Читать книгу Verschwörung in Wien - Karl May - Страница 10
ОглавлениеAls der Graf vorhin die beiden Herren aus seiner Equipage entlassen hatte, war er durch einige der Nebenstraßen einen Bogen gefahren, um über die Aspernbrücke zurückzukehren. Seine Wohnung lag am Kärntnerring. Dabei kam er auch durch die Asperngasse und am Palais des Kommerzienrats vorüber. Er blickte nach den Fenstern empor, um zu grüßen, falls er dort jemand sehen sollte. Er sah die Dame des Hauses, welche auf dem Balkon stand, und zog den Hut. Sie erkannte ihn und winkte. Er ließ halten und stieg aus, um sich zu ihr zu begeben. Sie kam ihm bis zum Vorsaal entgegen.
„Wie gut, dass Sie vorüberfahren, mein Verehrtester“, sagte sie. „Ich freute mich, als ich Sie sah, denn ich möchte Ihre Hilfe in Anspruch nehmen.“
Er küsste ihr galant die Hand und versicherte:
„Es gewährt mir ein großes Vergnügen, Ihnen meine Dienste widmen zu können.“
„Kommen Sie herein. Mein Mann sitzt beim zweiten Frühstück. Wir sprechen über einen Gegenstand, in Beziehung dessen ich Sie um Ihren Rat ersuchen möchte.“
Als sie in das Balkonzimmer kamen, saß der Kommerzienrat an einem Seitentisch. Er hatte eine Serviette unter die Kehle gebunden, eine zweite auf dem Schoß liegen; eine dritte lag ihm zur Hand auf dem Tisch. Er schien ein Freund der Sauberkeit zu sein. Der Tisch war mit all denjenigen Feinheiten bedeckt, welche ein Gourmand auf seiner Tafel zu lieben pflegt. Eben schob der Kommerzienrat ein großes Stück geräucherten Lachs in den mit großen, gelben Zähnen bewaffneten Mund, als seine Frau den Grafen brachte. Ohne sich zu erheben, sagte er kauend:
„Ah! Sie, bester Graf! Willkommen! Setzen Sie sich her und nehmen Sie teil!“
„Danke! Habe bereits gefrühstückt.“
„Tut nichts. Wein getrunken?“
„Ja. Burgunder und Champagner.“
„Das macht Kopfweh. Setzen Sie sich nur und essen Sie wenigstens einen Rollmops. Der stellt das Gleichgewicht wieder her.“
Er nahm die Serviette von der Kehle, wischte seine vom Lachs gefetteten Finger daran und hielt sie dann dem Grafen hin.
„Danke wirklich!“, lächelte dieser. „Die Gnädige hatte die Güte, mich zu rufen. Es handelt sich, wie ich höre, um eine Angelegenheit, in welcher ich mir Verdienste erwerben kann.“
Der Bankier schob ein Stück Chesterkäse in den Mund und nickte: „Ja, schön! Vortrefflich, dass Sie kommen. Setzen Sie sich! Sie haben doch unsere Einladung erhalten?“
„Ja, bereits gestern.“
„Und werden kommen?“
„Natürlich!“
„Schön! Es soll nicht etwa ein brillanter Gesellschaftsabend sein, nein gar nicht, sondern nur ein Vergnügen unter uns, das heißt unter den Nobelsten unserer Bekanntschaft. Da sind Sie natürlich der Erste, an den die Einladung ergangen ist…“
Der Graf, welcher sich gesetzt hatte, verbeugte sich unter einem verbindlichen Lächeln. Der Bankier fuhr fort:
„Sie wissen, ich bin Kunst-, besonders Musikfreund, sogar einer der bedeutendsten Kenner dieses Fachs. Ich spiele zwar nicht Klavier, weil meine Finger zu dick dazu sind. Ich habe das Unglück, dass jeder derselben gleich drei Tasten zugleich niederdrückt. Ich würde also nicht einmal einen guten Triller fertig bringen; aber wenn ich auch nicht selbst spiele oder blase, so höre ich es doch sehr gern, und so darf auch heut die Musik nicht fehlen. Ich habe auch bereits eine kleine Kapelle engagiert; da erfahre ich, dass seit einiger Zeit ein Sänger hier wohnt, welcher keine üble Stimme haben soll. Die Wiener Sänger haben alle bereits bei mir gesungen, nun möchte ich meinen Gästen auch diesen Fremden vorführen. Was meinen Sie dazu?“
„Brillante Idee!“
„Nicht wahr! Wollen Sie nicht wenigstens eine Kaviarsemmel nehmen?“
Er spießte die Semmel mit der Gabel an und hielt sie dem Grafen hin.
„Danke! Ich hatte heut schon Kaviar.“
„Schade! Ich habe mir sagen lassen, dass der Kaviar ein sehr gutes Präservativ gegen den Schnupfen und die Reizung sämtlicher Schleimhäute sein soll. Leiden Sie oft an Schnupfen?“
„Selten!“, antwortete der Graf sehr ernsthaft.
„Sie Glücklicher! Ich brauche alle Wochen zwei Dutzend Taschentücher. Also Sie meinen, dass ich den Sänger engagieren soll?“
„Ja.“
„Leider weiß ich nicht, wo er wohnt; aber ich erfuhr, dass Sie ihn kennen.“
„Wie heißt er?“
„Criquolini.“
„Ja, den kenne ich. Soeben erst habe ich ihn an seiner Wohnung abgesetzt.“
„Leistet er etwas?“
„Hoffentlich.“
„Wie? Haben Sie ihn noch nicht gehört?“
„Ich war dabei, als er irgendein Liedchen trällerte. Andere Leistungen vernahm ich noch nicht von ihm. Aber er soll in Amerika gute Erfolge gehabt haben.“
„So! Na, ich werde ihn benachrichtigen.“
„Tun Sie das bald, da Sie ihn bereits für heut Abend wünschen; er könnte sich sonst anderweit versagen17.“
„Schön, schön! Dort liegt Papier und alles Nötige. Ich bin noch nicht fertig mit dem Frühstück und habe fettige Hände. Wollen Sie dem Mann nicht einige Zeilen in meinem Namen schreiben?“
„Gern!“
Der Graf setzte sich an den Schreibtisch und verfasste jene wenigen Zeilen, welche der Sänger dann erhielt. Er lächelte still vor sich hin. Er kannte den Kommerzienrat und er kannte Criquolini. Er gedachte ihnen einen kleinen Streich zu spielen. Beide hatten harte Köpfe und besaßen sehr viel Eigenliebe. Einer wie der andere war für Beleidigungen sehr empfindlich. Indem der Graf dem Bankier verheimlichte, dass Criquolini ein Sänger von Ruf sei, und indem er die Zeilen, welche er schrieb, so abfasste, dass ihre Kürze den Sänger fast beleidigen musste, sorgte er dafür, dass es zu einer kleinen Szene zwischen den beiden kommen musste.
Ein Sänger vom Ruf des einstigen Wildschützen durfte natürlich nicht engagiert und wie ein gewöhnlicher Musiker bezahlt werden. Man musste ihn laden und mit den andern Gästen gleichstellen.
Der Graf war Criquolini keineswegs sehr zugetan. Er war überzeugt, dass dieser ein innerlich verwahrloster Mensch, ein fast gemeiner Charakter sei. Da aber der Sänger im Club eingeführt worden war, verkehrte der Graf um der anderen Mitglieder willen gelegentlich mit ihm. Er hatte ihn heute nach Hause gebracht, nicht etwa aus besonderer Zuneigung, sondern aus Rücksicht darauf, dass er selbst mit ihm gefrühstückt hatte. Musste der zu drei Vierteln betrunkene Tonkünstler seine Wohnung zu Fuß aufsuchen, so konnte er bei seinem Charakter unterwegs sehr leicht mit der Polizei in Konflikt geraten. Das hatte der Graf vermeiden wollen.
Auch den Baron hatte er längst durchschaut und als einen Schwindler erkannt. Er verachtete ihn und zeigte ihm nur äußerlich diejenige Freundlichkeit, welche ein Gebot der guten Sitte ist.
Als er die Zeilen vollendet und die Adresse geschrieben hatte, gab er beides dem Bankier zu lesen.
„Vortrefflich!“, nickte dieser. „Ein Diener mag das Billet sofort besorgen.“
Der gefällige Graf klingelte und gab den Brief ab. Er glaubte die Angelegenheit nun erledigt, aber der Kommerzienrat sagte, immer kauend:
„Nun noch eins, lieber Freund; die Hauptsache: Ist Ihnen der Name Ubertinka bekannt?“
„Allerdings. So heißt ja jene Sängerin, welche in Mailand, Venedig, Rom und Neapel ein so großes Aufsehen erregte.“
„Die meine ich. Halten Sie diese für gut?“
„Wozu?“
„Bei mir zu singen.“
„Ah! Etwa heut Abend?“
„Gewiss.“
„So müsste sie ja hier sein.“
„Bitte, bemühen Sie sich nochmals an den Schreibtisch. Dort liegt die Liste der bei der Polizei neu angemeldeten Fremden. Suchen Sie da nach dem ‚Hotel de l’Europe‘, Asperngasse Nummer zwei, also gar nicht weit von mir.“
Der Graf fand die bezeichnete Stelle. „Signora Ubertinka, Sängerin“ war da zu lesen.
Der Graf war ein großer Freund des Theaters, besonders der Oper, des Gesangs. Er interessierte sich sehr für alles Neue auf diesem Gebiet. Eine neue Erscheinung am Himmel der Kunst konnte ihn in Ekstase versetzen.
Aber er war nicht einer jener Theaterhabitués18, welche die Kunst lieben nur der Künstlerinnen wegen. Er besaß einen wahrhaft edlen Charakter und eine Geistes- und Herzensbildung, deren Höhe der Höhe seines Standes und seiner gesellschaftlichen Stellung gleichkam. Als er den berühmten Namen las, röteten sich seine Wangen.
„Was?“, fragte er. „Die Ubertinka ist hier, ist in Wien? Gestern angekommen? Das ist freilich geradezu ein Ereignis.“
„Wirklich?“, fragte der Bankier.
„Mein Gott, da fragen Sie auch noch! Diese Sängerin ist ja eine phänomenale Erscheinung!“
„Also schön?“
„Bitte, das meine ich nicht. Ich spreche von ihren künstlerischen Leistungen, von denen Sie doch wohl gehört haben?“
„Ja; aber ich gestehe offen, ich entsinne mich, von ihr gelesen zu haben, habe aber das Nähere längst wieder vergessen. Sie wissen ja, unsereiner, der eine Autorität ist, wird so allgemein in Anspruch genommen, dass man sich das Besondere, das Einzelne gar nicht merken kann. Darum eben ist es mir lieb, dass meine Frau Sie zitiert hat. Ich pflege täglich die Fremdenliste durchzugehen, der Geschäftsleute wegen, welche ankommen. Da fand ich vorhin den Namen Ubertinka. Ich sann und sann, bis mir einfiel, dass vor einiger Zeit in sehr vielen Journalen von ihr geschrieben wurde. Sie ist also wirklich berühmt?“
„Hm! Der Ausdruck berühmt ist hier wohl nicht anzuwenden.“
„So! Also taugt sie doch nicht viel?“
„Bitte, bitte! So ist’s nicht gemeint…“
„Nach meiner Meinung kann eine Sängerin, welche nicht berühmt ist, nicht viel taugen.“
„O doch! Ist zum Beispiel die Venus berühmt?“
„Die Venus? Ja. Sie ist die Göttin der Liebe. Sie war die Gemahlin des buckeligen Vulkan und ist diesem untreu geworden, weil ihr der Kriegsgott Mars viel besser gefiel, von dem sie drei Kinder bekommen hat. So habe ich gelesen.“
Die Kommerzienrätin machte eine Handbewegung der Abwehr.
