Читать книгу Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie - Karl-Heinz Brodbeck - Страница 13
1.4 ENTSCHEIDUNG UND WAHRSCHEINLICHKEIT
ОглавлениеIch möchte diese Frage deshalb etwas genauer betrachten. Die Vorstellung der Entscheidungstheorie als Grundlage der modernen Wirtschaftswissenschaften, Handlungsalternativen seien »gegeben«, verkennt, was Möglichkeiten des Handelns überhaupt sind. Wenn man sagt: »Ein Entscheidungsproblem kann allgemein durch die Frage charakterisiert werden, welche Handlungsalternative aus einer Menge mehrerer Alternativen gewählt werden soll«7, dann bleibt die situative Struktur der Alternativen unerhellt. Zwar wird eingeräumt, daß man Handlungsalternativen überhaupt erst »zu finden bzw. zu erfinden«8 genötigt sein kann und verweist hierbei gelegentlich auf den »Wissensstand und die Kreativität«9; wird aber die Entscheidung selbst untersucht, so geht man von gegebenen Alternativen aus, von einer Menge von »einzelnen Alternativen (.) A1, A2,…«10. Möglichkeiten der Berechnung setzten ein gegebenes »Entscheidungsfeld«11 voraus, denn nur so können Bewertungen überhaupt metrisiert werden. Die analytische Wissenschaftstheorie schwimmt hier im Fahrwasser der Ökonomie, wenn sie von Situationen ausgeht, die wie folgt strukturiert sind: »Eine Person möge in einer bestimmten Situation zwischen m Handlungen oder Aktionen Al…, Am wählen können.«12 Die so erfaßten »sämtlichen Möglichkeiten« der »möglichen Handlungen«13 sind niemals Möglichkeiten im Sinne des lebendigen Bezugs in einer Situation. In der Trennung von Person und objektiven Möglichkeiten ist verkannt, was Möglichkeiten in Situationen überhaupt sind: Es sind keine möglichen Zustände in einem starren logischen Raum, wie in der Mechanik, es sind Interpretationen.
Mit der Aufspaltung in eine entscheidende Person, die über Handlungsstrategien verfugt, und eine Umwelt, in der es bestimmte »Zustände« gibt, folgt die Entscheidungstheorie der mechanischen Naturauslegung und verfehlt die lebendige Einheit der Situation. Dies zeigt sich besonders am Begriff der Wahrscheinlichkeit. Ich kann an dieser Stelle die verschiedenen Auffassungen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff nur anreißen; es genügt, auf einige Grundbegriffe hinzuweisen. In der Wahrscheinlichkeitstheorie spielt der Begriff des »Ereignisraumes« oder des »Wahrscheinlichkeitsraumes« die zentrale Rolle.14 Hierbei sind stets mögliche Zustände eines beobachtbaren Vorgangs gemeint, wie die sechs Zahlen eines Würfels. Es entstand in der Wahrscheinlichkeitstheorie ein Streit darüber, ob die Zahlen, die den einzelnen Ereignissen zugeordnet werden, als objektive Häufigkeiten oder als subjektive Erwartungen zu verstehen sind. Die objektive Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs stößt auf zahlreiche logische Schwierigkeiten, denn wenn man Wahrscheinlichkeit als Grenzwert der Häufigkeit15 bezeichnet, der z.B. beim Würfeln eines Würfels für eine Zahl (= 1 /6) nach unendlich vielen Würfen genau erreicht wird, dann fordert man etwas physikalisch Unmögliches. Bereits nach endlich vielen Würfen wird sich der Würfel soweit deformiert haben, daß sich die Häufigkeitsverteilung der sechs Zahlen verändert hat. Die Wahrscheinlichkeit 1/6 konstruieren wir a priori, sofern wir einen idealen Würfel denken, der rein zufällig fällt. »Zufällig« heißt: ohne Regel, die irgendeine Seite bevorzugt; 1/6 ist deshalb keine beobachtbare Häufigkeit. Dies zeigt nur, daß es keine »objektive« Beschreibung gibt, die Naturdinge unverändert lassen würde; jedes Gesetz – auch die Häufigkeitsverteilung – ist eine Abstraktion, die, wie Hegel sagt, »Wirklichkeit zerstört«.
Bernoullis Grundlegung der Wahrscheinlichkeitsrechnung (1713)
Der Vorschlag von Weizsäckers, Wahrscheinlichkeit »als Vorhersage einer relativen Häufigkeit«16 zu definieren, ist kein Ausweg, denn die Explikation von »relative Häufigkeit« muß als empirischer Begriff und als Grenzwert verstanden werden. Eine aktuale Unendlichkeit ist aber, wie Aristoteles und die Scholastik schon lehrten, unmöglich. Läßt man eine »Unschärfe« bei der empirischen Häufigkeitsverteilung zu, so erklärt man dagegen Wahrscheinlichkeit durch Wahrscheinlichkeit, denn die Aussage: »Die Zahl 6 wird nach 600 Würfen etwa 100 mal geworfen werden« bezieht sich auf eine Stichprobe, deren Zuverlässigkeit eine konstante Wahrscheinlichkeitsverteilung des gemessenen Wertes 1/6 voraussetzt.