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Intro von Steve Lake
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»Bird Lives!« verkündeten einst die Graffitis, die der Dichter Ted Joans auf den Mauern New Yorks hinterließ. Doch Anspruch auf Unsterblichkeit kann eigentlich nur der Geist John Coltranes erheben, denn bis heute ist Trane der einzige Jazzmusiker, der nicht nur im übertragenen Sinne als Heiliger verehrt wird und nach dem sogar eine Kirche benannt ist: die »Saint John Will-I-Am Coltrane African Orthodox Church« in der Fillmore Street in San Francisco, wo Erzbischof Franzo King Zeugnis ablegt von der »Klangtaufe«, die ihm als Zuhörer eines Coltrane-Konzerts widerfuhr - dieser Mann, erkannte er schlagartig, spielte nicht nur Jazz, sondern war ein Erwählter, der Menschen den Weg zurück zu Gott wies. Coltranes Familie reagierte auf die Kirchengründung mit dem Versuch einer Klage auf Verletzung des Urheberrechts. Was den europäischen Leser in beiden Fällen zu einem kopfschüttelnden »Das gibts nur in Amerika !« veranlassen dürfte.
Natürlich, Coltrane hat den Jazz transzendiert und sein musikalischer Einfluss ist überall spürbar, auch in Gefilden, für die er selbst wenig Sympathie hegte. A Love Supreme gibt es heute in einer Fassung für Streichquartett zu kaufen, obwohl John Coltrane die genreverbindende Third-Stream-Bewegung als Zwangsehe betrachtete. Ebenso wenig lässt sein Spätwerk erkennen, dass er Miles Davis und Co. in die Jazz-Rock-Fusion der Siebzigerjahre gefolgt wäre. Im Gegenteil, in seinen letzten Jahren bewegte sich Coltrane immer weiter weg von festen Rhythmen. »Ich brauche schon einen Beat, irgendwo, aber ein schnurgerader Viervierteltakt interessiert mich nicht«, sagte er einmal. Coltrane war mitunter ein Revolutionär wider Willen, dessen Beschwerden über die aus seiner Sicht exzessive Verwendung von Verstärkern in der Rockmusik einen gewissen Konservatismus ebenso erkennen lassen wie die Klage, niemand schreibe mehr Popsongs wie Richard Rodgers. Und doch ist das ColtraneQuartett mit seiner Energie, seiner Freiheit und Leidenschaft bis heute ein Orientierungspunkt für unzählige »jammende« Rockbands wie Warren Haynes' Gov't Mule und die Derek Trucks Band, die nicht selten auch »Afro Blue« im Repertoire haben.
Wann immer jedoch vom »späten Coltrane« gesprochen wird, um den musikalischen Lavastrom der Jahre 1966/67 zu benennen, sollte uns bewusst sein, dass dies nur ein Kürzel der Musikkritiker ist. »Später Coltrane« hat nichts mit der Schwelle des Todes zu tun, an der man beispielsweise den »späten Brahms« stehen sieht. Für Coltrane, der seine Musik direkt auf der Bühne schuf, gab es keine melancholischen Reflexionen über gelebtes Leben und die Sterblichkeit allen Seins. Dafür hatte er keine Zeit. Vielleicht wäre es passender, seine Entwicklung vom »werdenden Coltrane« zum »unvollendeten Coltrane« verlaufen zu lassen, denn trotz der wuchernden Diskografie und epischen Soli war alles viel zu schnell vorbei, von der Hitze verzehrt. Noch zwei Monate vor seinem Tod experimentierte der Saxophonist mit neuen musikalischen Richtungen. Eines seiner vielen posthum veröffentlichten Alben heißt Transition, ein Titel, den eigentlich so gut wie jede seiner Platten tragen könnte. Für den selbstkritischen Coltrane waren alle seine Aufnahmen »vorübergehend«. Viele von ihnen zählen heute zu den Referenzwerken des modernen Jazzkanons, doch ihr Schöpfer war nie zufrieden, sondern eilte bereits rastlos und manchmal ohne Rücksicht auf Verluste der nächsten Station seiner musikalischen Entwicklung ent gegen.
