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1. Das Märchen von Sitara

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Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne fliegt und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, der Sitara heißt. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet eben ‚Stern‘.

Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein Äquator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst und zugleich um die Sonne. Die Bewegung um sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr oder weniger. Seine Oberfläche besteht zu einem Teil aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber während man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise gegliedert. Es hängt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen, der in ein sehr tief gelegenes, sümpfereiches Niederland und ein der Sonne kühn entgegenstrebendes Hoch- / land zerfällt, die beide durch einen schmäleren, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen miteinander verbunden sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen am geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen alles, was nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat der niederen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der Gewalt- und Egoismusmenschen. Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im Kuss des Sonnenstrahls, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinn heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches, unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten nach allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Glück des Nächsten, an der Wohlfahrt all derer, welche der Liebe und der Hilfe bedürfen. Dschinnistan ist also das Land der wie die Berge aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der Edelmenschen.

Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden, selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger Kürze lautet: „Du sollst der Teufel deines Nächsten sein, damit du dir selbst zum Engel werdest!“ Und hoch oben regiert schon / seit undenklicher Zeit über Dschinnistan eine Dynastie großherziger, echt königlich denkender Fürsten, deren oberstes Gesetz in beglückender Kürze lautet: „Du sollst der Engel deines Nächsten sein, damit du nicht dir selbst zum Teufel werdest!

Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der Edelmenschen, besteht, ist ein jeder Bürger und eine jede Bürgerin verpflichtet gewesen, heimlich und ohne sich zu verraten, der Schutzengel eines resp. einer andern zu sein. Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein, dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe seelische Finsternis und der heimliche, weil verbotene Jammer nach Befreiung aus dem Elend dieser Hölle! Ist es da ein Wunder, dass da unten im Tiefland eine immer größer werdende Sehnsucht nach dem Hochland entstand? Dass die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen sich aus der Finsternis zu befreien und zu erlösen suchen? Millionen und Abermillionen fühlen sich in den Sümpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen gewohnt. Sie wollen es nicht anders haben. Sie würden in der reinen Luft von Dschinnistan nicht existieren können. Das sind nicht etwa nur die Ärmsten und Geringsten, sondern gerade auch die Mächtigsten, die Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisäer, die Sünder brauchen, um gerecht erscheinen zu können, die Vielbesitzenden, denen arme Leute nötig sind, um ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von ihnen ausgebeutet zu werden. Was würde aus allen diesen Bevorzugten werden, wenn es die anderen nicht mehr gäbe? Darum ist es jedermann auf das Aller- / strengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Land der Nächstenliebe und der Humanität, nach Dschinnistan zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird ergriffen und nach der ‚Geisterschmiede‘ geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend in das verhasste Joch zurückzukehren.

Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan, jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und beschwerliche Weg nach oben geht. Märd ist ein persisches Wort; es bedeutet ‚Mann‘. Märdistan ist das Zwischenland, in welches sich nur ‚Männer‘ wagen dürfen; jeder andere geht unbedingt zu Grunde. Der gefährlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes ist der ‚Wald von Kulub‘. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen Wortes ‚Herz‘. Also in den Tiefen des Herzens lauern die Feinde, die man, einen nach dem anderen, zu besiegen hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in meinem Drama ‚Babel und Bibel‘2 heißt:

„Zu Märdistan, im Walde von Kulub,

liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.“

„Da schmieden Geister?“

„Nein, man schmiedet sie!

Der Sturm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,

wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.

Der Hass wirft sich in grimmer Lust auf sie. /

Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.

Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.

Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug’

im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.

Da, jetzt, o Mensch, ergreifen dich die Zangen.

Man stößt dich in den Brand; die Bälge knarren.

Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,

und alles, was du hast und was du bist,

der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,

die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,

Gedanken und Gefühle, alles, alles

wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert

bis in die weiße Glut –“

„Allah, Allah!“

„Schrei nicht, o Mensch! Ich sage dir, schrei nicht!

Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,

wird weggeworfen in den Brack und Plunder

und muss dann wieder eingeschmolzen werden.

Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,

die in der Faust des Parakleten funkelt.

Sei also still! Man reißt dich aus dem Feuer –

man wirft dich auf den Amboss – hält dich fest.

Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.

Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.

Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu.

Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer –

die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,

ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.

Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten.

Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,

und dennoch musst du wieder in das Feuer –

und wieder – immer wieder, bis der Schmied

den Geist erkennt, der aus der Höllenqual /

und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag

ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.

Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.

Die kreischt und knirscht und frisst von dir hinweg,

was noch –“

„Halt ein, halt ein! Es ist genug!“

„Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt!

Der schraubt sich tief –“

„Sei still! Um Gottes willen!“

So also sieht es in Märdistan aus, und so also geht es im Innern der ‚Geisterschmiede von Kulub‘ zu! Jeder Bewohner des Sterns Sitara kennt die Sage, dass die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Glück hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein umso tieferes Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die ihr von oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten einen möglichst verkommenen, verlorenen Menschen zu machen. Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; der Arme ist dem Untergang geweiht. Und selbst wenn es ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde er doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede geschleppt, um so lange gefoltert und gequält zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu widerstreben. /

Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen nach Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so groß und so unerschöpflich, dass sie selbst die stärkste Pein der Geisterschmiede erträgt und dem Schmied und seinen Gesellen ‚aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag ruhig, dankbar froh entgegenlächelt‘. Einer solchen Himmelstochter kann selbst dieser größte Schmerz nichts anhaben, sie ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht vom Feuer vernichtet, sondern geläutert und gestählt. Und sind alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der Schmied von ihr zu lassen, denn es ist nichts mehr an ihr, was nach Ardistan gehört. Darum kann weder Mensch noch Teufel sie mehr hindern, unter dem Zorngeschrei des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan emporzusteigen, wo jeder Mensch der Engel seines Nächsten ist. – /



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