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VERSCHWÖRUNG IN WIEN
ОглавлениеDie in Wien so wohlbekannte Equipage des Grafen Senftenberg rollte, von zwei prachtvollen Goldfüchsen gezogen, über den Kolowrat-Ring am Stadtpark vorüber, durch den Stubenring über die Aspernbrücke, bog dann links in die untere Donaustraße und lenkte rechts in die große Mohrengasse ein, wo sie vor einem sehr ansehnlichen Haus hielt, dem anzusehen war, dass es nur von feinen, wohlsituierten Leuten bewohnt wurde.
In dem Wagen saßen drei junge Herren, die sich während der Fahrt in einer mehr als lebhaften Unterhaltung befunden hatten. Obgleich es noch nicht die Zeit des Diners war, schienen sie sich doch bereits in eine sehr animierte Stimmung getrunken zu haben. Sie lachten überlaut und machten sich ganz und gar nichts aus dem Lächeln, mit welchem die Passanten ihnen nachblickten.
Nur einer von ihnen, der Graf selbst, verriet die glückliche Gabe, trotz des kleinen Rausches, den er besaß, die Würde seines Standes leidlich zu bewahren. Die beiden anderen aber waren so ausgelassen, dass er sie öfters durch ein wohlgemeintes „Na, na, pst, pst“ in engere Schranken verweisen musste.
Sie kamen aus einem jener Frühstückslokale, in denen die gutsituierte Jugend ihre Guldennoten anlegt, um dafür im Alter ein mehr oder weniger ausgiebiges Podagra einzuheimsen. Dort hatten sie einige Dutzend Austern verzehrt, mehrere Flaschen Sekt dazu ausgestochen, dann ein kleines Spielchen gemacht, zu welchem natürlich nur ein schwerer aber ‚süffiger‘ Burgunder getrunken werden konnte, und dann hatte es sich herausgestellt, dass Champagner und Burgunder eigentlich nicht gut harmonieren. Die beiden so verschiedenen Gaben des Bacchus waren in den Köpfen der Zecher miteinander in Konflikt geraten, und darüber war den Letzteren der sowohl jungen als auch alten Leuten so wohlanstehende Ernst verloren gegangen.
Jetzt hielt die Equipage vor einem Haus in der Mohrengasse. Der Diener sprang vom hinteren Tritt herab und öffnete den Wagenschlag. Er ließ dabei jenes ergeben-pfiffige Gesicht sehen, welches vertraute Domestiken zu zeigen pflegen, wenn sie die Ehre haben, Zeugen einer kleinen, liebenswürdigen Schwachheit ihrer Herren zu sein.
„Hier scheiden wir also, meine Herren“, sagte der Graf. „Steigen Sie mit aus, Baron, oder fahre ich Sie auch nach Ihrer Wohnung?“
Derjenige der beiden anderen, an welchen die Frage gerichtet war, trug einen sehr eleganten, ja ‚feschen‘ Wiener Anzug nach dem allerneuesten Schnitt und Muster. Die Linke war behandschuht, die Rechte nicht. An den Fingern dieser Letzteren glänzten mehrere Ringe, deren Steine nur ein ganz besonderer Kenner für wertlose Nachbildungen hätte erklären können. Er war, das sah man auf den ersten Blick, ein ausgesprochener Dandy und hatte die nachlässige, gelangweilte Haltung jener Flaneure, welche sich in ihren müßigen Stunden – und jede Stunde ist bei ihnen müßig – auf den eleganteren Straßen herumtreiben und dem Leben keinen besonderen Reiz mehr abgewinnen können, weil sie die liebenswürdigen Seiten desselben bereits im Übermaß kennengelernt und genossen haben.
Sein Gesicht war glattrasiert und stark gepudert, vielleicht um gewisse Spuren, welche eine ausverkaufte Jugend zurückzulassen pflegt, weniger bemerkbar zu machen. Seine Brauen und Wimpern waren schwarz gefärbt, um dem Blick des matten Auges mehr Intensität zu erteilen. Die perlenweißen Zähne waren viel zu schön, als dass man sie für echt hätte halten können, und der Mund schien durch Anwendung einer Lippenpomade künstlich aufgefrischt worden zu sein. Dies alles gab dem Gesicht etwas Unechtes, Wachsfigurenähnliches und verdeckte trotzdem nicht den Ausdruck scheuer Unsicherheit, welcher darüber ausgebreitet lag und sich in dem ganzen Wesen und Gebaren des jungen Mannes aussprach. Wenn man überhaupt die Erlaubnis hat, einen Menschen mit irgendeinem Tier zu vergleichen, so glich der Baron einer schön gezeichneten und wohlgenährten Katze, welche jeden Augenblick bereit ist, irgendeinem ihr feindseligen Wesen zu entwischen.