„Aber, Hesekiel!“
„Was?“, fragte er verwundert. „Ah, ich soll nicht von solchen Ehebruchsgeschichten reden? Warum denn nicht, liebes Kind? Das ist täglich vorgekommen und kommt noch heut täglich vor, früher unter Göttern und jetzt unter Menschen. Diese Letzteren scheinen es von den Ersteren gelernt zu haben. Du brauchst dich gar nicht darüber zu entsetzen, denn ich bin kein Mars und bleibe dir treu.“
Der Graf ließ ein kurzes, lustiges Lachen hören und bemerkte:
„Lieber Baron, als ich von der Venus sprach, meinte ich nicht die Göttin der Liebe, welche allerdings ein leichtes Leben geführt zu haben scheint, sondern den Planeten, welcher diesen Namen führt.“
„Ach so! Kenne ich, kenne ich auch! Venus, Erde, Mars, Jupiter, Uranus, Saturn, kenne sie alle, alle! Treibe des Nachts zuweilen Astronomie. Was ist also mit diesem Planeten Venus?“
„Ich fragte Sie, ob er berühmt sei.“
„Berühmt? Nein. Nicht dass ich wüsste! Was ist’s denn weiter, ein Planet zu sein? Gar nichts, gar nichts! Man läuft einfach rund um die Sonne herum und leuchtet ein bisschen während der Nacht.“
„Sehr richtig! Aber setzen wir den Fall, es trete plötzlich ein Komet auf, ein Komet, den kein Astronom vorherberechnet hat. Er kommt ungeahnt, ist da und überflutet den ganzen Himmel mit Glorienschein. Wie steht es da mit der Berühmtheit?“
„Die ist da, sicherlich da! Ein Komet macht viel eher Karriere als ein Planet. Von ihm erzählt man sich noch nach Jahrhunderten.“
„Da haben Sie nun den Vergleich, welchen ich bringen wollte. Die glänzenden Sterne unserer Opernwelt sind Planeten, welche ihren ruhigen, vorgeschriebenen Lauf gehen und weder rechts noch links abweichen. Tritt aber an diesem Himmel ein Komet auf, so hat ihn vorher kein Mensch gekannt; er ist also nicht berühmt, überstrahlt aber dennoch die Planeten alle.“
„Sapperment, lieber Graf, meinen Sie etwa, dass diese Ubertinka ein solcher Komet sei?“
„Ja, das ist sie. Sie leistet Unglaubliches, ohne berühmt zu sein, wird es aber in Kurzem werden.“
„Wissen Sie Näheres von ihr?“
„Nur das, was man hier und da zu lesen bekam.“
„Hier in Wien hat sie noch nicht gesungen?“
„Nein.“
Da warf der Bankier auch noch die andere Serviette fort, sprang auf, rieb sich vergnügt die Hände, lief im Zimmer auf und ab und rief:
„Herrlich! Prächtig! Köstlich! Ah! Oh! Auf so einen Gedanken kann eben nur ich kommen, ich, der Herr Baron Hesekiel von Hamberger!“
Seine Frau war solche Auslassungen gewöhnt. Ihr fielen sie nicht mehr auf. Der Graf war rücksichtsvoll genug, ein Lächeln zu unterdrücken.
Der Bankier blieb endlich vor ihm stehen und fragte:
„Was meinen Sie, bester Graf, würde es nicht Aufsehen erregen, wenn ich, ich, ich…“, er deutete dabei mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf seine fette, breite Brust, „wenn ich diesen Kometen in die Wiener aristokratische Welt einführte?“
„Ungeheures Aufsehen!“
„Würde ich mir nicht große Verdienste um die Kunst erwerben, bedeutende Verdienste?“
„Unbedingt!“
„Und welch eine Genugtuung für mich, wenn ich allen anderen zuvorkomme, allen Fürstlichkeiten und hohen Herrschaften!“
„Ja, das wäre ein Erfolg, um den Sie jedermann beneiden würde.“
„Sie wohl auch?“
„O nein. Ich lebe einsam nur meinen Studien und der komplizierten Verwaltung meiner Besitzungen und sehe keine Gesellschaften bei mir. Wie also sollte ich Sie beneiden? Im Gegenteil würde es mich, als den Gast Ihres Hauses, freuen, wenn Sie das Glück hätten, diese Künstlerin für heute Abend zu gewinnen.“
„Das Glück? Warum sollte ich es nicht haben?“
Der Graf wiegte, ohne eine Antwort zu geben, den Kopf bedenklich hin und her.
„Nun, so antworten Sie doch! Sprechen Sie! Warum sollte sie nicht kommen wollen, zu mir, dem reichen Bankier und Baron Hesekiel.“
„Weil sie nicht so ist wie andere.“
„So! Wie ist sie denn?“
„Sie scheint nur ihrer Kunst zu leben. Vom öffentlichen Leben aber zieht sie sich zurück.“
„Das wissen Sie?“
„Es wurde darüber geschrieben. In den vorhin genannten Städten haben die reichsten und angesehensten Familien sich Mühe gegeben, sie anzuziehen – vergeblich. Sie hat stets abgelehnt. Sie hat als Grund angegeben, dass sie lernen müsse und keine Zeit für anderes übrig habe.“
„Dann ist sie allerdings eine große Ausnahme. Aber dennoch werde ich mein Glück bei ihr versuchen. Ich werde alles tun, was ich kann. Ich werde zu ihr fahren in meinem besten Wagen und ihr bieten hundert Gulden, fünfhundert Gulden und auch noch mehr, wenn sie kommen will, um ein Lied zu singen.“
„Um Gottes willen, das nicht!“
„Kein Lied?“
„Nein, kein Geld, meine ich. So eine Dame fühlt sich natürlich hoch beleidigt, wenn man ihr eine Bezahlung anbietet.“
„Aber ich kann und will doch nicht verlangen, dass sie es umsonst macht. Ich will nobel sein!“
„Das können Sie auch ohne Bezahlung.“
„Aber wie denn?“
„Indem Sie ihr zum Beispiel am nächsten Morgen ein feines Bukett senden, welches von einer goldenen Kette oder einem Braçelet19 zusammengehalten wird.“
„Schön! Dieser Gedanke ist prachtvoll. Die Kette und das Braçelet werden das Bukett zusammenhalten. Ich werde ihr gleich einige Zeilen in das Hotel senden.“
„Da kommt sie nicht.“
„Nicht? Warum?“
„Sie ist eben keine Lohnsängerin. Man muss sie persönlich einladen.“
„So fahre ich gleich zu ihr!“
„Auch davon möchte ich abraten. Es handelt sich hier nicht um einen Sänger, sondern eine Sängerin, darum würde ich raten, dass Frau von Hamberger sich zu ihr bemühe. Einer Dame wird es durch liebenswürdiges Benehmen am besten gelingen, die Sängerin zur Zusage zu bewegen.“
Der Bankier wendete sich schnell an seine Frau:
„Judith, lauf, eile, fahre sogleich! Sei liebenswürdig, höchst liebenswürdig! Mache dich angenehm! Lächle freundlich und streichle ihr die Wangen. Das haben die jungen Damen gern; das weiß ich ganz genau, denn ich habe…“
Er hielt erschrocken inne und verbesserte sich:
„Das weiß ich ganz genau, denn ich habe es oft gehört, obgleich ich niemals solche Wangen streichle. Judith, es ist die Zeit, in welcher du auszufahren pflegst. Fahre nach dem Hotel, gleich, gleich. Ich bitte dich!“
Am liebsten hätte er die Sängerin gleich jetzt schon hier gehabt, um ihrer sicher zu sein. Der Gedanke, in Wien der Erste zu sein, bei dem sie sich hören ließ, machte ihn fast betrunken.
Der Graf erhob sich von seinem Sitz und fragte:
„Haben Sie sonst noch eine Frage, mit deren Beantwortung ich Ihnen dienen kann?“
„Für jetzt nicht mehr“, antwortete die Frau des Hauses. „Wir dürfen Sie ja nicht noch mehr belästigen, als es bereits geschehen ist.“
„Oh, ich stehe Ihnen stets und gern mit allen meinen Kräften zur Verfügung. Wenn Sie es genehmigen, so möchte ich Ihnen gern noch einen Rat erteilen.“
„Seien Sie überzeugt, dass er uns sehr willkommen sein wird.“
„Sprechen Sie, wenn Sie zu der Sängerin kommen, nicht davon, dass sie singen soll. Das würde doch wie ein Engagement klingen. Laden Sie sie einfach ein; sie wird Sie verstehen und Ihnen für diese Zartheit dankbar sein. Singt sie dann heute nicht, nun, so wird sie ein anderes Mal singen. Sie haben dann wenigstens die Genugtuung, die erste Dame zu sein, bei welcher die Künstlerin eingeführt worden ist.“
Das leuchtete dem Bankier ein. Er war gar so gern nobel und zart; aber er hatte kein Geschick dazu. Kam es dann einmal vor, so wie jetzt, dass er durch andere in die Möglichkeit gesetzt wurde, zart zu sein, so trieb er die Zartheit dann allerdings auch bis auf die äußerste Grenze.
„Hörst du es, Judith!“, rief er. „Sei zart! Du kannst es ja, denn das ist uns beiden angeboren. Wir sind von zartester Konstitution und sind auch so unendlich zart verheiratet worden. Sage ihr nicht, dass sie singen soll. Verbiete es ihr! Sage ihr, dass ich es nicht dulde, auf keinen Fall dulde. Sie soll nur essen und trinken. Sie braucht kein Wort zu singen oder zu sprechen. Also, sei zart, Judithchen! Fasse sie leise und lieblich an mit den Fingerspitzen, so wie man eine Spinne ergreift, wenn man sie zum Fenster hinauswerfen will.“
Der Graf gab sich Mühe, bei diesem ‚zarten‘ Vergleich ernst zu bleiben. Er verabschiedete sich in verbindlichster Weise und ganz kurze Zeit später fuhr die Baronin nach dem Hotel.
Dort erfuhr sie zu ihrem anfänglichen Leidwesen, dass die Sängerin das Hotel bereits verlassen und sich eine Privatwohnung gemietet habe. Dann, als sie erfuhr, wo diese Wohnung sich befand, freute sie sich doppelt darüber, denn die Frau Salzmann, zu welcher die Sängerin gezogen war, war ja eine liebe Freundin von ihr. Sie war die sehr wohlhabende Witwe eines Regierungsbeamten und besaß in der Asperngasse ein Haus, dessen möblierte Wohnungen sie an anständige Personen vermietete. Dabei hatte sie die Gewohnheit, sich als Mutter ihrer Mieter zu betrachten und ihnen in jeder Beziehung mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Zu ihr fuhr die Baronin, welche ihres Erfolgs nun ganz sicher zu sein glaubte, da Frau Salzmann voraussichtlich ihre Bitte unterstützen würde. Die Letztere war ja auch bereits für heute Abend geladen.
Unterwegs begegneten der Baron und Criquolini ihrem Wagen, ohne dass sie den beiden Männern die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Sie hatte den Sänger einmal flüchtig im Flur des Salzmannschen Hauses gesehen und dann von der Wirtin gehört, dass er ein wüster Patron sei, den in ihr Haus genommen zu haben, sie lebhaft bedaure. Den Namen hatte sie sich nicht gemerkt und so ahnte sie nicht, dass der Sänger, an welchen ihr Mann durch die Hand des Grafen geschrieben hatte, dieser ‚wüste Patron‘ sei.
