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10. The Prestige Years

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10. KAPITEL

THE PRESTIGE YEARS

In der Musik von Miles Davis und John Coltrane kristallisierte sich auf besondere Weise die Zeit, die beide Künstler durchlebten. Mitte der Fünfzigerjahre brach das Zeitalter der Langspielplatte an. Zum ersten Mal war es möglich, nicht mehr nur wie bei den Schellackplatten drei Minuten, sondern rund eine Dreiviertelstunde Musik in unzerbrechliches Vinyl zu pressen. Der Jazz, der etwa zur gleichen Zeit entstand wie die Schallplatte, profitierte davon und wurde bei einem breiten Publikum allmählich wieder populärer. Duke Ellington schuf mit seinen Suiten große Werke, die LP-Länge erforderten, und hatte entscheidenden Anteil daran, bei Columbia das neue Trägermedium zu etablieren, auch wenn dieses Verdienst des Duke intern kaum Anerkennung fand. Labelchef und Produzent Bob Weinstock von Prestige Records, wo Miles Davis unter Vertrag stand, hatte jedoch völlig andere Vorstellungen von dessen Nutzung als George Avakian bei Columbia oder Nesuhi Ertegun bei Atlantic. Weinstock zielte darauf ab, Jazz in der lockeren Atmosphäre einer nachgestellten Jamsession auf Platten einzufangen. Bei den Aufnahmesitzungen von Prestige muss es zugegangen sein wie beim Schichtwechsel in der Fabrik. Die Musiker gaben sich im Studio von Tonmeister Rudy Van Gelder buchstäblich die Klinke in die Hand, lange Proben und Diskussionen waren nicht gefragt. »Blowing ses-sions« nannten die Spieler diese Zusammenkünfte in Hackensack, New Jersey, draußen vor Manhattan. Der Gitarrist Kenny Burrell erzählte: »Du kriegtest einen Anruf, zu diesem Date zu kommen, vielleicht ein oder zwei eigene Kompositionen mitzubringen, es wurde von dir erwartet, dass du Kompositionen von anderen Musikern lerntest und aufnahmst, dazu spontan Dinge aus dem Stegreif erfinden konntest und eine gute Zeit dabei hattest« (Kahn/Blue, 31).

Sein Studio, in dem die heute legendären Prestige-Alben entstanden, hatte Rudy Van Gelder im Haus seiner Eltern eingerichtet. Der Sound, den er mit zunächst noch einfacher Technik einfing, war für damalige Verhältnisse ganz passabel. Angeblich ging man bei Prestige so weit, dass Van Gelder eine gerade entstandene Aufnahme sofort wieder löschte, um Band zu sparen, falls der Produzent einen zweiten Take verlangte. Dabei ahnte niemand, dass die Fans im CD-Zeitalter mal besonders scharf auf diese Bonustracks sein würden; diese Outtakes lieferten den Besitzern des Prestige-Archivs Jahrzehnte nach den Ereignissen das perfekte Alibi für ständige Neuauflagen und aufwendige Boxsets. Miles konnte die Prestige-Leute sogar überreden, kurze Gesprächsfetzen auf die Platte zu bringen, als eine Art von cinema verite, um der Welt zu zeigen: Dieser Miles ist kein Geist aus der Flasche (bzw. der Jukebox), sondern ein Mensch fast wie du und ich. So kommt man in den seltenen Genuss, Coltrane nach dem Bieröffner fragen zu hören oder den Amateurboxer Miles beim verbalen Schlagabtausch mit dem Herrn im Kontrollraum erleben zu dürfen.

Mit seiner Devise, gut verkäufliche Jazzplatten mit möglichst geringem Kostenaufwand herzustellen, wurde Weinstock ein reicher Mann. Es war in der Tat eine große Zeit für den Jazz, Weinstocks Künstler waren Weltklasse und in kurzer Folge entstanden sogar unter diesen »Low Budget«-Bedingungen etliche zeitlose Klassiker.