„Danke, Graf“, antwortete er. „Ich werde mir die Ehre geben, unseren Künstler zunächst in sein Heim zu geleiten, denn…“
Ein bezeichnender Blick sagte das, was auszusprechen er unterlassen hatte. Der dritte der jungen Herren, von kräftiger Gestalt, dessen kühn geschnittenes Gesicht etwas verlebt aussah, hatte sich jedenfalls den bedeutendsten Rausch angetrunken. Seine Lider waren müd auf die Augen gesenkt, dennoch bemerkte er den Blick des Barons und sagte lachend:
„Lieber Freund, denke nicht, dass du das nötig hast. Ich erreiche meine Bude auch ohne fremde Hilfe.“
„Darüber gibt es ja gar keinen Zweifel, mein Bester. Du wohnst ja im Parterre, aber ohne ein kleines Straucheln wird es nicht abgehen. Darum ist es besser, ich begleite dich. Komm!“
Der Künstler stieg mit Hilfe des Dieners aus dem Wagen. Seine Bewegungen waren schwer und unsicher. Der Baron nickte dem Diener vertraulich zu, ergriff den Künstler beim Arm und wendete sich zum Grafen:
„Sehen wir uns heut Abend wieder?“
„Schwerlich. Ich bin engagiert.“
„Ah! In interessanter Weise?“
„Nicht so, wie Sie denken, mein lieber Baron. Ich bin zum Kommerzienrat Hamberger geladen.“
„Puh! Und da gehen Sie?“
„Warum nicht?“
„Zu einem Juden und Parvenü!“
„Pah! Man sieht dort feine Leute; ihretwegen gehe ich hin, nicht seinetwegen.“
„Dann viel Vergnügen! Und morgen natürlich wieder zum Frühstück?“
„Werde eintreffen! Vorwärts, Jean!“
Der Diener war wieder hinten aufgestiegen und die Equipage rollte auf dem hartgefrorenen Boden weiter.
Der Baron geleitete den Künstler die Stufen zum Parterre empor. Ein Livréediener, der beide hatte kommen sehen, öffnete eine Tür, an welcher schwarz auf weißem Porzellan zu lesen war: „Guiseppe Criquolini“. Die beiden traten ein und begaben sich durch das Vorzimmer nach einem kleinen, sehr hübsch ausgestatteten Herrensalon.
Dort fiel der Besitzer des Logis auf die Ottomane, streckte sich lang auf dieselbe aus, die Stiefel ungeniert auf das seidene Sofakissen legend, und sagte:
„Habe doch des Guten zu viel getan! Der Burgunder war vom Teufel gekeltert.“
„Und der Sekt vom Erzengel Michael. Darum wirbelt einem nun Höllisches und Himmlisches im Kopf herum und es ist kein Wunder, wenn der schwache Mensch in diesem Kampf unterliegen muss. Auch mir geht es so ziemlich wie dir. Soll ich vielleicht nach einem Selters klingeln?“
„Tu es! Aber ich mag jetzt vom Wasser nichts wissen. Ersäufe dich also allein darin. Ich werde, wenn du fort bist, ein Schläfchen machen.“
„Vielleicht tu ich das zu Hause auch.“
Er drückte an der silbernen Glocke, welche auf dem Tisch stand. Der Livréediener erschien und erhielt den Befehl, eine Flasche Selters zu bringen. Er trat, die Tür gleich offen lassend, ins Vorzimmer zurück und brachte das Verlangte herein. Dabei lächelte er auf eine Weise, als ob er sagen wollte: „Habe sie bereitgehalten, denn ich ahnte, was den Herren dienlich sein werde.“