Frau Salzmann saß am Morgen in der Küche und war mit ihren beiden Dienstmädchen mit der Vorbereitung des zum Mittagsmahl notwendigen Gemüses beschäftigt. Sie war auch diesen Mädchen wie eine Mutter. Sie griff selbst mit zu, nahm teil an allem, was sie betraf, und behandelte sie mehr als Kinder denn als Gesindepersonen.
Da klingelte es. Die hübscher Gekleidete von den beiden Mädchen ging, um nachzusehen. Sie ließ dabei die Küchentür halb offen und so hörte Frau Salzmann eine wohlklingende, sonore Frauenstimme fragen:
„Entschuldigen Sie, würde Frau Salzmann für einen Augenblick zu sprechen sein?“
„Wen darf ich melden?“
„Hier meine Karte.“
Das Zimmermädchen führte die Fremde in den Salon und brachte dann die Karte in die Küche. Frau Salzmann las auf derselben den Namen Lena Ubertinka.
„Sonderbarer Name!“, sagte sie. „Vielleicht ist sie eine Ausländerin. Wie sah sie aus, liebe Martha?“
„Einfach, aber sehr anständig.“
„Was mag sie wollen? Na, ich will sehen.“
Sie strich die glänzend weiße Küchenschürze glatt und begab sich hinüber nach dem Salon.
Die Fremde stand, sie erwartend, da. Sie war in ein einfaches Reisegrau gekleidet und trug nicht den mindesten Schmuck an sich. Der Hut war ein einfacher Strohhut mit grauseidenem Band. Die Gestalt war hoch und voll, das Gesicht bleich, aber nicht kränklich blass. Die großen, schwarzen, ernst blickenden Augen konnten es einem antun. Sie war eine Schönheit, aber eine jener ernsten Schönheiten, denen man nur in lauterer Absicht zu nahen wagen darf.
Frau Salzmann war eine Menschenkennerin. Sie sagte sich sogleich im Stillen: Das ist eine Brave, der kann man vertrauen; die könntest du recht lieb haben.
Laut aber bat sie:
„Warum haben Sie sich nicht gesetzt? Bitte, nehmen Sie Platz!“
„Dann vielleicht, wenn Sie meine Frage vernommen haben. Ich brauche eine Wohnung. Da ich hier gänzlich unbekannt bin und den Annoncen kein Vertrauen entgegenbringen kann, wendete ich mich an die Wirtin des ‚Hotel de l’Europe‘, wo ich logierte. Sie hat mir Ihren Namen genannt und mir versichert, dass Sie eine Wohnung frei hätten und dass ich mich getrost unter Ihren Schutz begeben könnte.“
Die Wirtin fühlte sich von der Stimme und den Worten der Fremden angenehm berührt. Sie antwortete:
„Aus ganz dem Grunde, welchen Sie nennen, annonciere ich nie. Dass die Wirtin Sie an mich gewiesen hat, ist eine Empfehlung für Sie an mich. Ja, ich habe eine Wohnung frei; aber ich fürchte, dass sie Ihnen zu groß sein wird. Bis vor Kurzem gehörte sie einer Witwe, welche mit zwei Töchtern den Tod ihres Mannes betrauerte. Es ist die halbe erste Etage, vier Zimmer, also für eine einzelne Person zu viel.“
„Für mich nicht. Gerade diese Räume habe ich mir gewünscht.“
Die Wirtin ließ einen freundlich-prüfenden Blick über die Gestalt der Fremden gleiten.
„Bedenken Sie auch, wie teuer eine solche fein möblierte Wohnung hier in Wien ist?“
Eine leise Röte verschönte das Gesicht der Fremden. Sie antwortete lächelnd:
„Ich besitze die Mittel dazu und bin keine säumige Zahlerin.“
„Dann werde ich Sie ersuchen, die Räume sich einmal anzusehen.“
Sie wollte sich zum Gehen wenden, aber die Fremde legte ihr, sie zurückhaltend, das kleine Händchen leise auf den Arm.
„Bitte, ehe ich Sie bemühe, möchte ich erst gewiss sein, ob Sie mir das Logis auch überlassen würden, wenn es mir gefällt.“
„Was sollte mich daran hindern?“
„Mein – Stand.“
„So! Nun, welchem Stand gehören Sie an?“
„Ich bin Sängerin.“
Die Wirtin fuhr unwillkürlich um einen Schritt zurück und rief ganz absichtslos ein halblautes:
„O weh!“
„Sehen Sie!“, sagte die Fremde. „Sie erschrecken.“
Das gute Herz machte der Wirtin Vorwürfe. Sie antwortete schnell:
„Verzeihung! Das ist mir nur so entwischt. Ihr Stand besitzt allerdings Angehörige, denen man am liebsten fernbleibt.“
„Leider weiß ich das!“
„Aber das sollte keineswegs Ihnen gelten. Sie sehen mir nicht wie eine Wiener Sängerin aus, die keine Note kennt und Gott weiß wovon lebt.“
„Nein, das bin ich nicht. Ich habe die Überzeugung, dass Sie sich niemals über mich beklagen würden.“
„Das traue ich Ihnen gern zu. Sie heißen Lena Ubertinka. Sind Sie eine Ausländerin?“
„Nein. Ich habe meinem deutschen Namen einen fremdländischen Klang gegeben.“
„Kindchen, das liebe ich nicht.“
„Auch ich bin eigentlich gegen solche Pseudonyme; aber ich habe eine persönliche Veranlassung, mich so zu nennen. Ich bin eine Bayerin, heiße eigentlich Magdalena Berghuber und wurde, weil ich in der Nähe einer sogenannten Mure erzogen wurde, nur stets die Murenleni genannt. Ich war eine Sennerin, ein dummes, stilles Ding. Da kam der gute König von Bayern, hörte mich jodeln und nahm mich von der Alp weg. Ich musste Sängerin werden; er hat alles bezahlt und bezahlt auch jetzt noch alles.“
„Der König von Bayern? Ah, das ist ja etwas ganz anderes! Aber warum sind Sie nach Wien gekommen?“
„Es gibt hier einen gar berühmten Gesangslehrer, bei dem ich noch für einen oder zwei Monate Unterricht nehmen möchte.“
„Das lässt sich hören. Haben Sie vielleicht Familie?“
„Nein, ich bin ein Waisendirndl.“
„Aber anderen Anhang? Einen – Schatz?“
„Auch nicht. Ich wünsche weiter nichts, als bei Ihnen wohnen und auch essen zu dürfen. Ich gehe täglich auf eine Stunde zum Professor in den Unterricht und die übrige Zeit möcht ich so gern, dass Sie sich meiner mit annehmen, da ich so gar niemanden hier in der großen Stadt hab.“
Das klang so rührend, dass Frau Salzmann das Herz überlief.
„Kind“, sagte sie fast zärtlich, „wenn Ihnen mein Logis gefällt, sollen Sie es haben und ich will für Sie sorgen, als ob ich Ihre Mutter wäre. Sie dürfen mir meine Bedenken, welche ich vorhin äußerte, nicht übel nehmen. Ich habe die Unvorsichtigkeit begangen, das halbe Parterre an einen Sänger zu vermieten, an dem ich leider sehr schlimme Erfahrungen mache.“
„Ist er ein hiesiger?“
„Nein. Er stammt aus Bayern.“
„Und wie heißt er?“
„Criquolini. Er nennt sich so, obgleich er jedenfalls einen guten bayerischen Namen hat. Der ist ein richtiger Lüdrian. Lassen Sie sich ja nicht, falls er Sie kennenlernt, von ihm vertraulich als Kollegin behandeln! Das wäre keine Ehre, sondern eine Schande für Sie.“
Leni fuhr sich mit der Hand nach dem Herzen. Sie fühlte einen tiefen, schmerzlichen Stich in demselben. Also so weit war es mit dem Krikelanton gekommen. Die Kunst wurde ihm ebenso verhängnisvoll wie früher der Jagdstutzen. Um ihre Betrübnis nicht merken zu lassen, bat sie:
„Bitte, dürfte ich vielleicht nun die Zimmer ansehen?“
„Ja, kommen Sie!“
Die Halbetage war wirklich höchst wohnlich eingerichtet. Indem sie aus einem Raum in den anderen gingen, hörten sie, dass ein Wagen unten hielt. Die Wirtin trat an das Fenster und blickte hinab.
„Da, kommen Sie her, liebes Kind“, sagte sie. „Sehen Sie diese Equipage. Sie gehört dem Grafen von Senftenberg, einem sehr reichen und feinen Kavalier. Der eine, welcher bei ihm sitzt, nennt sich Baron Egon von Stubbenau und behauptet, große Güter zu besitzen. Der andere ist der Sänger, von dem ich sprach, der Criquolini. Sehen Sie sich ihn einmal an. Ist er nicht bereits am Vormittag betrunken?“
Leni schaute hinab. Es wurde ihr, als sie den einstigen Geliebten erblickte, unendlich weh zu Mute. Sie liebte ihn ja noch immer, obgleich sie es sich selbst nicht eingestand. Um nur etwas zu sagen, fragte sie:
„Ist denn der Baron ein braver Mann?“
„Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Wenigstens glaubt ihm keiner, was er sagt.“
„Aber warum verkehrt da der Graf, da Sie ihn einen so feinen Kavalier nennen, mit diesen beiden?“
Dabei war ihr Auge forschend auf die männlich schönen, vornehmen Züge des Grafen gerichtet.
„Das fragen Sie, weil Sie die Sitten und Gewohnheiten der höheren Kreise nicht kennen. Dort gibt es oft Rücksicht zu nehmen, wenn man lieber dreinschlagen möchte. Der Sänger wird, weil man ihn zu den Künstlern zählt, mit zugelassen. Ihm sieht man vieles nach, denn Künstler sind leichtlebige Leute, welche man entschuldigt, während man andere verdammen würde. Der Baron ist eben so lange Baron, bis man ihm beweisen kann, dass er es nicht ist. Er ist dem Grafen vorgestellt worden, und der muss freundlich mit ihm sein, um nicht den zu beleidigen, welcher ihm den Baron vorgestellt hat. Sie sehen ja auch seiner Miene an, dass er nur von oben auf die anderen schaut, obgleich er freundlich mit ihnen ist. Er hat den Sänger in den Wagen genommen, weil derselbe vor Betrunkenheit nicht laufen kann. Im Herzen verachtet er ihn. Bitte, gehen wir weiter.“
Als sie alle Räume betrachtet hatten, erklärte Leni, dieselben mieten zu wollen, und bezahlte den Preis pränumerando. Die beiden Damen unterhielten sich noch eine Weile in herzlichster Weise und dann sagte Leni, dass sie nun nach dem Hotel gehen wolle, um ihre Effekten herbeischaffen zu lassen.
„Nein, Kind“, antwortete die Wirtin. „Sie brauchen sich gar nicht zu bemühen. Haben Sie dort zu zahlen?“
„Ja. Die Rechnung ist noch unberichtigt.“
„Trotzdem ist Ihre Gegenwart nicht nötig. Ich werde meine Martha senden. Die Wirtin kennt mich und nimmt es Ihnen nicht übel, wenn Sie nicht selbst kommen. Sie sind doch ganz allein hier?“
„Ich habe niemand bei mir.“
„Sie wollen mir verzeihen. Ich dachte daran, dass alleinstehende Künstlerinnen gewöhnlich eine sogenannte Duenna, eine Ehrendame, bei sich haben.“
„Auch ich habe eine, eine sehr liebe Frau. Sie ist bei mir gewesen, seit der König mich ihr anvertraut hat. Aber sie ist so stark geworden, dass sie nicht mehr laufen kann. Dennoch wollte sie bei mir bleiben. Sie sagte, sie gräme sich zu Tode, wenn ich eine andere engagiere. Da bin ich, um sie nicht zu betrüben, allein nach Wien gegangen und habe sie, trotzdem die Saison noch nicht da ist, nach Karlsbad in die Kur geschickt.“
Das war die dicke Gesangslehrerin Madame Gualèche, welche damals den Bewohnern der Talmühle so viel zu schaffen gemacht hatte.20
Nachdem sie sich noch eine geraume Weile unterhalten hatten, erhielt das Stubenmädchen den Auftrag, nach dem Hotel zu gehen. Sie war kaum zur Vorsaaltür hinaus, so hörte man sie um Hilfe rufen. Die Wirtin eilte hinaus. Leni mit ihr.
