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1.6 LOGIK DES SCHEINS

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Damit verliert auch die Differenz zwischen subjektiver und objektiver Wahrscheinlichkeit ihre scheinbar brisante Bedeutung: Was »objektive« Wahrscheinlichkeit heißen könnte, ist stets bezogen auf eine Wahrheit, der eine Frage vorausgeht. Ein physikalisches oder ein objektives Gesetz stellt immer implizit die Frage, in welchem Ausmaß situative Strukturen sich einem Begriff fügen. Dieses »sich fügen« ist das Gelten des Gesetzes, und es wird nur so erreicht, daß die Herrschaft eines Begriffs abgegrenzt wird. Nicht nur Lebensversicherungen verlangen auf umfangreichen Fragebögen genaue Auskunft über Alter, Leben und Gesundheit des zu Versichernden, um eine Zuordnung in eine allgemeine Klasse (und den zugehörigen Versicherungsbeitrag) festzulegen; sie lehnen auch potentielle Kunden ab. Jeder Begriff grenzt aus. Die »Grenzen« des Begriffs sind aber keine Linien, die man um Dinge »herum« zeichnen kann. Das Abgrenzen ist eine Tätigkeit der Wissenschaftler. Ein Begriff ist keine passive Menge; und deren »Element« zu sein, ist keine Eigenschaft, sondern eine Tat.25

Das, als was die Dinge in Situationen erscheinen, als was sie ausgelegt und interpretiert werden, ist nicht mechanisch mit einem Begriff verbunden. Der Schein kann trügen, unscharf sein, schwanken usw. Es gibt zwischen Begriff und Ding keine mechanische Verbindung, kein Informationskabel oder eine Reiz-Reaktions-Kopplung. In diesem Sinn hat »Wahrscheinlichkeit« einen ganz anderen, viel tieferen Sinn: Etwas scheint dies zu sein. Das heißt nicht, daß es eine Jenseitswelt gibt, in der es etwas anderes wäre. Wahr-Scheinlichkeit ist die Wahrheit des Scheinens. Heute scheint die Lage schlecht, morgen gut – nicht weil irgendwo (wo eigentlich?) eine objektive Welt eine wahre Lage bereithielte, die wir noch unvollkommen erkennen würden. Vielmehr ist die Lage heute schlecht und morgen gut, weil ihr »Scheinen« von dem abhängt, wie die gesamte Situation sich zeigt. Zu diesem »sich zeigen«, zu diesem Scheinen gehört immer sowohl das Denkmodell wie das scheinende »Ding«. Es sind zwei Aspekte einer einheitlichen Struktur.

Wenn es mir »wahrscheinlich« scheint, daß ich dies oder jenes sein oder tun kann, so werde ich, nach einem Entschluß, gemäß diesem Schein auch handeln, und das Wirken dieser Handlung, ihre Wirklichkeit stößt keineswegs immer oder auch nur meistens auf einen Widerstand, der eindeutig ja oder nein sagt. Meist gelingt es, irgendwie das Resultat der Handlung aufgrund einer Wahrscheinlichkeit auch so auszulegen, daß es als ein »gewisser Erfolg« erscheint. Es geht nicht so scharf und genau zu in der Welt, wie diskrete Zahlen vorgaukeln. Sogar technische Geräte funktionieren zuverlässiger, wenn sie nach einer »unscharfen Logik« (fuzzy logic) konstruiert werden, die zwischen »wahr« und »falsch« beliebige oder wenigstens viele Zwischenwerte zuläßt.26 Deshalb gibt es in diesem Sinn »wahrscheinlich keine vollständigen Irrtümer, so wenig wie vollständige Wahrheiten.«27