Als er hinaus war, lachte der Baron:
„Hast einen vortrefflichen dienstbaren Geist. Er scheint ein guter Gedankenleser zu sein.“
„Ist kein Wunder! Die drei Wochen, seit denen er bei mir ist, bin ich täglich frühstücken gegangen und ebenso täglich so heiter nach Hause gekommen. Da hat er gelernt, das Selters- oder Sodawasser bereitzuhalten. Ich muss offen gestehen, dass man hier in Wien zu leben versteht.“
„Besonders wenn man sich an Kavaliere, wie Graf Senftenberg einer ist, anschließen darf.“
„Ja. Ein vortrefflicher Kerl! Nicht?“
„Ausgezeichnet! Ich kenne keinen Zweiten.“
„Er muss ungeheuer reich sein!“
„Das hört man allgemein. Er soll bedeutende Besitzungen in Ungarn und Siebenbürgen haben und außerdem auch noch in Preußen und Bayern begütert sein. Er fährt mit den besten Pferden, führt ein brillantes Haus, obgleich er unverheiratet ist, hat die besten Weine und verzieht keine Miene, wenn er einen Tausendguldenschein im Spiel verliert.“
„Wie heut wieder! Mensch, du bist ein Glückskind! Gestern gewonnen, heute gewonnen, alle Tage gewonnen! Du hast mir seit einer Woche sicher dreitausend Gulden abgenommen.“
„Das Spiel ist wetterwendisch. Du wirst wohl bald Revanche nehmen.“
„Pah! Ich gehe nicht darauf aus. Ich will mich amüsieren. Wird dieser Wunsch mir erfüllt, so zähle ich den Mammon nicht.“
„Hast’s auch nicht nötig. Deine Kehle bringt dir genug ein. Heutzutage fragt ein Sänger deiner Distinktion nicht nach einer Handvoll Goldstücken.“
„Ja, die Zeiten haben sich geändert. Während Mozart für seine ganze Don Juan-Oper lumpige dreißig Dukaten bekam, verlange ich, um in dieser Oper einmal aufzutreten, das Dreifache. Meine Reise durch die Vereinigten Staaten hat mir ein schönes Sümmchen eingebracht.“
„Das glaube ich! Wenn du so fortfährst, wirst du bald Millionen zählen.“
„So schnell geht das freilich nicht. Mit unserem Grafen Senftenberg werde ich mich in dieser Beziehung niemals messen können. Übrigens, unter uns gesagt, gibt es bei all seiner Liebenswürdigkeit doch einiges, was mir nicht an ihm gefällt.“
„Ist er dir unsympathisch?“
„Das nicht, o nein. Aber er ist und bleibt doch stets Aristokrat.“
„Ja, er ist Vollblut!“
„Ich hätte gar nichts dagegen, wenn er das besser zu maskieren verstünde.“
„Ich habe noch nicht die Erfahrung gemacht, dass er es uns merken lässt. Oder du vielleicht?“
„Hm. Er ist freundlich, zuvorkommend und liebenswürdig, wie man es gar nicht besser verlangen kann; aber doch gibt es zuweilen ein Wort, eine Bewegung, kurz, ein undefinierbares Etwas, durch welches er absichtlich oder unabsichtlich auf die Schranke deutet, über welche wir nicht zu ihm kommen können.“
„Wir?“
Der Baron betonte dieses Wort in eigenartiger Weise und warf dabei dem Sänger einen schnellen, lauernden Blick zu.