Beide sahen die Gruppe unten im Hausflur. Martha rang mit dem Sänger. Die Wirtin eilte ihr zu Hilfe. Leni aber versteckte ihr Gesicht hinter dem Taschentuch, damit er, wenn er heraufblickte, sie nicht erkennen solle. Ihr Herz bebte, ihr Busen arbeitete heftig.
„O Gott!“, stöhnte sie leise. „So einer ist er geworden. Nun ist alles, alles aus.“
Sie ging still hinein in ihre Wohnung und setzte sich auf das Sofa. Es war ihr so unendlich traurig im Herzen, dass sie hätte laut aufschreien mögen. Aber sie bezwang sich. Sie durfte der Wirtin nicht gleich im ersten Augenblick Tränen zeigen.
Nach einiger Zeit klopfte es draußen an. Frau Salzmann trat ein und brachte die Baronin von Hamberger mit.
„Fräulein, verzeihen Sie“, sagte sie. „Hier ist meine Freundin, die Frau Baronin von Hamberger. Sie hat mich heut zu sich geladen, und da ich ihr von Ihnen erzählte und ihr sagte, dass Sie so ganz allein sind, bat sie mich, Sie für den Abend mitzubringen. Jetzt möchte sie Ihnen selbst diese Bitte wiederholen.“
Leni hatte sich erhoben. Das Auge der Baronin ruhte forschend auf ihr. Die Dame hatte sich diese Sängerin ganz anders gedacht. Diese zwar schöne, ja herrliche Figur, nur in ein so unscheinbares Gewand gekleidet, sollte ein Komet sein.
„Sie, Sie sind die Sängerin Ubertinka?“, fragte sie.
Leni verneigte sich bejahend. Keine Fürstin hätte eine elegantere Verbeugung zeigen können.
„Bitte, nehmen gnädige Frau Platz!“
Sie schob beiden Fauteuils hin, blieb aber selbst stehen. Jetzt hatte sie ganz die Haltung einer vornehmen Dame, welche zwei Bittende vor sich sieht. Die Baronin begann in verbindlichem Ton:
„Meine liebe Frau Salzmann hat Ihnen gesagt, welche Bitte mich zu Ihnen führt. Darf ich auf die Erfüllung derselben zählen?“
Leni richtete einen durchdringenden Blick auf das Gesicht der Sprecherin und fragte:
„Wussten Sie, bevor Sie mit Frau Salzmann sprachen, dass ich hier zu finden sei?“
„Ja.“
„Von wem?“
„Die Besitzerin des ‚Hotel de l’Europe‘ sagte es mir.“
„So haben Sie mich dort gesucht?“
„Ja.“
„Woher wussten Sie, dass ich dort logiere?“
„Ihr Name stand in der Fremdenliste.“
Lenis Blick übte eine solche Macht auf die Baronin aus, dass sie offen sagte, was sie hatte verschweigen wollen.
„Ich verstehe“, lächelte die Sängerin. „Ihre heutige Soiree ist eine musikalische?“
„Es werden einige Künstler sich hören lassen.“
„Und ich soll auch singen?“
„Nein, wirklich nicht, Fräulein. Das muten wir Ihnen nicht zu. Graf Senftenberg hat Sie einen glänzenden Kometen genannt. Wir halten es für eine große Ehre, wenn Sie nur kommen. Singen sollen Sie nicht.“
Es glitt ein feines Lächeln über Lenis Gesicht.
„So sagt man uns allemal, im Stillen aber erwartet man natürlich, dass wir singen. Ich habe nie danach gestrebt, Gesellschaften zu sehen, und ich habe auch jetzt keine Veranlassung, meine Grundsätze zu ändern. Ich muss Sie also bitten, es mir zu verzeihen, wenn ich, besonders da ich noch von der Reise ermüdet bin, auf die Ehre, heut bei Ihnen sein zu dürfen, verzichte.“
Die Baronin erschrak. Sie bat:
„Nehmen Sie dieses Wort zurück, Fräulein. Sie finden bei mir eine Gesellschaft, welche allen Ansprüchen genügen wird. Ich darf wirklich ohne Ihre Zusage nicht nach Hause kommen. Bitte, liebe Freundin, stehen Sie mir doch bei!“
Diese Bitte war an Frau Salzmann gerichtet, welche sich nun so eifrig für ihre Freundin verwendete, dass Leni endlich sagte:
„Nun, um nicht gleich in der ersten Stunde meines Hierseins unhöflich zu sein, werde ich kommen und Ihnen auch ein Liedchen singen. Haben Sie eine gute Kraft zur Begleitung?“
„Nach dieser Ehre wird der Graf von Senftenberg eifrig trachten.“
„Sie haben diesen Namen nun zum zweiten Male genannt…“
„Er gehört zu den geehrtesten und willkommensten unserer Hausfreunde. Also ich darf meinen Mann mit Ihrer gewissen Zusage beglücken, Fräulein?“
„Ja. Ich werde zwei Nummern singen und die Noten für die Begleitung dazu mitbringen, aber das tue ich außerhalb des Programms. Ich komme nicht als Sängerin zu Ihnen.“
„Nein, sondern als eine junge Freundin, welche mir von jetzt an zu jeder Zeit und Stunde willkommen sein wird.“
Sie reichte ihr die Hand und entfernte sich mit der Wirtin. Bevor sie sich von der Letzteren verabschiedete, fragte diese:
„Nun, was sagen Sie zu meiner neuen Mieterin, liebe Frau Baronin?“
„Ein Prachtkind!“
„Meinen Sie das wirklich?“
„Ja. Beim ersten Anblick machte sie auf mich gar keinen Eindruck. Dann aber hat sie mir geradezu imponiert. Diese Augen, deren Blick man unmöglich zu widerstehen vermag. Diese Sicherheit des Ausdrucks und der Haltung. Diese Eleganz der Bewegungen. Sie hat mich ja gradezu ins Examen genommen!“
„Ja, ich glaube, dass wir uns ihrer nicht zu schämen brauchen.“
„Welche Erscheinung, wenn sie erst Salontoilette angelegt hat. Die Herren werden sofort für sie schwärmen.“
„Sie aber hat mir gar nicht das Wesen, als ob sie sich gern anbeten lasse. Ich habe sie bereits jetzt herzlich lieb und wünsche sehr, dass wir alle gegenseitig voneinander befriedigt werden.“
Unterdessen hatte sich der einstige Gamswilderer bei dem Bankier melden lassen. Dieser saß, als der Sänger bei ihm eintrat, eine Zigarre rauchend am Fenster und las in der Zeitung. Anton grüßte und verbeugte sich. Der Bankier las weiter, ohne ihn zu beachten. Erst als Anton sich ärgerlich räusperte, legte er die Zeitung beiseite, stand auf, schob den Klemmer fest auf die Nase, betrachtete Anton vom Kopf bis zu den Füßen herab und fragte:
„Signor Criquolini?“
„Wie Sie auf meiner Karte ersehen!“
„Sänger? Bin Kenner, Autorität, Kunstgröße. Was singen Sie?“ Er nahm die Haltung, die Miene und den Ton eines Mannes an, der im nächsten Augenblick über Leben und Tod zu entscheiden hat.
„Alles!“, antwortete Anton, welcher auf so eine dumme Frage allerdings keine gescheitere Antwort geben konnte.
„Schön! Ist mir lieb. Habe heut Soiree. Wollen Sie da singen?“
„Wer ist geladen?“
„Grafen, Barone, Freiherren und so weiter.“
„Welche Künstler sind geladen?“
„Die bedeutendsten. Hoffe sogar, dass die Ubertinka kommen wird.“
„Die Ubertinka! Ist die denn in Wien?“
„Ja. Meine Frau ist soeben zu ihr, um sie einzuladen.“
„Dann sage ich unbedingt zu. Die Ubertinka muss ich hören.“
„Kennen Sie sie?“
„Par renommée. Sie ist ein Phänomen, natürlich eine Polin, wie der Name erraten lässt. Man sagt von ihr, sie soll die Vorzüge der Henriette Sonntag, Schröder-Devrient, Nielson und Patti in sich vereinigen. Was soll ich singen?“
„Was Ihnen beliebt. Für einen tüchtigen Begleiter werde ich sorgen. Am liebsten hört man natürlich Liebeslieder.“
„Diesem Geschmack werde ich Rechnung tragen.“
„Gut, und Ihre Rechnung zahle ich dann sofort.“
Der Sänger blickte den Bankier erstaunt an. Dieser sah das und fragte:
„Was gucken Sie? Richten Sie sich so ein, dass Sie Punkt acht Uhr hier sind – Frack, Weste, Schlips und Handschuhe weiß – Lackstiefeletten. Bis dahin adieu, empfehle mich!“
Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Anton blickte ganz erstaunt nach der Tür, hinter welcher der Mann verschwunden war. Was sollte er von ihm denken? Sollte er lachen oder sich ärgern? Sollte er auf heut Abend verzichten oder doch kommen?
„Pah!“, meinte er zu sich. „Ich komme doch. Der Kerl ist ein Parvenü und weiß sich nicht zu benehmen. Jedenfalls aber ist die Tafel fein – exquisite Weine und vor allen Dingen die Ubertinka. Sie ist ein Rätsel für alle; ich werde es lösen. Ob sie wohl schön ist? Jedenfalls nicht so schön wie die Tänzerin. Pah, werden sehen!“
Er ging, um sofort den Baron aufzusuchen und ihm mitzuteilen, dass die berühmte Sängerin in Wien sei und heut Abend mit ihm singen werde.
Die beiden speisten nach ungarischer Karte bei Tökes in der Habsburgergasse und beschlossen sodann, zur besseren Verdauung einen Spaziergang zu machen. Sie wendeten sich nach Norden, dem Augarten zu, ahnungslos, wer und was ihnen dort begegnen werde.
Martha, das Stubenmädchen, hatte ihren Auftrag besorgt und stellte sich, als die Gepäckträger die Effekten Lenis gebracht hatten, dieser beim Auspacken zur Verfügung.
Was tut ein weibliches Wesen wohl lieber, als aus- und einpacken? Diese Arbeit regt sowohl die Fantasie als auch die Sprachwerkzeuge trefflich an. Darum war es kein Wunder, dass Leni und Martha sich während dieser Beschäftigung so viel zu sagen, zu fragen und mitzuteilen hatten, dass sie bald ein lebhaftes Interesse füreinander empfanden. Jede hatte sich im Stillen gesagt, dass die andere ein heimliches Herzeleid, vielleicht eine unglückliche Liebe haben müsse. Das erweckt die Teilnahme eines jeden Frauengemüts.
