verfolgte mit seinen hellen Augen das Treiben der Menschen, reif für sein Alter, wie Kinder der Armut oft zu sein pflegen.
Konrad rannte in die Stube und hatte vor Aufregung rote Flecke auf beiden Wangen; gerade an dem Morgen, da die Lohmanns obdachlos werden sollten. „Wir können in den Ritterhof ziehen“, sagte Konrad.
„Bist du verrückt?“ fragten die Frauen.
„Nein, nein ... Kein Mensch will im Ritterhof wohnen. Ich könnte den Eigentümer fragen, den Herrn Mayer; sein Sohn ist in meiner Klasse, ich helfe ihm bei den Aufgaben; ich war schon bei ihm daheim.“
„Ja, du ... Geh nur!“ riefen sie.
Ein Wunder geschah. Der blasse Junge Konrad vollbrachte es.
Floss wirklich blaues Blut in ihm? Verfügte er über ungewöhnliche Geisteskräfte? Ach, vielleicht war das Wunder nicht gar so gross. Der Besitzer dachte wohl, eine kleine, selbst eine unsichere Miete sei besser als gar keine Miete. „Gut. Ihr könnt sofort einziehen“, sagte Herr Mayer.
Schon in derselben Nacht schliefen die Lohmanns in den einstigen Rittersälen, in den vornehmen Räumen, die seltsam nach Reichtum, Gas und Tod rochen. Anstatt in einer engen Dachkammer wie Schafe zusammengepfercht, lagen die vier Buben mit grösster Raumverschwendung in einem hohen, weiten Prunkgemach. Von allen Wänden strahlten fast gewandlose Göttinnen; und es gab da Märchenwälder, durch die fabelhafte Tiere schritten.
Werner wurde von der zauberhaften Umwandlung am meisten ergriffen. Mit dem ersten Morgendämmer erwachte er und sah staunend die unerhörte Pracht der bemalten Wände aus den Schatten der Nacht hervorwachsen. Dieser Erstgeborene, Werner, schlug sicherlich aus der Art; er glich weder seinen Brüdern noch irgendeinem der Lohmannsippe. Nur er hatte dieses schmale Gesicht mit der breiten, kantigen und eigenwilligen Stirn. Ein merkwürdiger Träumer von früh an. Seine braunen Augen schienen stets in der Ferne zu suchen. Seine Freude bestand darin, Papier und Holzstücke, ja sogar die Wände mit Zeichnungen zu bedecken.
Ergriffen wurden sie wohl alle. Die neue Umgebung wirkte auf sie in eigentümlicher Weise. Man hätte glauben können, das alte Ritterschloss ziehe diese Menschen zu sich empor. Ein neuer Geist fuhr in sie; sie sprachen behutsamer und bezähmten die Gewalt ihrer Stimmen. Die Vornehmheit des alten Hauses betörte sie.
Am Morgen fragte Elisa, die mit der spitzen Nase, ihren Schwager, mit dem sie sonst allezeit auf Kriegsfuss stand: „Nun, lieber Hannes?“ Und das fragte sie sicherlich reinen Herzens. Sie wollte wohl darauf hinweisen, dass die ganze Herrlichkeit Konrads Werk sei. „Ohne seine Hilfe hättest du niemals in diesem Schloss übernachten dürfen“, sagte sie.
Zu gewöhnlichen Zeiten — ja, weiss der Henker — hätte eine solche Frage Hannes Frank, das Oberhaupt, in hellem Zorn aufflammen lassen, und die entsprechende Erwiderung wäre bestimmt gefallen. An diesem gnadenreichen Morgen jedoch wollte er sich nicht versündigen, sondern nickte zur allgemeinen Verblüffung Elisa nachsichtig zu.
Trotz ihrer scharfen Nasenspitze und dem dünnen Strich darunter wollte Elisa nicht eine von der Sorte sein, die Gutes mit Bösem vergalt. Darum erwies sie dem Schwager Ehre. „Ja, du, Hannes“, sagte sie, „du bist ein so kluger Mensch und bewandert in vielen Dingen. Könntest du uns erklären, was die unverschämten Malereien im Zimmer der Buben darstellen?“
„Das“, antwortete der Schwager Hannes, ohne sich lange zu besinnen, „das sind Sachen aus der biblischen Geschichte.“
„Alle diese nackten, ausgelassenen Frauenzimmer, du, Hannes?“ Nein, Elisa zweifelte; und vielleicht war selbst zu dieser guten Stunde ihr Herz doch nicht ganz frei von schlimmen Hintergedanken. Sie wollte dem Schwager eine Falle stellen.
Wenn aber der Schwager in Elisas Falle fiel, so blieb er immerhin noch der Mann, der wieder darauskrabbelte. Breit und sicher stellte er sich vor dem Märchenwalde auf und fragte: „Hast du vielleicht je etwas von einem weltberühmten Maler gehört, der Raffael hiess?“
Ja, nun starrte Elisa in die leere Luft.
„Also dieser Maler“, verkündete Hannes Frank, „malte viele Bilder. Und alle malte er für den Papst in Rom. Im Palast des Papstes sind mehr als tausend Zimmer, wenn du bei dieser Gelegenheit auch noch dieses wissen möchtest. Und auf alle Wände der tausend Zimmer malte der Maler Raffael seine Bilder. Darunter gibt es manche Frauenzimmer, die noch weniger auf dem Leibe haben als diese hier.“
Die Knaben stehen dabei und spitzen ihre Ohren. Konrad horcht mit schiefem Kopfe auf das, was Hannes Frank vom Maler Raffael und den tausend Zimmern des Papstes erzählt, und er zwinkert Werner heimlich zu.
Aber Elisa, das streitlustige Frauenzimmer, lacht frech. „Hihi, Hannes — das magst du nur selber glauben. Hihihi“, lacht Elisa zweideutig. „Bist du vielleicht schon einmal in Rom beim Papst gewesen?“
Zwischen Hannes Franks Brauen erscheint die gefürchtete Falte, und die Unterredung hätte gewiss, allem Wohlwollen zum Trotz, mit einem Streit geendet, wenn im allerletzten Augenblick eine helle Knabenstimme dies nicht verhütet hätte. „Ich habe Talent. Ich will Künstler werden. Ein grosser Raffael. Ich werde berühmt. Ich will viele Bilder malen ...“
Der Knabe Werner sagte das. Er sagte es nur zu sich selber. Es sprang plötzlich als ein heftiger Schrei aus seiner innersten Seele. Mit seinen dreizehn Sommern wandelte er noch gläubigen Herzens durchs Wunderland, wo alles möglich ist.
„Haha!“ Der Vater Hannes lacht und blickt aus grosser Höhe hernieder auf seinen kühnen Sprössling. „Haha — grüner Scherenschleifer!“
Und „Hihi“ lachen die Frauen. Die Frauen lachen viel lauter als nötig und ziehen die kampffreudige Elisa aus der vordersten Frontlinie. Immer ist ein bisschen Diplomatie und Strategie im Handeln der Frauen — diesmal vermeiden sie einen Krieg.