„Pardon!“, antwortete dieser. „Du bist Baron, also auch vom Adel, also mag das dir nicht so gelten wie mir. Aber hast du denn noch nicht bemerkt, dass er trotzdem gegen dich zurückhaltender ist als gegen mich?“
„Nein, niemals.“
„So sei einmal aufmerksamer! Es gibt Momente, in denen er dich, ohne dass du es siehst, scharf betrachtet. Erst vorhin, als fünfhundert Gulden auf einer einzigen Karte standen, sah er dir so scharf auf die Finger, als ob er den kolossalen Gedanken hegte, dass du ein Falschspieler seist.“
„Donnerwetter!“, brauste der Baron auf. „Das will ich mir verbitten!“
„Ich nehme an, dass du mir diese freundschaftliche Bemerkung nicht übel nimmst. Oder doch?“
„Nein, obgleich ich sie auch verstehen würde, wenn es dir beliebte, sie in weniger beleidigende Ausdrücke zu kleiden.“
„Unsinn! Ich bin aufrichtig und nenne das Ding beim richtigen Namen. Gestern Abend kam im Casino die Rede auf dich. Du warst nicht da. Dein Name Stubbenau sollte, nach der Meinung einiger Herren, nicht im Adelskalender zu finden sein…“
„O bitte!“, fiel der Baron eifrig ein. „Die Herren von der Stubbenau bilden ein sehr altes Geschlecht. Unsere Ahnen stammen aus Livland. Später gingen sie nach Russland, und zwar bereits vor Peter dem Großen. Darum wird unser Name nicht im Gothaer Adelskalender zu finden sein, wohl aber in den Kavalierregistern Russlands. In diese mögen die Herren blicken, welche es wagen, an der Echtheit meines Adelsbriefes zu zweifeln. Übrigens bin ich in jedem Augenblick bereit, ihnen meinen Stammbaum mit dem Degen ins Gesicht zu zeichnen. Wer waren denn die Betreffenden?“
Der Sänger hatte die Auslassung des Barons ruhig angehört, indem er dabei mechanisch einen seiner Ringe am Finger auf und ab drehte. Er antwortete gleichmütig:
„Das habe ich mir freilich nicht gemerkt. Weißt du, das Gespräch war ein sehr lebhaftes. Da kann man nicht im Gedächtnis behalten, wer der Autor gewisser, bestimmter Worte ist.“
„Aber du sprachst ja vom Grafen!“
„Den habe ich nicht gemeint.“
„Er verhielt sich still?“
„Ja. Nur als die Rede auf deine Güter kam, da machte er eine kleine Bemerkung.“
„Welche?“
„Kann mich auch nicht genau besinnen.“
„Das tut mir leid. Es wäre mir wirklich sehr lieb, wenn du dich genau erinnern könntest.“
„So! Hm! Wie war es doch nur? Ich glaube, dass er meinte, dass – ah, mein Ring!“
Der Ring, mit welchem er gespielt hatte, war seiner Hand entfallen und herunter auf den Boden gerollt. Der Baron stand dienstfertig von seinem Stuhl auf. Er sah den Ring liegen, tat aber so, als ob er ihn vergeblich suche.
Der Sänger blieb ruhig auf der Ottomane liegen. Der Wein hatte ihn schwerfällig gemacht.
„Lass ihn!“, sagte er. „Er muss sich ja finden.“
„Ist er kostbar?“
„Ja. Ein Diamant von fünfzehn Karat.“
„So darf man nicht so sorglos sein.“
„Pah! Er liegt in meiner Stube. Er kann also nicht verschwinden.“
„Dennoch wollen wir nachsehen, ob er vielleicht unter den Diwan gerollt ist.“
Er bückte sich, um unter das erwähnte Möbel zu blicken, und legte dabei seine Hand genau auf die Stelle, an welcher der Ring lag. Er ergriff ihn, ohne dass der Sänger es bemerkte, hielt ihn zwischen den Fingern fest, erhob sich nach kurzer Zeit wieder und sagte:
„Ich sehe ihn wirklich nicht.“
„So lass doch nur! Mein Diener muss ihn ja finden. Du bist doch nicht etwa da, um ihm Handlangerdienste zu leisten.“
Der Baron begab sich auf seinen Stuhl zurück und ließ dann gelegentlich den Ring heimlich in seiner Tasche verschwinden.
„Nun also, besinnst du dich?“, fragte er, das unterbrochene Gespräch wieder aufnehmend.
„Will sehen. Wenn ich es mir recht überlege, so war die Rede davon, dass du behauptet hast, bedeutende Güter in der Ukraine zu besitzen.“
„Hat man etwa daran gezweifelt?“
„Hm! Man schien allerdings Zweifel zu hegen.“
„Donnerwetter! Man mag das mich ja nicht etwa hören lassen!“
Er tat sehr zornig, doch hätte der Sänger, wenn er aufmerksamer gewesen wäre, bemerken müssen, dass dieser Zorn mit einem guten Teil von Verlegenheit gemischt war.