Als eine Pause eingetreten war, benutzte Leni dieselbe zu der Bemerkung:
„Martha, ich höre, dass Sie nicht den Wiener, sondern den bayerischen Dialekt sprechen. Ich bin eine Bayerin. Sollten wir vielleicht Landsmänninnen sein?“
„Aa Bayrische sind S’? Wirklich? Oh, wie mich das freut. Gar aane aus dem lieben, schönen Bayernland, die nun allhier bei uns wohnen wird. Da bitt ich halt gar schön, dass wir mitnander so reden wie daheim, wann es Ihnen recht ist. Nicht wahr?“
„Oh, mir ist’s halt nicht nur recht, sondern sogar lieb. Ich hab meine Heimatsprach so lang nicht vernommen, denn in Italien hab ich immer Italienisch reden g’musst, und wenn man mal einen Deutschen treffen tat, nachhero musst man mit ihm stets nur Hochdeutsch plauschen. Das ist freilich auch gar schön, aberst so, wie man im Bayern spricht, das ist noch viel schöner. Geben S’ mir halt Ihre Hand. Wir wollen als Landsmänninnen recht gut zusammenhalten.“
Martha zögerte, dieser freundlichen Aufforderung nachzukommen.
„Nun, warum schlagen S’ nicht eini?“, fragte Leni.
„Das darf ich halt doch nicht wagen.“
„So? Warum denn nicht?“
„Weil ich eine arme, geringe Dienstbotin bin, während Sie eine so berühmte Künstlerin sind.“
„Ach was, Künstlerin. Da können S’ mich fast bös machen. In der Fremd freut man sich allemalen, wann man jemand aus der Heimat trifft. Und eine so große Künstlerin bin ich gar nicht, und berühmt auch nicht. Geben S’ also nur Ihre kleine Patschen her!“
„Na, wann S’ das so extra verlangen, so muss ich es halt schon tun. Grad daraus kann ich ersehen, dass Sie eine echte Bayerin sind, weil S’ keinen Stolz und Hochmut besitzen.“
Sie legten die Hände ineinander.
„Ich möcht wissen“, sagte Leni dabei, „woher bei mir der Stolz kommen sollt und auf was ich hochmütig sein könnt. Ich weiß nix davon!“
„Schaun S’ nur andera Künstlerinnen an!“
„Gehen S’ mit denen! Das wären mir die Richtigen. Wanns einen Triller machen können und zwei Arien singen, nachhero denkens, dass sie Künstlerinnen sind. Oh, zu einer solchen gehört gar sehr viel. Ich weiß das. Was hab ich mir für Mühe geben müssen über zwei Jahren lang, und noch immer bin ich lange nicht fertig. Ich bin ja eben hier, um beim Professoren noch in die Schul zu gehen. Also auf meine Kunst kann ich nicht stolz sein, und auf was anderes auch nicht.“
„O freilich doch!“
„So? Worauf denn?“
„Darauf dass – dass – dass Sie eine gar so Hübsche sind.“
Dabei glitt ihr Auge mit einem bewundernden, neidlosen Blick an Lenis Gestalt herab.
„Meinen S’ das wirklich?“, lächelte diese.
„Ja, Sie sind wohl gar eine große Schönheit.“
„Nun, was das betrifft, so kann ich mir darauf gar nix einbilden. Das Gesichterl und die Gestalt hat mir der Herrgott geben. Ich selbst hab gar nix dazu tan; wie sollt ich also stolz sein? Und wissen S’, dass die Schönheit gar manches Mal ein Unglück ist? Das hab ich auch bereits erfahren. Eine Sängerin, wann sie hübsch ist, muss sich doppelt in Acht nehmen, überhaupt jedes Dirndl, wanns schön ist. Und da brauchen S’ mich halt nicht zu beneiden, denn Sie sind wenigstens ebenso hübsch wie ich.“
„Das sagen S’ nur aus Freundlichkeit!“
„O nein, dass auch Sie sich auf diese Gottesgab nix einbilden, das seh ich wohl. Sie haben so eine stille Wehmut im Gesicht, als ob S’ schon viel Trübes erlebt hätten.“
„Da haben S’ gar richtig geraten. Und auch Sie schauen gar nicht so aus, als obs das Leben sehr gut mit Ihnen gemeint hätt.“
„Mach ich so ein Gesicht? Nun, es hat halt ein jeder und eine jede die Last zu tragen, die der Herrgott sendet, damit keiner übermütig werden soll. Ich hab gar viel derlebt, Gutes und auch Böses, und das Letztere ist halt schuld, dass nicht immer heller Sonnenschein auf meinem Gesicht zu sehen ist. Wissen S’, was ich früher gewest bin? Raten S’ mal!“
„Ich denk mir halt, dass Ihre Eltern gar vornehme Leutln gewest sein müssen.“
„Warum?“
„Weil Sie so was an sich haben, so was Apartes, wegen dem man sich nicht leicht an Sie wagen mag.“
„Das ist nicht eine Folge der Geburt, sondern eine Folge der bösen Erfahrungen. Ich hab halt keine Eltern mehr. Ich war eine ganz arme Sennerin, bevor man entdeckte, dass ich eine gute Stimme habe.“
„Was? Eine Sennerin, also eine gewöhnliche Dienstbotin, wären S’ gewest?“
„Ja, weiter nix.“
„Wo denn?“
„Gar nicht weit von dera Grenz, über welche man in das Salzburgische kommt. Ach, Herrgott, damals war ich ein gar glückliches Dingerl. Wann ich mein Käs und Brot hatt’, so wars gut. Weiter hab ich nix braucht und alle Tagen waren Sonnenschein. Ich denk oft, dass es viel besser wär, wann ich auf meiner Alm hätt’ bleiben konnt. Aberst da schwatz ich nur allein von mir und denk gar nicht an Sie. Wo sind denn Sie daheim?“
„In einem kleinen Dörferl droben in den Bergen, nicht allzuweit von Böhmen herein.“
„Wie heißt es denn mit Namen?“
„Hohenwald.“
„Was Hohenwald! Ist’s möglich!“
„Kennen S’ den Ort?“
„Dort gewest bin ich freilich nicht, aber g’hört hab ich gar viel davon. Also von dorther sind S’? Da haben S’ wohl auch den Silberbauern kannt?“
„Ja“, antwortete Martha, indem ihr Gesicht noch bleicher wurde.
„Und das, was mit ihm geschehen ist, das wissen S’ wohl auch?“
„Alles weiß ich, alles!“
„So sind S’ wohl damals noch dort gewest?“
„Grad mitten in denjenigen Ereignissen bin ich fort von Hohenwald. Ich habs dort nicht länger mehr anschauen konnt.“
„Ja, es soll schrecklich hergangen sein. Der Silberbauer ist grad ganz und gar ein Bösewicht gewest und sein Sohn ebenso. Jetzund habens ihren Lohn. Der Alte ist doch noch an seinen Wunden und an dem Fieber g’storben, nachdem er vorher alles eing’standen hat. Und der Junge sitzt noch heut im Spinnhaus. Beiden ist gar recht geschehen! Nachher die Tochter, die ist eine gar Stolze und Barsche gewest. Sie hat einen Hochmut im Kopf gehabt, so groß wie ein Kirchturm. Die ist, als alles zusammenbrechen tat, vom Dorf fort. Man hat sie lange suchen müssen, bevor man sie fand, denn sie hat doch auch verhört werden musst vom Gericht. Da hat sichs aber herausgestellt, dass sie ganz unschuldig ist, und darum hat sie wieder gehen konnt. Sie soll ganz anderst ausg’schaut haben, die Stolze. Man hat sie nur die Silbermartha g’nannt, weil ihr Name Martha gewest ist und…“
Sie hatte das alles in ihrem Eifer schnell erzählt, ohne auf die so unerwartet gefundene Landsmännin zu achten. Diese war in kleinen, langsamen Schritten von ihr zurückgewichen, sank dann auf einen Stuhl nieder, schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ein herzerschüttertes Weinen aus. Leni erschrak natürlich. Sie hielt inne, trat näher und fragte:
„Sie weinen? Warum denn? Sind S’ vielleicht bei dera Geschichten auch mit beteiligt gewest?“
„Leider ja“, nickte Martha.
„Wie denn? Mein Herrgott! Welch eine Unvorsichtigkeit, dass ich davon g’sprochen hab. Sagen S’ schnell, warum Sie weinen?“
Unter strömenden Tränen antwortete das Stubenmädchen: „Wissen S’ denn meinen Namen nicht? Haben S’ nicht g’hört, wie Frau Salzmann mich ruft?“
„O ja. Martha werden S’ von ihr genannt.“
„Und soeben haben S’ doch von dera Silbermartha g’sprochen!“
Da schlug die Leni die Hände zusammen, sank nun ihrerseits in einen Stuhl und rief:
„Mein grundgütiger Himmel, was bin ich doch für ein talketes21 Dirndl gewest! Was hab ich da gesprochen und geredet, ohne zu wissen, zu wem ich es sag. So eine unselige Dummheit hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht begangen. Das können S’ mir ja nimmermehr verzeihen.“
„Warum nicht? Sie haben ja die volle, richtige Wahrheit g’sagt. Ich kann Ihnen darüber gar nicht bös sein.“
„O doch, o doch! Ich könnt mir selberst gleich die Ohrfeigen geben, die ich verdient hab. Ich bin halt gar nicht diejenige, die ohne Gedanken in den hellen Tag hinein schwatzen tut. Ich bin im Gegenteil mehr als vorsichtig in allem, was ich tu und was ich sprech. Und grad heut, grad jetzt, wo ich vor Freud darüber, dass ich eine Landsmännin g’funden hab, dem Zungerl mal freies Spiel lassen tu, da muss so ein Unglück geschehen. Also die Silbermartha sind S’, die Silbermartha selber?“
„Ja, ich bin es“, antwortete die Gefragte schluchzend.
„O Jegerl, wie müssen S’ sich da über mich kränken! Das kann ich mir halt nicht verzeihen. Wie sollen da Sie es mir vergeben können! Daran ist ja gar nicht zu denken!“
„Ich habe Ihnen nichts zu vergeben. Machen Sie sich ja keine Vorwürfe. Hier, nehmen Sie meine Hand als Beweis, dass ich Ihnen wirklich nicht zürne. Aber wann Sie wüssten, was ich seit jener Zeit mich gehärmt und gegrämt hab, so würden S’ mir glauben, dass ich nicht mehr das hochmütige Ding bin, das ich früher war.“
„Das sehe ich, das sehe ich ja. Ich will Ihre Hand nehmen. Verzeihen Sie mir. Wir wollen nicht nur Landsmänninnen, sondern Freundinnen sein. Machen S’ mit? Ich bitt gar schön und herzlich darum!“
Sie trat zu Martha, legte ihr den Arm um den Nacken und sah ihr bittend in das Gesicht. Die Weinende trocknete sich die Tränen ab und antwortete:
„Mit dera Silbermartha wollen S’ Freundin sein? Das ist wirklich Ihr Ernst?“
„Freilich ist’s mein Ernst. Ich hab vorhin nicht ausreden konnt. Wann S’ nicht geweint, sondern mir Zeit gelassen hätten, weiterzusprechen, so hätten S’ hören konnt, dass ich viel besser von Ihnen denk, als es den Anschein hat.“
„Wie ist das möglich? Ein jeder, der mich kannt hat, muss mich verurteilen.“
„Das dürfen S’ nicht sagen!“
„O doch. Wann ich anders gewest wär, so hätt vielleicht manches nicht geschehen können.“
„Nein. Da haben S’ Unrecht; da klagen S’ sich selbst falsch an. Ihr Vater war ein Mann, der nicht auf Ihre Warnung g’hört hätt, und Ihr Bruder auch. Beide waren gewalttätige, rücksichtslose Leute, welche kein Mensch hätt’ ändern und bessern konnt. Darauf können S’ sich verlassen. Sie dürfen S’ mir nicht übelnehmen, dass ich in dieser Weis von den Ihrigen sprechen tu. Ich muss es aber, um den Vorwurf, den Sie sich selberst machen, von Ihnen zu nehmen. Und freisprechen muss ich Sie noch viel weiter. Sie haben gar nicht anderst sein können, als wie Sie gewest sind. Sie haben ja keine Mutter gehabt und sind stets nur dem Einfluss dieses Vaters ausgesetzt gewest. Da wars natürlich ganz richtig, dass Sie keine heilige Veronica sein konnten.“
„Auch ich habe mir zuweilen ganz dasselbe gesagt; aber es gibt trotzdem noch Punkte, über welche ich mir selbst nicht hinweghelfen kann.“
„So nennen S’ mir diese Punkte. Ich werd Ihnen gleich hinüberhelfen.“
„Das können Sie nicht.“
„Oh, ich kann es, ich kann es!“
„Sie müssten meine früheren Verhältnisse sehr genau kennen.“
„Das ist ja auch der Fall.“
„Und doch stammen Sie aus einer Gegend, welche so entfernt von meiner Heimat ist.“
„Das tut nix. Ich hab einen guten Bekannten, der mir alles verzählt hat. Es sollte mich wundern, wann Sie ihn nicht auch kennen täten.“
„Wer ist es?“
„Der Wurzelsepp. Kennen Sie ihn?“
„Ob ich ihn kenne, den Wurzelsepp! Oh, nur zu gut! Ich hab ihn kannt, als ich noch ein kleins Dirndl war. Er ist oft bei uns ein’kehrt, und zuletzt, da ist ers ja gewest, der meinen Vater vor das Gericht bracht hat, er und – und ein anderer noch!“
Das Letztere sagte sie leise und stockend. Sie senkte den Kopf und blickte trostlos vor sich nieder. Leni schlang die Arme um sie, zog sie von dem Stuhl fort auf das Sofa, setzte sich neben sie und sagte: „Jetzt kommen S’ mal her zu mir! Ich sehe, was für ein großes Unglück und Herzeleid Sie zu tragen haben. Da muss ich schon den Doktor machen und Ihnen Hilfe bringen.“
„Hilfe? Dafür gibts keine Hilfe!“, antwortete Martha, den Kopf schüttelnd.