Coltrane auf Tonträger ist ein unfertiges Projekt, die Suche eines neugierigen, genialen Geistes nach dem erfüllenden Kontext. Bis 1961 praktisch nur Solist, hatte er die ganz unterschiedlichen Räume in der Musik von Miles Davis und Thelonious Monk mit seinen Soundkaskaden und Stream-of-Consciousness-Soli gefüllt, hyperwach für alles, was um ihn herum geschah. Monks Ehefrau Nellie erinnerte sich, dass Coltrane sogar den Lärm von der Straße in seine Improvisationen integrierte: »Coltrane spielt die Geräusche der Straßenbahnen draußen, das Quietschen der Autoreifen und Töne, die es gar nicht gibt.«
Auf den ersten Platten unter eigener Regie, mehr oder weniger noch als Hardbop erkennbar und aufgenommen mit dem Personal, das gerade greifbar war, dokumentierte Coltrane, was Evan Parker »Etüden für Studio« genannt hat. Während Coltranes System der superimposed chords heute essenzieller Bestandteil einer ordentlichen Jazzausbildung ist - wer »Giant Steps« spielt, hat das Diplom so gut wie in der Tasche -, begann Coltrane schon vor fünfzig Jahren, den starren Blick auf Akkorde mit dem berühmt gewordenen Ausspruch infrage zu stellen, das sei »wie durch das falsche Ende des Fernglases auf die Musik zu schauen«. Auch brillante Parforceritte wie »Countdown« und »Giant Steps« können nicht verdecken, dass das Festhalten an den eigenen komplexen Akkordfolgen seinen Blick auf die ganze Weite des musikalischen Terrains ebenso beschränkte wie die Freiheit, sich darin zu bewegen. Etwas musste anders werden.
Ab 1961 hatte Coltrane dann endlich eine eigene Band, obwohl das »klassische« Quartett mit McCoy Tyner, Elvin Jones und Jimmy Garrison erst Ende des Jahres vollständig war. Unbestritten ist, dass sie die Messlatte für das, was im Jazz (ein Begriff, für den Coltrane wenig übrig hatte) möglich war, höher legten - und zwar auf die altmodische Art, mit einer Hingabe und Leidenschaft, der man heute kaum noch begegnet.
Coltrane musste lernen, sich mit dem Festival- und Konzertparcours zu arrangieren: Er betrachtete größere Räumlichkeiten als suboptimal für das Spielen und Hören kreativer Improvisation und wehrte sich gegen die leidigen Zeitvorgaben bei Festivals. (»Es erscheint mir unlogisch und unvernünftig, unsere Soli abzukürzen. Ideen müssen sich natürlich entfalten können.«) In der Regel fanden die musikalischen Forschungsarbeiten des Quartetts vor dem Hintergrund klirrender Gläser und Stimmengewirrs in den Clubs von Amerika statt -nicht nur in denen, die jeder kannte, wie das Village Vanguard und das Birdland in Manhattan, sondern auch im Jazz Temple in Cleveland, dem Pink Poodle in Indianapolis und dem Showboat in Philadelphia, wo das Quartett besonders oft gastierte. Vor Kurzem aufgetauchte Bootlegs aus dem Showboat offenbaren eine bemerkenswerte Mischung aus Lässigkeit und Intensität. Nichts und niemand kann Coltrane auf seinem Weg zum innersten Kern der Musik aufhalten. Elvin sitzt im Knast, sagst du? Wir nehmen Roy Haynes. McCoy hat sich noch nicht blicken lassen? Wir spielen als Trio. (Einmal übernimmt Coltrane auf den Showboat-Aufnahmen sogar selbst das Klavier.)