Die Aussage »wahrscheinlich ist das ein A« kann in den meisten Fällen nicht dadurch verifiziert werden, daß man bei A eine genaue Überprüfung anstellt, die in letzter Konsequenz womöglich die Zerstörung von A bedeuten würde. Auch kann man bei sozialen Ereignissen nur sehr selten hoffen, daß A ein Ereignis als Element einer großen Ereignisklasse ist. Bei Naturvorgängen kann dies vielfach gelingen. Schadensuntersuchungen bei technischen Geräten haben oftmals diesen Charakter. Doch auch hier sind die Fälle in der Mehrzahl, bei denen eine auch nur wahrscheinliche Zuordnung oftmals unterbleiben muß. Jeder Gerichtssaal könnte Tausende von Fällen erzählen. Die Welt ist nicht so konstruiert, daß Sherlock Holmes immer eine richtige Lösung finden würde. Die Erholung, die uns die Lektüre der Denkarbeit von Mr. Holmes bietet, liegt gerade darin, daß er sich in einer Welt bewegt, die nicht die unsere ist, eine Welt, in der an ungepflegten Fingernägeln, dem Schneider des Anzugs, dem Schuhwerk und einem Dialekt Herkunft, Tätigkeit und Alter eines Täters auf einen Blick identifiziert werden.

Auch Computer besitzen diese Eigenschaft, nur wohldefinierte Alternativen zu bieten. Unsere Lebenssituationen – die erlebte Welt – sind jedoch anders. Ein: »wahrscheinlich ist das ein A« bedeutet für uns nicht: wir werden es durch Nachdenken, genaue Untersuchung oder im Wiederholungsfall einmal sicher wissen. Es bedeutet auch nicht, daß es häufig oder auch nur meist eine statistische Masse gibt, von der A nur ein Exemplar wäre. Meist bedeutet für uns die Aussage: »wahrscheinlich ist das ein A« nur: »Man kann vermuten, daß das ein A ist« oder: »Es könnte ein A sein« oder: »B meint, daß das ein A ist« oder: »Allgemein nimmt man an, daß das ein A ist« oder: »Es sollte als A betrachtet werden« oder: »Gestern war es oder morgen wird es A sein« – hoffentlich oder hoffentlich nicht. Denn alltägliche Wahrscheinlichkeiten sind ungewiß, und keine subjektive Logik erleichtert das Handeln und bewahrt davor, sich den Gefahren der Entscheidung aussetzen zu müssen.

Damit zeigt sich, daß die methodischen Grundlagen in den Wirtschaftswissenschaften völlig andere sein müssen als jene in der Physik. Man kann diese Methode aber nicht einfach vorgeben oder sie konstruieren. Der Grund liegt darin, daß wir uns bei der Beschreibung menschlichen Verhaltens selbst begegnen. Zwar bleibt die Forderung des Delphischen Orakels »Erkenne dich selbst!« nach wie vor gültig, weil wir von uns selbst keineswegs alles, nicht einmal sehr viel wissen. Dennoch wissen wir von uns selbst, von den Bedeutungen unserer Handlungen auf ganz andere Weise als von den Verhaltensweisen der Naturgegenstände.

Diese Unzulänglichkeiten wurden sehr wohl verspürt, Max Weber und Heinrich Rickert haben bereits vor dem ersten Weltkrieg wichtige Differenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herausgearbeitet. Allerdings hat dies den verhängnisvollen Kurs der Wirtschaftswissenschaften, die Physik zu kopieren, nicht aufgehalten und ist bis in die Denkmodelle der heute herrschenden US-amerikanischen Ökonomie gar nicht vorgedrungen. Deshalb ist es verständlich, daß die Soziologie einen Ausweg sucht. Doch sie sucht in ihrer systemtheoretischen Variante diesen Ausweg nicht in einer Zuwendung zu den wirtschaftlichen Sachverhalten, sondern durch eine Erweiterung der Logik. Man versucht, wie im logischen Empirismus, der Wirklichkeit ein konstruiertes Denkmodell vorzuschreiben, nicht, die in der sozialen Welt verwendeten Denkmodelle auf ihre innere Logik zu befragen.

Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie

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