„Es wird schon eine geben, wann sie auch nicht sogleich vom Himmel herabfällt. Der Wurzelsepp hat mir alles, alles verzählt, sodass ich die Sach grad so genau weiß, als ob ich damals mit in Hohenwald gewohnt hätt. Der alte Sepp hat immer nur gut von Ihnen g’sprochen, und dass d’ siehst, dass ich auch gut von dir denk, so will ich dich bitten, du zu mir zu sagen. Willst, Martha?“
Sie zog sie freundlich an sich. Martha sah mit einem unbeschreiblichen Blick zu ihr auf. Schmerz, Hoffnung, Dankbarkeit sprachen sich zugleich in demselben aus.
„Wolltest das wirklich wagen?“, fragte sie. „Ich bin doch die Tochter eines Mörders und die Schwester eines Zuchthäuslers!“
„Was geht mich das an?“
„So sagen andre nicht!“
„Was andre denken und sagen, das nehm ich mir nicht zur Richtschnur. Du bist brav und du bist an allem unschuldig gewest. Als du g’ahnt hast, dass der deinige Vater ein schlechter Kerl sei, da bist auf und davon ’gangen und hast nix mit ihm zu tun haben wollen. Das ist deine Rechtfertigung. Mehr kann man nicht von dir verlangen. Und wie hast leiden und dulden müssen in dera Fremd! Hast keine Menschenseel’, der du dich anvertrauen kannst, keine einzige wohl, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete Martha, indem sie wieder in Tränen ausbrach. „Ich kann ja mit niemand darüber reden. Ich darf nicht mal sagen, dass ich so eine reiche Bauerstochter gewest bin, sonst würd ich sogleich gefragt, wie es kommen ist, dass ich nun die Dienstbotin machen muss. Und weil ich nicht von alledem reden darf, so kann ich auch nix aus dera Heimat derfahren. Und doch möcht ich so gern wissen, was später noch geschehen ist und wie sich die Bekannten befinden.“
„Ich denk, dass ich dir da die richtige Auskunft erteilen kann.“
„Du? Du bist ja jetzt in Italien gewest!“
„Dennoch hab ich alles derfahren. Ja, ich hab sogar mit Personen g’sprochen, welche aus Hohenwald nach Italien kommen sind.“
„Da könnte ich mir keinen denken. Was hat ein Dortiger in Italien zu suchen?“
„Das wirsts schon noch glauben, wann ichs dir sag. Also frag mich nur nach allem, was d’ gern wissen willst. Ich werd dir antworten.“
„So sag mir zunächst, wer auf dem Silberhof wohnen tut.“
„Der Feuerbalzer. Dein Vater hat ihm sein Gut weg’brannt und so hat der Balzer entschädigt werden müssen. Seine Frau ist wieder gesund und seine Mutter kann wieder eine seidene Schürzen vorbinden, wanns in die Kirchen geht!“
„Das gönn ich ihnen. Sie habens verdient, dass es ihnen jetzund wohlgeht. Was ist denn mit dem Finkenheiner worden?“
„Der wohnt bei Scheibenbad in der Talmühlen. Weißt, der Talmüller war doch der Verbündete von deinem Vater. Er sitzt fürs Leben lang im Zuchthaus und der Finkenheiner ist Müller worden. Seine Tochter aber hat den Müllerhelm g’heiratet.“
„Und wo ist sein Sohn, dens nur den Elefantenhans genannt haben, weil er gern die fremden Tiere zeichnen tat?“
„Du, der wird ein gar großer Künstler. Den hab ich in Rom g’sehen.“
„Was d’ sagst! Der Elefantenhans in Rom! Wie ist das möglich?“
„Das weiß d’ nicht?“
„Gar nix weiß ich davon.“
„Der König hat ihm das Geld geben, dass er nach dem Süden gehen kann, um gesund zu werden. Er ist nach Ägypten, nach der Hauptstadt Kairo, wo eine so gute Luft sein soll, dass jedermann, der auf der Brust leidet, schnell gesund werden kann. Unterwegs blieb er einige Tag in Rom. Da hab ich mit ihm g’sprochen und auch mit dem, den der König ihm zum Schutz mitgeben hat.“
„Wer ist das?“
„Max Walter, der frühere Schulmeister von Hohenwald.“
Eine tiefe Röte glitt über Marthas bleiche Wangen. Sie fragte schnell:
„Auch der ist mit nach Ägypten? Was soll er denn dort?“
„Er soll für sich Studien machen und dabei den Elefantenhans beaufsichtigen und unterrichten. Der Herr Walter wird mal ein berühmter Dichter werden.“
„Das hab ich g’ahnt.“
Die Leni beobachtete verstohlen die Freundin. Sie wollte derselben Trost geben.
„G’ahnt hasts?“, fragte sie. „Hast denn g’wusst, dass er dichten tut?“
„Ja.“
„Von wem denn? Er hat es doch immer so geheim gehalten.“
„Ich hab es ganz zufällig derfahren.“
„So! Ich hab beinahe denkt, dass er dirs selbst g’sagt hat. Aberst du bist ja gar nicht mit ihm bekannt gewest.“
„Wir haben einige Male mit’nander g’sprochen. Das ist alles.“
Sie sagte das mit gepresster Stimme. Sie wollte es sich nicht merken lassen, wie sehr sie sich grad für diesen Gesprächsgegenstand interessierte.
„So weißt wohl auch nix von dem, was weiter mit ihm g’schehen ist?“
„Nein.“
„Dass er der Sohn eines Barons ist?“
„Davon hab ich keine Ahnung g’habt.“
„Ja, ein Baron ist sein Vater. Aber er mag den Namen desselben nicht annehmen. Er will Walter heißen, so wie er bisher geheißen hat. Nun war er in Ägypten und hat dort zwei Bücher g’schrieben, welche druckt worden sind. Man sagt, dass er ein berühmter Mann sein wird.“
„Das ist ihm zu gönnen. Er war ein gar braver junger Mann.“
„Wie? So sagst du? Hältst ihn wirklich für einen Braven?“
„Freilich!“
„Und grad er ist’s doch gewest, der alles von deinem Vater ans Licht bracht hat!“
„Das kann ich ihm nicht verdenken. Ein jeder andre hätt das ebenso tan. Und mein Vater und mein Bruder hatten ihn beleidigt. Er musst sich gegen sie wehren. Wann ich ihn verurteilen wollt, so müsst ich die Verbrechen des Vaters gutheißen, und das kann ich doch nicht.“
„Wann er das wüsst! Er hat denkt, dass d’ ihm grausam bös sein wirst.“
„Zu wem hat er das sagt?“
„Zu mir. Ich hab in Rom natürlich auch mit ihm g’sprochen.“
„So hat er von mir g’redet?“
„Ja.“
„Aber schlecht!“
„O nein. Was Schlechtes soll er von dir sagen?“
„Gar viel. Du weißts nur nicht.“
Da ergriff Leni ihre Hand und sagte:
„Martha, ich weiß es; ich weiß alles!“
„Nein, nein! Nix kannst wissen!“, antwortete Martha beinahe erschrocken.
„O doch! Alles, alles! Der Wurzelsepp hat es mir erzählt.“
„Was denn? Was kann er erzählt haben?“
„Dass d’ Herrn Walter in Regensburg kenneng’lernt hast und dass er um deinetwillen die dortige gute Stell gegen die schlechte in Hohenwald umitauscht hat. Ist das wahr oder nicht?“
Martha legte sich in das Sofakissen zurück, verhüllte ihr Gesicht mit den Händen und antwortete:
„Ja, es ist wahr.“
„Und nachhero hast ihn zurückstoßen?“
„Auch das ist richtig.“
„Kind, warum hast das tan? Er hat dich gar so sehr lieb g’habt.“
„Ich bin hart und stolz gewest, und er hat seinen Wohlgefallen an meiner Gestalt g’funden; aberst eine wahre und innige Liebe hat er gegen mich nicht fühlen gekonnt.“
„Du irrst. Er hat dich wirklich geliebt.“
„Nein. Ich hab ihn auf die Probe g’stellt und er hat sie nicht bestanden.“
Ihr Busen wogte heftig auf und nieder. Der so lange Zeit niedergehaltene Schmerz bäumte sich in ihr auf.
„Und ich sage dir abermals, du irrst, Martha“, sprach Leni in mildem Ton. „Du hast ihn falsch behandelt.“
„Ja, das ist wahr; aber dennoch weiß ich ganz genau, dass er mich nicht wirklich lieb gehabt hat. Er wär sonst nicht so von mir gegangen und hätt mich in meinem Gram und Schmerz allein gelassen.“
„Hast du ihm denn zeigt, dass du Gram und Kummer fühltest?“
„Nein. Dazu war ich zu stolz.“
„Also hat er gar nicht g’wusst, dass d’ dich so kränkst. Er hat zu keinem Menschen was g’sagt; aber aus allem, was ich g’hört hab, hat er dich für herz- und gefühllos halten müssen. Du hast ihn nach Hohenwald gelockt, und als er deshalb seine gute Anstellung aufgab, hast ihm g’sagt, dass d’ niemals einen Schulmeister nehmen würdest. Was hat er da denken müssen? Dazu ist die Feindschaft deines Vaters und Bruders kommen. Du hast nix tan, um seine Achtung zu erwerben, hast dich auf dein Geld und deine Schönheit verlassen. Da willst dich nun wundern, dass er sich zornig von dir abgewendet hat? Er hat ganz richtig g’handelt. Wann er das nicht tan hätt, so wär er ja gezwungen gewesen, sich selbst zu verachten. Nimm es mir nicht übel, Martha, wann ich so zu dir sprech. Meine Worte klingen hart, aber sie sind es nicht. Das Weib soll stets sanft und mild sein, lieb und versöhnlich, freundlich und nachgebend. Der Mann aber muss stolz und fest sein, selbst wann er ein wenig hart ist, so vergibt man ihm das, wann man ihn nur achten kann. Aber du hast g’wollt, dass es grad umikehrt sein soll. Du hast ihn beherrschen wollen und da hat er freilich nicht mitgemacht.“
„Ja, ich weiß, dass ich darinnen gefehlt habe. Aber ihm ist das Scheiden so leicht worden, dass er mich unmöglich recht geliebt haben kann.“
„Weißts gewiss, dass es ihm so leicht worden ist?“
„Ja. Ich hab es ja gesehen.“
„So! Bist wohl wirklich eine von denen, welche den Menschen ins Herz schauen können?“
Martha schwieg.