„Nun, mir ist es ja ganz gleich, wo deine Güter liegen. Aber Graf Senftenberg bemerkte, dass in der Ukraine der Name Stubbenau vollständig unbekannt sei.“
„Wie kann er das wissen?“
„Weil er auch dort ebenso wie in der Krim begütert ist.“
„Davon weiß ich nichts.“
„Aber ich weiß es genau.“
„Kann er nicht ebenso gut flunkern, wie ich geflunkert haben soll?“
„O nein. Ich war bei ihm, als er eben mit einem der dortigen Inspektoren verhandelte, und habe alles mit angehört. Er muss wirklich steinreich sein.“
„So mag er sich um seine Liegenschaften bekümmern, aber ja nicht um die meinigen!“
„Wenn seine Bemerkung dich beleidigt, so will ich ihm sagen, dass du wünschst, er solle sie zurücknehmen.“
„Wie meinst du das?“
„Nun, du hast ja vorhin von deinem Degen gesprochen, wenn ich mich recht erinnere.“
„Du sprichst, wie es scheint, von einem Duell?“
„Natürlich!“
„Fällt mir nicht ein!“
„So! Dann hast du kälteres Blut als ich. Wenn ich gesagt hätte, dass ich Besitzungen in der Ukraine hätte, und irgendeiner behauptete, dass mein Name dort nicht bekannt sei, den wollte ich koramieren14!“
„Ich bin ein Edelmann, aber kein Raufbold. Übrigens bin ich kein Anhänger der Lehre von der absoluten Notwendigkeit des Zweikampfs. Ich kann beleidigt worden sein und dann sogar auch noch im Duell den Kürzeren ziehen. Ich bin also doppelt bestraft, muss mich auch noch zu längerer Festungshaft verurteilen lassen und – was habe ich davon?“
„Du denkst sehr praktisch!“
„Ja. Übrigens will ich annehmen, dass der Graf seine Worte nicht so scharf gemeint hat, wie es den Anschein hat haben können. Er ist ein famoser Gesellschafter und ich will mich nicht mit ihm verfeinden.“
Dass er sich nicht mit ihm verfeinden wollte, zwecks der Gelegenheit, ihm im Spiel auch fernerhin durch falsche Karten das Geld abzunehmen, das verschwieg er natürlich.
„Ganz wie du willst“, nickte der Sänger.
„Übrigens habe ich auch auf dich Rücksicht zu nehmen, lieber Criquolini!“
„Auf mich? Nicht dass ich wüsste.“
„Ist es dir so gleichgültig, ob der Graf es erfährt oder nicht, dass du mir seine Äußerung mitgeteilt hast?“
„Das ist mir wirklich sehr egal.“
„So liegt dir an seiner Freundschaft nichts?“
„O doch! Aber ich denke, dass er vertreten soll, was er sagt; darum halte ich es keineswegs für eine Indiskretion, dass ich dir gesagt habe, was er geäußert hat. Übrigens ist er wohl nicht der Mann, welcher aus Feigheit einem Duell aus dem Weg gehen würde.“
„Lassen wir das! Ich weiß nun, woran ich bin, und im Übrigen ist mir die ganze Geschichte lächerlich! Wie weit bist du mit deiner Tänzerin?“
„Mit Valeska?“
„Ja. Oder interessierst du dich für mehrere Tänzerinnen? Es wäre dir zuzutrauen.“
„Da irrst du. Ich kenne nur diese eine.“
„Allerdings auch die interessanteste!“
„Das ist sie. Sie ist ein Engel.“
„Das sagt ein jeder von seiner Angebeteten.“
„Sapperment! Bist du anderer Meinung?“
Der Sänger setzte sich aufrecht. Er hatte seine Frage in einem beinahe drohenden Ton ausgesprochen und blickte dem andern herausfordernd entgegen.
