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Selbst manchem erfahrenen May-Leser werden die vier Fragmente aus des Schriftstellers frühester Schaffenszeit weitestgehend unbekannt sein. Drei davon wurden zwar schon in den Bänden II bis IV der Karl-May-Welten vorgestellt, aber nicht jeder Leser der Gesammelten Werke kennt und liest schließlich auch alle Nebenreihen, sodass hier bestimmt für viele noch eine Neuentdeckung zu machen ist.

Zu den rätselhaftesten Zeugnissen aus Mays früher Autorenzeit gehört der kleine Text Zerrissen, auf einem beidseitig beschriebenen Blatt befindlich, das noch weitere May-Entwürfe enthält und möglicherweise noch vor 1864 entstand. Später wurde es – wahrscheinlich nur zufällig – in das Konvolut der Skizzen zur Posse Die Pantoffelmühle einsortiert. Der Hauptteil der dort enthaltenen erzählerischen, lyrischen und musikalischen Versuche wurde bereits 1999 von mir transkribiert und in den gemeinsam mit Hartmut Kühne verfassten Sammelband Karl May und die Musik aufgenommen. Bei dem musikalischen Entwurf auf der Rückseite des Blattes handelt es sich um jene Fassung von Aennchens Lied (Hast du gesehn auf grüner Au), die in Karl May und die Musik auf S. 239 unter b) aufgeführt ist: in G-Dur, allerdings über die Skizze nicht hinausgehend. May hat sich wohl später endgültig dafür entschieden, das Lied einen Ton tiefer, in F-Dur, zu belassen. Was die weiteren Inhalte der Doppelseite angeht, so sind sie erstmals von Wilhelm Vinzenz und Jürgen Wehnert beschrieben worden.1 Für das spätere Schaffen Mays interessant, aber letztlich kaum auswertbar, ist das ebenfalls auf dem Bogen befindliche Erzählfragment Zerrissen, unter dessen Überschrift das Blatt auch insgesamt angesprochen wird. Hier handelt es sich noch nicht einmal um eine „Exposition“2, sondern höchstens um den Beginn einer solchen ohne großen Erkenntniswert. Das kleine Gedicht Über die Liebe wurde 1999 nicht in Karl May und die Musik gebracht, da kein Zusammenhang mit der Pantoffelmühle zu erkennen war. Übrigens ist das beidseitig beschriebene Blatt von unbekannter Hand beschnitten worden, sodass Textverluste nicht auszuschließen sind. Aber sicherlich freuen sich viele Leser dennoch über diesen kleinen Einblick in Mays frühe Werkstatt.

Eine weitere Rarität aus Mays Werkstatt stellt der Anfang einer Dorfgeschichte mit dem Titel Der verlorene Sohn dar, die hier ihre allererste Veröffentlichung überhaupt erfährt. Es handelt sich um eine Variation über das May’sche Lieblingsthema in Anlehung an das Gleichnis aus dem Lukas-Evangelium und ist, wie Walther Ilmer, der das Manuskript seinerzeit in Bamberg einsehen konnte, 1995 feststellte, „nach unserem Erkenntnisstand Karl Mays allererster Versuch, das Thema in einer ihm gemäßen Form zu behandeln“.3

Ilmer hat in seinem damaligen Vortrag die Charakteristika des Textes so treffend auf den Punkt gebracht, dass wir hier noch einige Sätze daraus zitieren wollen:

„Anlage und Tenor, Schauplatz und Personal gleichen völlig denen in Karl Mays Erzgebirgischen Dorfgeschichten, die von Verbrechen, Schuld und Sühne handeln […] Die Unterschiede z. B. zu Wanda oder auch zur kurzen Dorfgeschichte Der Samiel, die 1878 einmal veröffentlicht wurde, springen ebenso ins Auge wie die Ähnlichkeiten mit den erzählerischen Qualitäten in z. B. Der Herrgottsengel, Der Teufelsbauer, Der Waldkönig. Als Indiz für eine Niederschrift in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre bietet sich vor allem der auffallende Umstand an, dass der – im Fragment leider namenlos bleibende – Titelheld […] gleich beim ersten Anblick der ausdrücklich als Schönheit bezeichneten weiblichen Hauptgestalt dieser verfallen ist – und dass dies schöne Mädchen Emma heißt. […] Hier war ein Könner am Werk. Der Text bricht […] mitten im Satz ab – gerade als der Bösewicht einen Hund auf den Helden hetzt –, und es wird für immer rätselhaft bleiben, welche Ereignisse dem Leser im weiteren Fortgang der Erzählung begegnen sollten und warum und wann Karl May den Faden abriss.“

Der genaue Beginn von Mays schriftstellerischer Tätigkeit ist schwer festzustellen. Gedanken und Pläne sind bereits im Repertorium C. May zu finden, das möglicherweise um 1868 im Arbeitshaus Schloss Osterstein bei Zwickau entstanden war.4 Freilich handelt es sich hier nur um Titelideen, kaum ausgearbeitete Literaturvorschläge, abgesehen von dem etwas ausführlicheren Plan eines Romans „Mensch und Teufel“. Dieter Sudhoff verweist in anderem Zusammenhang auf den Titel „Im alten Neste. Aus dem Leben kleiner Städte“5; ob der 25- bis 26-jährige May mit dem Romantitel Alte Nester des großen und beliebten Romanciers Wilhelm Raabe vertraut war, bleibe dahingestellt. Jedenfalls hat May die Ausführung einer der Humoresken, die ihm unter der Gesamtüberschrift „Im alten Neste“ vorschwebten, zumindest begonnen. Das 2006 in Band II der Karl-May-Welten erstmals veröffentlichte Textfragment In den Eiern (ein beidseitig beschriebenes Manuskriptblatt) erhält nunmehr auch seinen Platz in den Gesammelten Werken, auch wenn es vielleicht auf den ersten Blick nicht sonderlich ergiebig erscheinen mag.

Die Erzählsituation, die die Geschichte offenbar rahmen soll, war May sicher von früh an vertraut: Wirtshaus- und Stammtischrunden, auch Gespräche unter guten Freunden, waren in Ernstthal wie überall in Dörfern und kleinen Städten an der Tagesordnung, und May hat diesen Rahmen auch sonst schon im Frühwerk ausgiebig verwendet, etwa in Ausgeräuchert oder der Humoreske Im Wollteufel. Die Runde bei Mutter Thick im ursprünglichen Old Surehand II dagegen dürfte doch stärker durch Wilhelm Hauffs Wirtshaus im Spessart inspiriert gewesen sein: Erzählketten, eingebettet in einen mehr oder weniger mit den Einzelgeschichten verknüpften Rahmen. Beim Surehand-Band von 1895 wurde Not zur Tugend, weil der Erzähler Karl May jetzt einen ganzen Fehsenfeld-Band mit altem Material aus seiner Schublade füllen konnte, ohne allzu sehr an der Fortsetzung der festgefahrenen Surehand-Grundhandlung arbeiten zu müssen.6

Zu schade, dass In den Eiern so plötzlich abbricht, sodass der Leser niemals erfährt, wie Karoline, die Frau des Erzählers August, von ihrem „Katzenfieber“ geheilt wurde und welche Rolle die ominösen Eier und der nur einmal erwähnte Tierarzt Goldschmidt dabei spielten. Immerhin hat May später in seinem Zeitschriftenroman Scepter und Hammer ein Paar Karl Goldschmidt (Schriftsteller und Revolutionär zugleich) und Emma Vollmer (flatterhaft und ungetreu, aber schön anzusehen) genannt. Damals gab es aber die Emma May geb. Pollmer schon in seinem Leben; bei der Heirat am 17. August 1880 in Ernstthal war der betreffende Band des Romanerstdrucks in All-Deutschland bereits fast abgeschlossen.