„Schau, was d’ dir einbildet hast, das hast für allein richtig g’halten. Du hast gar nicht denkt, dass d’ dich da irren kannst. Wer weiß, wie finster es ihm im Herzen worden ist, als er hat von dir gehen müssen. Und wer weiß, ob es in seinem Herzen jemals wiederum licht werden kann.“
„Oh, darum hab ich mich nicht zu sorgen.“
„Warum?“
„Selbst wann ich mich damals im Irrtum befunden hätt, wann seine Liebe wahr gewesen wär, so wär doch nun alles aus. Er ist nicht mehr der arme Lehrer, sondern er wird, wie du selber sagst, ein berühmter Mann. Was aber bin ich? Ich hab ja niemals diejenige Bildung und Kenntnisse besessen, welche so ein Mann von seiner Frau verlangen kann. Nun bin ich auch nicht mehr reich, sondern nur ein armes Dienstmädchen, welches froh sein muss, wann die Herrin mit ihm zufrieden ist. Eine Zukunft hab ich nimmermehr. Die Schand ruht auf mir und meinem Namen – – ich hab nix mehr zu hoffen.“
„So! Da hab ich mich freilich in dir sehr geirrt. Ich hab glaubt, du seist ein Mädchen, welches es mit der ganzen Welt aufnimmt. Und nun sinkst zusammen wie ein Luftballon, bei welchem das Gas auskommen ist. Das tut mir leid um dich.“
„Kann ich anders?“
„Ja. Kein Mensch darf auf die Hoffnung einer bessern Zukunft verzichten.“
„Meine Zukunft ist trüb und traurig!“
„Da könnt ich mich beinahe mit dir zanken. Wanns d’ den Lehrer wirklich lieb gehabt hättest, würdest nicht so reden.“
„Ich hab ihn so lieb gehabt, so sehr lieb. Ich hab es selber nicht g’wusst, wie sehr meine Seele an ihm hängt. Erst später hab ich es an mir g’merkt, dass es ohne ihn kein Glück für mich gibt. Da aber war es zu spät. Er ist fort, in ein fernes, weites Land. Dort scheint die Sonn heller als bei uns. Er wird den kleinen Gram, den ich ihm bereitet hab, schnell vergessen haben, und sein Herz gehört nun längst einer anderen.“
„Das glaub ich nicht. Er hat gar nicht so ausg’schaut wie einer, der so schnell vergessen kann.“
„Hast dir ihn daraufhin angesehen?“
„Ja. Er war so ernst, so…“
„Das war er stets.“
„Aber auch so trüb. Man hat, sobald man nur fünf Minuten mit ihm g’sprochen hat, sogleich merken müssen, dass er ein stilles Leiden mit sich trägt. Und ich hab ja auch die Rede auf die Lieb und auf das Heiraten bracht. Da hat er den Kopf g’schüttelt und dabei g’sagt, dass er wohl einsam seinen Weg durchs Leben gehen werde.“
„Das war wohl nur Redensart.“
„Nein, denn er hat, als mal die Gelegenheit dazu war, es als seine Überzeugung ausgesprochen, dass man nur ein einziges Mal lieben könne. Und was der sagt, das hat ein Gewicht. Er ist keiner, der viel überflüssige Worte macht.“
Martha wollte antworten, aber draußen hatte es geklingelt. Man hörte die Wirtin sprechen und eine männliche Stimme antwortete. Dann klopfte die Erstere an, gab eine Karte ab und fragte, ob der Herr eintreten dürfe.
Leni las den Namen „Hugo Goldmann“. Eine Bezeichnung stand nicht dabei. Eigentlich befand sie sich nicht in der Stimmung, den Besuch eines Fremden anzunehmen, zumal sie noch mit dem Auspacken ihrer Effekten beschäftigt war. Aber grad, dass ein ihr völlig Unbekannter sie so kurz nach ihrer Ankunft in Wien zu finden wusste, das interessierte sie. Darum bestimmte sie, dass er eintreten solle. Martha zog sich natürlich mit der Wirtin zurück.
Der Eintretende war ein wohlbeleibter älterer Herr, nach der neuesten Mode gekleidet, einen goldenen Klemmer auf der Nase und die Uhrketten voller Berlocken22 hängend. Er machte den Eindruck eines Lebemanns, der aber auch ein Geschäft richtig zu poussieren23 weiß.
Als er die Leni erblickte, zog er die Augenwinkel ein wenig zusammen, als ob er sich enttäuscht fühle. Er blickte im Zimmer umher, als erwarte er, noch eine zweite Person zu finden, welche der Vorstellung, die er sich von der Sängerin gemacht hatte, entsprechender sei. Dann sagte er, indem er sich nicht zu tief verbeugte:
„Ich hoffte, Signora Ubertinka zu sehen.“
„Dieser Wunsch ist Ihnen erfüllt“, antwortete Leni lächelnd.
Er schob den Klemmer fester auf die Nase und fragte verwundert:
„Wirklich! Sie selbst sind die Signora?“
„Ja.“
„Ah so! Dann Verzeihung, dass ich mich mit meiner Hochachtung etwas verspäte!“
Er trat auf sie zu, um ihre Hand zu ergreifen und einen Kuss auf dieselbe zu drücken. Leni aber wich zurück, sodass er die erwähnte Hochachtung nur durch eine tiefe Verneigung bezeugen konnte.
„Nehmen Sie Platz!“
Diese Worte waren in einem fast befehlenden Ton ausgesprochen. Er schien das nicht gewohnt zu sein und nicht erwartet zu haben, denn er warf ihr einen fragenden Blick zu, bevor er ihrer Aufforderung nachkam. Als er dann saß, sagte er, auf einen zweiten Sessel deutend:
„Bitte, meine Gnädige, wollen Sie nicht auch Platz nehmen?“
„Danke. Ich spreche am liebsten im Stehen und habe auch keine Veranlassung, zu glauben, dass unsere Unterredung eine ermüdend lange sein werde.“
„Je nachdem; sie kann kurz oder lang werden, ganz wie Sie wollen. Ich komme mit einem Wunsch und werde nicht eher gehen, als bis Sie mir denselben erfüllt haben. Je schneller Sie ihn erfüllen, desto eher werde ich gehen.“
Er sagte das in einem Ton, als ob es ganz selbstverständlich sei, dass sie, wenn auch gleich oder später, auf diesen Wunsch eingehen werde.
Leni lehnte sich ihm gegenüber leicht an ein Möbel. Sie antwortete nicht und sah ihm nur lächelnd in das Gesicht. Das schien ihn gar nicht irre zu machen.
„Kennen Sie meinen Namen?“, fragte er.
„Nein. Das heißt, den Namen Goldmann habe ich oft gehört; Herrn Goldmann aber, welcher sich gegenwärtig bei mir befindet, kenne ich nicht.“
„Ich bin Theateragent.“
„Ah! Hm!“, nickte sie. „Da sind Sie mir allerdings per Renommee bekannt.“
„Freut mich. Und welcher Art ist dieses Renommee, wenn ich fragen darf?“
„Ein sehr gutes.“
„Freut mich, freut mich! Ich darf da hoffen, dass Sie mir nicht viel Mühe machen werden.“
„Auch ich glaube, dass wir uns unsere Ansichten in möglichster Kürze mitteilen können.“
Sie lächelte ihm immer noch in einer Weise entgegen, welche er erst jetzt zu beachten begann. Er wusste nicht, welche Deutung er diesem Lächeln geben solle. Es war so höflich, so freundlich, aber auch so selbstbewusst und dabei wohl auch ein klein wenig niederträchtig. Leni gab sein sicheres Auftreten Spaß. Er gab sich als einen Mann, dessen Absicht unbedingt in Erfüllung gehen müsse. Das bestimmte sie, ihm nun erst recht nicht zu Diensten zu sein.
„Haben Sie Engagement?“, fragte er.
„Nein.“
„Also sind Sie kontraktfrei?“
„Ja.“
„Nun wohl! Ich werde Sie engagieren.“
Er war allerdings einer der bedeutendsten Agenten. Hunderte von Künstlern wären ganz glücklich gewesen, von ihm die Worte „Ich werde Sie engagieren“ zu hören. Das wusste er. Darum war es ein lächelnder, siegessicherer Blick, den er auf sie warf. Sie aber zuckte nur die Achsel, ohne direkt zu antworten.
„Nun, was sagen Sie dazu?“, fragte er.
„Ist das die Absicht Ihres Besuchs, mich zu engagieren?“
„Ja.“
„So werden Sie dieselbe nicht erreichen.“
„Ah! Unmöglich!“
„Ganz gewiss.“
„Aber, Signora, warum denn nicht?“
„Aus verschiedenen Gründen, welche Ihnen mitzuteilen, ich mich nicht berufen fühle.“
„Ich ersuche Sie aber grad recht dringend, mir diese Gründe zu wissen zu tun!“
„Das könnte an meinem Entschluss doch nichts ändern.“
„Ich wüsste dann aber, woran ich bin.“
„Gut! So sollen Sie meine Gründe hören. Einige sind sachlicher, der allererste aber ist persönlicher Natur. Sie kamen in der festen Überzeugung zu mir, dass ich auf ein Engagement mit Ihnen eingehen würde?“
„Allerdings.“
„Weil es, sozusagen, eine Ehre ist, von Ihnen mit einer Offerte bedacht zu werden.“
„Hm! Ich will nicht unbescheiden sein.“
„Und ich will offen sein. Ihre Sicherheit vermag nicht, mir zu imponieren; sie beleidigt mich vielmehr doppelt, nämlich sowohl als Dame wie auch als Künstlerin. Ein Agent, welcher glaubt, mir einen großen Dienst oder gar eine Gnade zu erweisen, indem er mir seinen Besuch macht, wird niemals einen Gulden an mir verdienen.“
„Ah!“
Er fuhr halb von seinem Stuhl empor.