Miles Davis war mit den verschiedenen Arbeitsweisen im Studio bestens vertraut und stellte für Weinstock einen Nightclub-Set im Studio nach. Es lag ihm daran, Prestige möglichst rasch genügend Material zur Veröffentlichung der noch ausstehenden Alben zu geben, um endlich aus seinem Vertrag herauszukommen. Dann wollte er mit George Avakian und der Band seine eigenen Vorstellungen von einer Plattenproduktion umsetzen und über längere Zeit an dem geplanten ersten Columbia-Album feilen, bis sich aus mehreren Takes die besten Passagen für das Master ergaben. »Learn to edit yourself!«, lautete Miles' Rat an seine Mitspieler in einer Zeit, in der die Musiker üblicherweise dem zu folgen hatten, was der allmächtige Produzent ihnen vorgab.

Bei Columbia und Blue Note gab es im Gegensatz zur Schichtarbeit bei Mr. Weinstock bezahlte Proben, deren segensreicher Effekt deutlich hörbar ist. Weinstock aber beharrte darauf, ein Stück werde nicht unbedingt besser, indem man es x-mal wiederhole. Der argentinische Schriftsteller und Jazzfan Julio Cortäzar hat eine wunderbare Abhandlung über die Takes im Jazz verfasst; eine Methode, die auch in der Klassik von Glenn Gould exzessiv betrieben wurde. Cortäzar nimmt sich in Reise um den Tag in achtzig Welten die Savoy Recordings von Charlie Parker vor und schließt seine Betrachtungen mit der schönen Frage: »Wie viele Takes gibt es von der Welt?« Als Coltrane später bei Impulse ! unter Vertrag war, verbrauchte er eine ganze Session nur mit der Arbeit an einem einzigen Stück (»Alabama«), wenngleich es auch Alben von ihm gibt, etwa die mit Duke Ellington und Johnny Hartman, die praktisch nur aus first takes bestehen.

John F. Szwed schreibt über die ersten Aufnahmen des Quintetts, Trane habe oft ohne Vorwarnung mitten im Solo die Richtung gewechselt. Dem Pianisten Red Garland fiel auf, dass er an seltsamen Stellen einstieg - z. B. auf einer Quinte statt einer Septime. Anfangs klangen seine Soli noch krude und nicht sehr artikuliert, die unregelmäßige Abfolge der Achtel und Sechzehntel gestaltete er jedoch rasch immer raffinierter. Während John zu Hause und auf Tour ständig übte, musste ihn Miles anfangs im Studio manchmal fast ans Mikro schubsen. Nicht selten klingt er zu Beginn eines Solos wie kalt erwischt, als zwinge ihn Miles ins grelle Scheinwerferlicht.

Dass Miles Davis in dieser Phase alle Hände voll damit zu tun hatte, seine Band, die als Truppe von Säufern und Junkies in der Szene berüchtigt war, zusammenzuhalten, konnte keinem verborgen bleiben - sei es, dass sich Red Garland verspätet oder Paul Chambers vor lauter Lampenfieber wieder zu tief ins Glas geschaut hatte. Philly Joe und Trane betraten gar nicht erst die Bühne, solange sie nicht high waren. Johns Bühnenoutfit bot einen Anblick, der dem stets auf Eleganz bedachten Miles peinlich war. Der Boss war an allen Fronten aktiv, er lenkte clever die Drogenfahnder von der Band ab, er sorgte dafür, dass seine Jungs ein warmes Essen bekamen, er kümmerte sich darum, dass sie pünktlich auf der Bühne und wenigstens beim ersten Set halbwegs nüchtern waren. Philly Joe Jones schien manchmal vollgedröhnt hinter seinen Drums einer Ohnmacht nahe oder musste sich übergeben, kurz danach konnte er wieder voll bei der Sache sein. Bei Trane fiel es kaum auf, dass er »unter Einfluss« stand; er wirkte meist so ruhig und bescheiden, dass er Drogenfahndern in Philadelphia tatsächlich weismachen konnte, die Einstiche an seinen Armen seien Muttermale. Allerdings schlief er oft und gern während der Arbeit ein. Als er, auf der Bühne ans Klavier gelehnt, einmal eingenickt war, hatte sich ein Plattenboss, der ihm eigentlich einen Deal anbieten wollte, schaudernd abgewendet und das Lokal verlassen. Manchmal brachte Trane nur ein paar abgerissene Phrasen heraus, dazwischen lagen peinliche Momente der Stille, während Miles innerlich kochte. Trotzdem bekannte der Bandleader später: »Ich habe Coltrane immer gemocht. Als er bei mir anfing, sagten mir die Leute, ich solle ihn feuern. Sie sagten, er spiele nicht gut. Sie sagten auch immer, ich solle mir Philly Joe Jones vom Hals schaffen. Ich weiß aber, was ich will. Ich verstehe auch nicht das Gerede, Coltrane sei schwer zu verstehen. Er nimmt fünf Töne aus einem Akkord und spielt sie ständig anders, um zu sehen, auf wie viele Arten sie anders klingen können. Und der Sound, den er hat, ist verbunden mit dem, was er zur jeweiligen Zeit mit den Akkorden anstellt« (Cham, 252 f.).