„Bring mich nicht gleich um!“, lachte dieser. „Ich glaube, du könntest für dieses Mädchen irgendeine große Dummheit begehen!“
„Welche meinst du?“
„Dich mit mir verfeinden.“
„Das könnte ich allerdings. Ich könnte mich ihretwegen sogar sofort mit aller Welt verfeinden. Ich liebe sie! Hörst du es, ich liebe sie!“
Der Baron ließ ein kurzes Lachen hören und antwortete, leicht mit dem Kopf nickend:
„Gut! Ich glaube es dir! Man liebt. Das heißt, man liebt die Eine, nachdem man die Vorige geliebt hat, und wird, wenn man ihrer überdrüssig ist, die Nächste lieben.“
„Da täuschst du dich in mir. Ich liebe sie wirklich. Ich werde sie heiraten!“
„Criquolini!“
„Was? Hast du etwas dagegen?“
„Mensch, blitze mich nicht mit solchen Augen an! Ich habe es ja gar nicht bös gemeint. Ich bin aber nur der Überzeugung, dass man recht herzhaft lieben kann, ohne grad an das Heiraten zu denken. Es ist nicht notwendig, dass aus jedem Liebhaber schleunigst ein Ehemann und Familienvater wird.“
„Das habe ich auch gar nicht behaupten wollen. Auch ich habe das Leben genossen und wohl manche kennengelernt, welche mir gefiel. Wenn aber dann die richtige Liebe eintritt, dann, dann – nun dann heiratet man eben.“
„Eine Tänzerin?“
„Warum nicht? Ist eine Tänzerin ein verächtliches Geschöpf? Muss sie etwa weniger wert sein als jede andere?“
„Das behaupte ich nicht. Aber sie gehört einem Stand, sagen wir, einem Handwerk an, dessen Genossen nicht in dem frömmsten Ruf stehen.“
„Das mag sein. Aber es gibt Ausnahmen und meine Valeska ist eine solche!“
„Ich wünsche, dass du dich nicht irrst.“
„Ich weiß es gewiss und bin bereit, eine jede Wette mit einzugehen.“
„Nun, bei mir findest du keine Gelegenheit, diese Wette anzubringen. Ich will es dir gern gönnen, wenn du glücklich mit ihr wirst.“
„Das hoffe ich. Übrigens gehöre ich nicht zu den Dummköpfen, welche sich in ein hübsches Gesicht vergaffen und sich dann mit aller Gewalt ins Elend stürzen. Ich prüfe.“
„Und sie hat die Prüfung bestanden?“
„Bisher, ja!“
„Aber weiter?“
„Die Hauptprüfung soll noch erfolgen.“
Da legte der Baron die Beine bequem übereinander, nahm jene Haltung an, in welcher man eine interessante Mitteilung gern entgegenzunehmen pflegt, und sagte:
„Da bin ich doch begierig, zu erfahren, worin diese Hauptprüfung bestehen soll.“
„Dir gegenüber brauche ich wohl kein Geheimnis daraus zu machen.“
„Gewiss nicht. Meiner Diskretion kannst du auf alle Fälle versichert sein.“
„Das setz ich voraus. Du kennst zwar meine Angebetete nicht, aber…“
Der Baron machte bei diesen Worten des Sängers ein Gesicht, welches dem Letzteren so auffiel, dass er, sich unterbrechend, fragte:
„Oder solltest du sie doch kennen?“
„Natürlich!“, antwortete der Gefragte, sein Gesicht schnell in bessere Beherrschung nehmend.
„Genau?“
„Ich habe sie im Theater tanzen sehen.“
„Ach so! Also eine nähere Bekanntschaft ist es nicht?“
„Nein!“
„Ich glaubte, aus deiner Miene entnehmen zu sollen, dass – – na, gut! Also die Damen vom Ballett sind Titeln und Geschenken zugänglich. Valeska soll einen Grafen kennenlernen, welcher sie mit Geschenken reich bedenkt. Zieht sie mich trotzdem ihm vor, nun, so hat sie die Probe bestanden.“
„Gar nicht übel, falls sich nämlich so ein Graf bereitfinden lässt, die Probe vorzunehmen.“
„Habe schon einen.“
„Ach! Doch nicht Senftenberg?“
„Was fällt dir ein! Diesem würde es nie einfallen, sich zu so einer Komödie herzugeben. Schon der bloße Antrag, den ich ihm da machte, würde ihn so beleidigen, dass er blutige Genugtuung forderte.“
„Also einen andern!“
„Ja.“
„Der sich nicht beleidigt fühlt von deinem Wunsch, dass er dir hier dienen möge.“