Die erzgebirgische Dorfgeschichte Der Herrgottsengel erschien 1878 in der Dresdener Zeitschrift Deutsche Boten unter dem Pseudonym Emma Pollmer, eine Hommage Karl Mays an seine damalige Verlobte. Die Handlung ist geprägt von einer Kriminalgeschichte, die nicht nur Jürgen Wehnert recht unmotiviert erscheinen musste7, denn das Verbrechen spielt sich in einem dunklen Zechenhaus ab. Trotzdem kann der wahre Verbrecher erkannt und erpresst werden! Das Motiv der Unschuld, die sich selbst versehentlich für schuldig hält, wie auch die Doppelrolle des „Klapperbein“ – einerseits Trauernder am Grab der ermordeten Geliebten, andererseits übermächtiger, geradezu gottgleicher „Herrgottsengel“, der „für Recht und Ordnung“8 eintritt und dies gelegentlich mit einem Jagdhieb, über den sich Dr. Sternau und Old Shatterhand gefreut hätten – deuten auf eher tiefenpsychologische Hintergründe hin: die Auseinandersetzung Mays mit seiner kriminellen Vergangenheit, wobei er sich im tiefsten Inneren für unschuldig hielt, sowie sein kindlicher (aber ebenso tief empfundener) Glaube an höhere Mächte und an gütige, in das menschliche Leben eingreifende Schutzengel – diese Motive finden sich bis zum Old Surehand III reichlich in seinen Texten.

Das Nebeneinander von realistischer Dorfgeschichte und religiöser, fast märchenhafter Thematik mag ein Manko des Herrgottsengel-Textes darstellen. May hat in späteren Dorfgeschichten eine Überfrachtung mit übersinnlich-fantastischer Motivik vermieden. Interessant ist freilich ein längerer Entwurf auf zwei eng beschriebenen Quartblättern, der – auf Grund von Hinweisen von Dr. Wilhelm Vinzenz – 2009 erstmals publiziert, von Wilhelm Vinzenz und Roderich Haug sorgsam rekonstruiert und von Dr. Jürgen Wehnert erläutert wurde.9 In diesem Manuskript sind große Teile vom 1. Kapitel des 1878 veröffentlichten Herrgottsengel bereits vorformuliert. May hat in der späteren Zeitschriftenfassung allerdings nicht nur einige Hauptfiguren umbenannt, sondern vor allem den Erzählfluss verbreitert und zahlreiche Details hinzugefügt. Der Entwurf ist schwer zu datieren; es lässt sich aber vermuten, dass er erst nach 1874 entstand, also nicht schon in Osterstein. Die Wandlung Mays vom suchenden Anfänger zum stilsicheren ‚Lehrling‘ lässt sich an den Unterschieden zwischen Entwurfsfassung und dem 1. Kapitel des Zeitschriftentextes ablesen. Dabei hat er nicht nur Dialoge eingebaut und den Erzählfluss dadurch länger und ausführlicher gemacht, sondern deskriptive Passagen und kurze Zwischensätze zeugen auch von einem gesteigerten und gestärkten erzählerischen Bewusstsein.

Während die sechs Erzählungen dieses Bandes der heute gültigen Rechtschreibung angepasst wurden (ansonsten aber inhaltlich und stilistisch unbearbeitet blieben), werden die vier Fragmente in Orthografie und Interpunktion zeichengetreu so wiedergegeben, wie May sie geschrieben hat, inklusive aller Fehler und Seltsamkeiten. Streichungen in den Handschriften sind kenntlich gemacht, Wort- oder Zeichenergänzungen der Herausgeber an Stellen, wo der Autor offensichtlich etwas vergaß oder wo durch Beschädigungen am Papier Textverluste entstanden, stehen in eckigen Klammern.

Verschwörung in Wien

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