Vermutlich hat jeder Leser und jede Leserin dieses Buchs seinen oder ihren »Lieblings-Coltrane«, genug Perioden stehen ja zur Auswahl. Für mich ist er am besten, wenn er das tut, was ein Zeitgenosse - war es Freddie Hubbard? -»blowin' past the money« nannte, wenn er seine Soli derart ausdehnt, dass sie jeder kommerziellen Vernunft spotten. Seine philosophische wie musikalische Verbundenheit mit der improvisierenden Avantgarde ist beeindruckend und berührend zugleich. Anfang der Sechzigerjahre bezahlte der technisch versierteste Saxophonist seiner Generation die Musikstunden von Ornette Coleman. Mit Eric Dolphy nahm er einen Musiker in seine Band auf, von dem Miles Davis, Coltranes ehemaliger Chef, gegenüber Down Beat behauptete, er spiele, als trete er sich selbst auf den Fuß. Er förderte Albert Ayler, Archie Shepp und Pharoah Sanders und verhalf ihnen zu Plattenverträgen bei Impulse! Records. In Interviews sang er Loblieder auf John Gilmore. Zeitweilig übernahm er sogar die Miete für Marion Browns Wohnung. Auf Ascension umgab er sich mit jüngeren Saxophonisten - Shepp, Sanders, Brown, John Tchicai. Der Jazz, geprägt von cutting contests und Territorialkämpfen, kann eine kleine Welt voller Engstirnigkeit und Eifersüchteleien sein, aber zu Coltranes Lebzeiten war er es nicht. Es dürfte schwerfallen, in der Geschichte dieser Musik einen Menschen von ähnlicher Großzügigkeit gegenüber den Protagonisten seines eigenen Instruments zu finden. Die heranstürmende Phalanx der »New Thing«-Saxophonisten sah er nicht als Bedrohung oder Konkurrenz, sondern als eine Bewegung, von der er lernen konnte.
Es gibt Maler, die im Laufe ihrer Entwicklung Technik irgendwann wie überflüssigen Ballast über Bord werfen. Picasso gehörte zu ihnen, Paul Klee ebenfalls. Für beide blieb Volkskunst immer eine Inspirationsquelle. Coltranes Fall ist ähnlich gelagert. Für ihn war klar, dass es Musik gibt, bei der es auf die Perfektionierung der Technik ankommt, und Musik, die unmittelbarer in Lebenserfahrung wurzelt. Hier spricht der Kopf, dort das Herz. Bereits sterbenskrank, wollte er auf der Seite des Lebens stehen, auf der Seite einer Sprache der Klänge, nicht der Noten, für die Albert Ayler so leidenschaftlich eintrat. Für Coltrane war es keine neue Sprache, aber eine, der er sich aus der Perspektive der Erfahrung neu nähern musste. Natürlich wies die Ekstase von Ascension nach vorne, in eine der Richtungen, in die sich der Jazz entwickeln sollte, aber sie führte auch zurück zur »schwarzen« Kirche, in der seine beiden Großväter gepredigt hatten. Und der Blues, elementarer Bestandteil von Coltranes Sound seit den ersten Auftritten mit Big Maybelle in den 1940 ern, schwang selbst in der Schlussmusik von Stellar Regions noch mit, nun zur Begleitung dahinziehender Planeten.
Welch unvergänglicher Einfluss. Wenn ich an Coltrane denke, erinnere ich mich auch an ein Gespräch mit dem Saxophonisten Charles Gayle vor zwanzig Jahren. Gayle, der sein Tenorsax in einen Flammenwerfer verwandeln konnte, hatte gerade die Luft in dem L-förmigen Raum der alten Münchner Unterfahrt mit einer reinigenden Stoßwelle guter alter Feuermusik zum Sieden gebracht. Wir sprachen über sein Album Touchin' on Trane, aufgenommen mit Coltranes letztem Schlagzeuger, Rashied Ali, der sich auch den Titel ausgedacht hatte. Gayle war das ein bisschen peinlich. »Ein Stück weit heranzukommen an das, was Trane ausmachte - mehr konntest du nicht erhoffen«, sagte er. »An Trane kommt keiner vorbei! Ain't no-one ever gone beyond John Coltrane.«
Karl Lippegaus' kluges Buch nähert sich auf seine eigene Art dem, was Trane ausmachte. Es untersucht die Entwicklung seines großartigen Sounds, den wechselnden kulturellen Kontext, in dem sie stattfand, und führt uns zurück zu einer Musik, von der wir immer noch viel lernen können, auf mehr als einer Ebene. ~ STEVE LAKE