Nach dem Tod Charlie Parkers soll Bob Weinstock einmal laut über Miles nachgedacht und verkündet haben: »Hier ist der neue Bird.« Den Trompeter ärgerte dieser Vergleich, aber er kannte sowieso nur noch ein Ziel: endlich abzuhauen und unter weit besseren Konditionen bei Columbia Platten herauszubringen. Dafür lieferte Miles im Handumdrehen das Material für die vier noch ausstehenden Alben. Am 11. Mai und 26. Oktober 1956 nahm das neue Quintett für Prestige in zwei Marathonsessions die unglaubliche Zahl von 24 Stücken auf. Aus dieser Tour de Force resultierte eine Fülle an exzellenter Musik, die Prestige anschließend auf die Alben Cookin', Relaxin', Workin' und Steamin' verteilte. Im April des folgenden Jahres sollte bereits die erste LP erscheinen. Mit einer einzigen Ausnahme gelang in Van Gelders Studio ein first take nach dem anderen, jedes Stück kam im ersten Anlauf auf die Platte, eine beispiellose gemeinsame Anstrengung aus Konzentration, Können und Kommunikation. Durch diese Sessions avancierte Coltrane zu einem one take master à la Hawkins oder Rollins.

Das Rotlicht leuchtet auf. Der Toningenieur startet die Bandmaschine und wie in einem Nightclub ruft Miles mit seiner Reibeisenflüsterstimme kurz den Namen des nächsten Stückes auf. Die Luft im Studio von Tonmeister Rudy Van Gelder, der damals noch nach seinem Erfolgsrezept für den besten Sound suchte, scheint elektrisch aufgeladen. Zu Beginn ist Miles der einzige Bläser in den Balladen, während Trane in den Uptempo-Stücken manchmal förmlich zu explodieren scheint, als habe sich in seinem Innern jahrelang kreative Energie angestaut. In »Trane's Blues« ist der unverwechselbare Coltrane-Sound im Relief bereits da. Cookin', aus der besten Session vom 26. Oktober 1956, zeigt ebenfalls ein wachsendes Selbstbewusstsein, besonders in »Airegin« (Nigeria rückwärts geschrieben, ein Thema von Sonny Rollins) und »Tune Up«. Am selben Tag bekommen die Weinstock-Leute obendrein noch das ganze Relaxin'-Album auf Band. In dem fünfminütigen »I Could Write a Book« sagt einem jedes Solo (nicht zu vergessen der Bass von Paul Chambers!), dass Miles mit diesen vier Assen alles riskieren kann. Die gestopfte Trompete, mit dem Metalldämpfer nahe am Mikrofon gespielt, passt ideal zu dem sinnlichen und intensiven Sound des Tenorsaxophons. »Surrey With the Fringe on Top« aus Steamin' enthält eines der ersten durchgängig konsistenten Coltrane-Soli auf Platte. Die neun Minuten lange Version vom 11. Mai 1956 ist eines der längsten Stücke für Prestige und besteht im Grunde nur aus einer Abfolge von drei Soli (Miles, Trane, Garland), bevor der Trompeter zum Rückzug bläst. Der Auftakt zu Steamin' beginnt mit dem berühmten Mute-Sound von Miles, und der Har-mondämpfer bewirkt, dass sein Horn noch mehr singt. (Einen Hörer erinnerte dieser ergreifende Klang an ein Kind, das man