„Ja, mein Herr. Die Quintessenz Ihrer Absicht ist doch, sich Prozente zu verdienen. Also ist’s der Egoismus, welcher Sie zu mir führt, nicht die Rücksicht auf mein eigenes Wohl.“
„Das könnte ich bestreiten, unterlasse es aber lieber. Doch bitte ich, gütigst zu bedenken, dass es einer Künstlerin geraten ist, sich das Wohlwollen wenigstens der bedeutenderen unter den Agenten zu erwerben. Wie die Verhältnisse jetzt liegen, brauchen Sie uns unbedingt.“
„Nein.“
„O doch!“
„Ich habe nicht die Absicht, ein Engagement einzugehen. Und selbst wenn dies meine Absicht wäre, würde ich mich ohne die Hilfe eines Agenten zu platzieren wissen.“
„Entschuldigung, gnädiges Fräulein! Ich bin nie gern unhöflich. Darum will ich nicht Ihnen eine Unkenntnis der Verhältnisse vorwerfen; aber die Bemerkung muss ich machen, dass Sie in Zukunft doch wohl noch Erfahrungen zu machen haben.“
„Das bestreite ich nicht.“
„Rein geschäftliche, trockene Erfahrungen, deren Kenntnis eine Dame eben am besten ihrem Agenten überlässt.“
„Um ihn bezahlen zu dürfen! Ich werde irgendwelche Engagements nur direkt eingehen. Meinetwegen braucht kein Agent zu existieren. Darum berührt es mich nicht angenehm, dass Sie eine so große Siegesgewissheit zeigen. Das war, wie bereits erwähnt, der eine Grund. Die anderen Gründe sind mehr sachlicher Natur.“
„Darf ich sie kennenlernen?“
„Gern. Ich habe noch keine Lust, mich an irgendeine Bühne zu binden.“
„Keine Lust? Sie müssen doch leben!“
„Ich lebe auch ohnedies. Ferner sind meine Studien noch nicht beendet.“
„Soll ich das glauben?“
„Ich bitte darum!“
„Dann hätte Ihr Ruf zu viel gesagt!“
„Jedenfalls. Ich habe sogar noch rein technische Schwierigkeiten zu überwinden. Ich kann unmöglich ein Engagement eingehen.“
„Aber, Signora, Sie können sich doch ausbilden, trotzdem Sie feste Stellung haben!“
„Ich sehe davon ab. Wer mich engagiert, soll keine Mängel an mir finden.“
„Sapperment! Da stehen Sie allerdings mit solchen ehrenwerten Ansichten einzig unter den Künstlerinnen da!“
„Ich kenne meine Pflicht und werde sie jederzeit erfüllen. Sie sehen also, dass Ihr heutiger Besuch kein erfolgreicher ist.“
„Oh, ich verzweifle dennoch nicht.“
Er hatte sich erhoben und sagte das lächelnd, indem er, ihre Gestalt mit wohlgefälligem Blick musternd, hinzufügte:
„Man ist es ja gewohnt, nicht sofort Beifall zu finden; aber die Damen sind gewöhnlich so liebenswürdig, ihren Widerstand bald aufzugeben.“
„Von Widerstand ist bei mir keine Rede. Ihre Offerte ist doch keine Attacke, welche ich abzuschlagen hätte.“
„Vielleicht doch!“
„Nun, so würde ich die Abwehr wohl anderen Personen überlassen.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich würde das Zimmer verlassen und Ihnen das Dienstmädchen schicken.“
„Signora!“, fuhr er auf.
„Herr Goldmann!“
„So etwas ist mir noch nicht gesagt worden!“
„Und in solcher Weise hat mir noch kein Mensch ein Engagement angetragen!“
Er war wirklich erzürnt. Doch konnte es ihm als erfahrenem Agenten nicht entgehen, welch eine Akquisition dieses wunderschöne Mädchen für ihn sei. Wenn ihr Ruf, in Beziehung ihrer Gesangsleistungen, nicht allzu sehr übertrieben hatte, so war diese Ubertinka allerdings eine Person, an und mit welcher ganz bedeutende Summen verdient werden konnten. Diese Betrachtungen söhnten ihn mit ihrem schroffen Auftreten aus. Er zuckte lächelnd die Achsel und meinte:
„Regen wir uns nicht auf! Jeder Mensch hat seine Eigenheiten. Verzeihen Sie mir die meinigen. Wenn Sie mich auch mit meiner Offerte abweisen, so lassen Sie mich doch einmal Ihre Stimme hören. Bitte, kommen Sie!“
Er trat zum Pianino, öffnete es und setzte sich an dasselbe.
„Bitte, singen Sie mir einmal das Stabat mater! Ich möchte es grad von Ihnen einmal hören.“
Er war es gewöhnt, dass Sänger und Sängerinnen sofort auf solche Wünsche eingingen. Er war auch jetzt überzeugt, dass Leni seiner Aufforderung nachkommen werde. Darum machte er es sich auf dem Musikstuhl bequem, griff in die Tasten und begann das Vorspiel. Als dann nach zwei Takten die Singstimme einzufallen hatte, drehte er sich zu Leni um und sagte:
„Nun bitte, jetzt…!“
Er sprach nicht weiter und hörte auch mit Spielen auf. Leni war, mit dem Rücken nach ihm gewendet, vor ihrem offenen Koffer niedergekniet und kramte in dem Inhalt desselben herum. Sie tat gar nicht, als ob er vorhanden sei.
Er schritt auf sie zu.
„Aber, Signora, was tun Sie da?“
„Sie sehen es ja! Ich packe aus.“
„Ich denke, Sie wollen singen!“
„Wer hat das gesagt? Etwa ich?“
Sie blieb knien und blickte zu ihm auf.
„Hm! Sie allerdings nicht. Aber da ich Sie bat, so verstand es sich doch ganz von selbst, dass Sie…“
Da aber fuhr sie, ihn unterbrechend, aus ihrer knieenden Stellung empor und fiel blitzenden Auges ein:
„Was verstand sich ganz von selbst? Dass ich singen musste? Weshalb? Weil Sie es wünschten? Wer sind Sie? Ein Fremder, den ich nicht gerufen habe. Dass Sie nebenbei Agent sind, ist mir gleichgültig. Ich bedarf keines Agenten. Wollte ich jedem Fremden, der zu mir kommt, das Stabat mater, die Gnadenarie oder sonst was vorsingen, so könnte ich mich am liebsten gleich im Wurstelprater hören lassen. Sie haben nicht das mindeste Recht, zu erwarten, dass ich Ihnen eher als anderen etwas vortrage. Das merken Sie sich!“
So etwas war ihm noch nicht gesagt worden, und in diesem Ton erst recht nicht. Er war vor ihr zurückgewichen, Schritt um Schritt, und sie ihm aber ebenso Schritt um Schritt nachgefolgt. Jetzt antwortete er erschrocken:
„Signorina! Bitte, bitte! Sie machen mich ja fürchten!“
„Gut! So fürchten Sie sich!“
„So war es ja nicht gemeint!“
„Meinen Sie es, wie Sie wollen; ich aber nehme es, wie ich es will!“
„Wenn Sie wüssten, wegen welchen Engagements ich zu Ihnen komme, würden Sie freundlicher sein.“
„Ich brauche keins!“
„Sie sollen ja gar nicht an ein Theater!“
„Wohin denn? Etwa an eine Windmühle oder an ein Karussell?“
„Mein Gott, besänftigen Sie Ihren Zorn! Es handelt sich um eine Musteraufführung…“
„Zu welcher ein Musteragent die Engagements trifft! Ich danke!“
„Jetzt beleidigen Sie mich persönlich. Es ist eine neue Oper, welche aufgeführt werden soll.“
„So führen Sie dieselbe doch in Gottes Namen auf! Meinetwegen ganz allein!“
„Das geht nicht. Das Werk ist betitelt ‚Götterliebe‘. Ein herrlicher Titel!“
„Meinetwegen Affenliebe!“
„Gnädiges Fräulein! Hören Sie doch! Der Text stammt aus Ägypten!“
„Ich hätte auch nicht das Mindeste dagegen, wenn er aus China stammte!“
„Der Komponist ist ein Baron!“
„Das schadet ihm nichts.“
„Kaum zwanzig Jahre alt!“
„Später wird er älter sein.“
„Sie sollen die Rolle der Juno singen.“
„So! Wer die anderen?“
„Die Venus wird eine junge, unbekannte Kollegin übernehmen. Sie heißt Mureni.“
„Ah! Wo befindet sie sich?“
„Das weiß ich nicht. Der Komponist hat es übernommen, sie zu engagieren.“
Leni machte jetzt plötzlich ein ganz anderes Gesicht. Die Mureni war ja sie selbst. Das war der Künstlername, den sie früher getragen und dann abgelegt hatte, um nicht von den Nachforschungen des Krikelantons belästigt zu werden. Der Komponist wollte sie suchen? Er musste also wissen, wo sie sich befand!
„Wie heißt er denn?“, fragte sie.
„Curty von Gulijan.“
„Ein fremder Name, den ich noch niemals gehört habe.“
„Er ist ein sehr interessanter junger Herr.“
„So wünsche ich ihm, dass seine junge Oper ebenso interessant sein möge!“
„Er ist steinreich und hat bedeutende Besitzungen an der unteren Donau.“
„Ich gönne sie ihm, habe aber mit ihm und seiner Oper nichts zu schaffen.“
Sie wusste freilich nicht, dass dieser Curty von Gulijan ihr Freund, der einstige Fex, war, sonst hätte sie sich jedenfalls ganz anders verhalten.
„So wollen Sie mir wirklich eine Absage erteilen?“
„Ja.“
„Ich gestehe aufrichtig, dass ich mit großen Hoffnungen zu Ihnen gekommen bin!“
„Es ist eine Eigenschaft der Hoffnungen, dass sie unerfüllt bleiben können.“
„Erlauben Sie mir wenigstens, nochmals bei Ihnen vorzusprechen?“
„Zu welchem Zweck?“
„Um anzufragen, ob Sie Ihren Entschluss denn doch nicht vielleicht geändert haben.“
„Das wäre nutzlos. Ich pflege meine Entschlüsse nicht zu ändern.“
„So darf ich also nicht kommen?“
„Nein.“
„Dann will ich Ihnen wenigstens meine Karte dalassen, damit Sie wissen, wo ich wohne, wenn Sie vielleicht einmal Veranlassung finden sollten, mich aufzusuchen.“
„Diese Veranlassung wird wohl vergeblich auf sich warten lassen. Doch habe ich nichts dagegen, Ihre Karte zu behalten.“
Er gab sie ab und ging, von ihr nicht einmal bis zur Tür begleitet. Er wollte sich darüber ärgern, brachte dies aber nicht fertig. Die Sängerin hatte auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht. Das war keine jener eingebildeten, hochnäsigen Damen, welche trotz ihres Hochmuts in jedem Augenblick bereit sind, einen geschäftlichen Vorteil durch Verleihung persönlicher Liebenswürdigkeiten und Begünstigungen zu erkaufen.
Das Küchenmädchen öffnete ihm die Vorsaaltür und schritt, da sie einen Weg zu gehen hatte, hinter ihm die Treppe hinab. Er bemerkte dies und benutzte diesen Umstand, vielleicht noch etwas über die hochinteressante Sängerin zu erfahren. Er zog ein größeres Silberstück aus der Tasche, schenkte es ihr und fragte:
„Nicht wahr, Signora Ubertinka wohnt erst seit Kurzem hier?“
„Seit einer Stunde, gnädiger Herr.“
„Ich erfuhr es im Hotel. Auf wie lange Zeit hat sie eingemietet?“
„Auf unbestimmt.“
„Hat sie bereits Besuche gemacht oder empfangen?“
„Einen empfangen.“
„Ah, schon! Wer war das?“
„Frau Kommerzienrat von Hamberger, bei welcher die Signora heut zur Soiree sein wird.“
„Wird sie singen?“
„Das weiß ich nicht.“
„Hm! Vielleicht sehen wir uns wieder, mein hübsches Kind. Ich interessiere mich für die Sängerin. Darum würde ich Ihnen jede Auskunft, die Sie mir über dieselbe geben könnten, gut belohnen. Aber lassen Sie ihr nichts wissen.“
Er ging, aber nicht in der Richtung, in welcher seine Wohnung lag, sondern er wendete sich nach der Asperngasse, wo der Kommerzienrat wohnte. Er war mit diesem so leidlich bekannt, wollte ihm einen Besuch machen und dabei womöglich eine Einladung für den heutigen Abend zu erhalten suchen.