versehentlich ausgeschlossen hat und das darum fleht, wieder hereingelassen zu werden.) Trane beginnt sein Solo so abrupt, als sei er mit seinen Gedanken gerade wieder woanders; der Unterschied zu Miles - bei dem alles immer genau proportioniert ist, bei dem jede Phrase leicht wirkt und der Ton natürlich vibratolos (kein weißer Trompeter spielte so) -, diese Diskrepanz könnte größer kaum sein. Bei Trane flattern und fliegen die unregelmäßigen Tonketten wie vom Wind zerzauste Papierdrachen, doch was er hier spielt, verrät den Meister. Gegen Ende von »Surrey« nimmt er sich wieder etwas zurück und platziert die Töne gemessener, trotzdem bleibt es spannend, ihm beim lauten Denken zuzuhören. Und so manövriert er sich und die Band durch diese brodelnde Ensemblemusik, angetrieben von dem Schlagzeugspiel Philly Joe Jones', der mit Miles - der Schlagzeuger besonders mochte und zu instruieren wusste, bis sie spielten, was er hinter sich hören wollte - einer der großen Jazzdrummer wurde.

Nun hätte die Plattenfirma diese Stücke in der Reihenfolge ihres Entstehens veröffentlichen können, um der Chronologie der Ereignisse folgend die rapiden Fortschritte der Band innerhalb weniger Monate zu dokumentieren. Nicht so bei Prestige, wo man auf die verrückte Idee kam, die stärkeren Stücke der zweiten Marathonrunde einfach auf die beiden ersten Alben zu packen. Dadurch wurde natürlich der Eindruck dessen, was in der Gruppe wirklich passiert war, völlig verfälscht - eine eklatante editorische Fehlleistung, die Jahre später bei den Neueditionen sukzessive korrigiert wurde.

Im Juni 1955 zogen John und Naima Coltrane nach Manhattan und im Dezember kehrte der Saxophonist ins Miles-Davis-Quintett zurück. Die Gruppe war zu der Zeit für mehrere Gigs im Cafe Bohemia gebucht. Während der Pausen übte John wie üblich Etüden im Clubkeller oder schloss sich dafür sogar in der Toilette ein, wie der Kritiker Bob Blumenthal im Vorbeigehen bemerkte. Außer Miles war die ganze Band auf Drogen, der Schlagzeuger Philly Joe Jones war am stärksten betroffen, doch John litt ebenfalls unter seiner Heroinsucht. Miles schrieb in seiner Autobiografie: »Bei Coltrane war das alles nicht so lustig. Über Joes Scheiß konnte man lachen. Trane konnte einem nur leidtun. Er spielte in Kleidern, die aussahen, als hätte er tagelang drin geschlafen, total zerknittert und schmutzig. Und wenn er auf der Bühne nicht einnickte, bohrte er in der Nase. Er stand auch nicht auf Frauen wie Philly und ich. Er fuhr nur aufs Spielen ab, ging völlig in der Musik auf; er hätte nicht mal gemerkt, wenn eine nackte Frau direkt vor ihm gestanden hätte. So konzentriert war er beim Spielen« (DaviM, 257). Im Mai feuerte Miles seinen Schlagzeuger und den Saxophonisten, worauf kurzzeitig Art Taylor und Sonny Rollins in seine Band kamen.

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