„Freundchen“, lachte der Sänger, „verstehe mich wohl! Ein wirklicher Graf würde sich nicht dazu hergeben.“
„Ach! Also ein falscher?“
„Ja, ein Talmigraf. Ich kenne einen Schauspieler, einen sehr hübschen und gewandten Kerl, der mit ihr anknüpfen soll.“
„Und ihr große Geschenke machen?“
„Was hast du?“
„Ein Schauspieler, der sich zu so einer Maskerade hergibt, hat sicherlich nicht die Mittel, solche Geschenke zu machen.“
„Ist gar nicht nötig, denn ich habe sie ja.“
„Ach, jetzt verstehe ich dich!“
„Ich bezahle ihn.“
„So wird der Handel für dich nicht sehr vorteilhaft sein!“
„Wieso?“
„Aus einem sehr einfachen Grund. Gibt er sich wirklich Mühe, sie dir abspenstig zu machen, und es gelingt ihm, so hat er von dir kein großes Honorar zu erwarten. Darum wird er sich nicht allzu sehr anstrengen und sie wird dir treu bleiben können. Eine solche Probe hat keinen Wert!“
„Du kennst mich schlecht, ich habe mit ihm ausgemacht, dass er gar nichts bekommt, wenn sie mir treu bleibt. Gelingt es ihm aber, sie binnen einer Woche zu erobern, so erhält er fünfzehnhundert Gulden. Für mich ist diese Summe eine Kleinigkeit, für ihn aber ein Kapital.“
„Wann wird er beginnen?“
„Vielleicht bereits heut.“
„Darf ich erfahren, wie dieser unternehmende Mann heißt?“
„Ich habe ihm versprechen müssen, das zu verschweigen.“
„Auch welchen Grafennamen er tragen wird?“
„Auch das. Übrigens geht mich das gar nichts an. Er mag einen Namen wählen, welchen er will. Ich bin aber überzeugt, dass ich nicht gezwungen sein werde, ihm die fünfzehnhundert auszuzahlen.“
„So sicher bist du also der Balletteuse! Ihr habt euch also, sozusagen, bereits heimlich verlobt?“
„O nein. Es ist bis jetzt noch nicht einmal zu einem perfekten Liebesgeständnis gekommen; doch wir stehen in einem stillen, aber so festen Einverständnis, dass ich gar keine Sorge zu haben brauche.“
„Männchen, du scheinst dich für einen sehr guten Menschenkenner zu halten!“
„Was die Frauen anbelangt, ja. Ich habe zwar erst seit zwei Jahren mir da eine Abwechslung gegönnt; diese ist aber eine so reichhaltige gewesen, dass ich mir wohl schmeicheln darf, ein Kenner zu sein.“
„Jedenfalls hast du auf deiner amerikanischen Tournee interessante Bekanntschaften gemacht?“
„Natürlich! Vorher wäre ich beinahe in das Netz einer Sirene geraten, welche alle neunundneunzig Teufel im Leib hatte. Ich befand mich so fest an ihrer Angel, dass sie mich hinziehen konnte, wohin es ihr beliebte. Es hat Mühe gekostet, wieder frei zu werden. Sie war eine wirkliche Liebeskünstlerin!“
„Also wohl eine Schauspielerin?“
„Nein, sondern ganz im Gegenteil eine Dame der Aristokratie. Hast du nicht einmal den Namen Asta, Baronesse von Zella gehört?“
„Ach! Meinst du die junge, außerordentlich interessante Dame, welche damals so viel im Haus des Barons von Alberg verkehrte?“
„Ganz dieselbe.“
„Die habe ich sogar genau gekannt, vielleicht genauer, als du ahnen wirst!“
„Ach! Ist’s möglich? War sie eine Liaison von dir?“
„Beinahe wäre ich in ihre Netze gegangen.“
„Wirklich nur beinahe?“
„Ja, in Wahrheit. Ich interessierte mich allerdings außerordentlich für sie, denn sie war wirklich begehrenswert, wenn man sie nicht näher kannte. Als ich aber die Bemerkung machte, dass sie sich nicht schwer erobern ließ, erkundigte ich mich nach ihr und erfuhr, dass sie sich der Herrenwelt gegenüber sehr entgegenkommend zeige. Da ließ ich sie natürlich fallen.“
„Ganz so wie ich. Auch ich machte die Erfahrung, dass ich nicht der Einzige war, der sie liebte.“
„Man hat nichts mehr von ihr gehört. Sie soll mit dem Baron von Alberg nach Amerika gegangen sein.“
„Wirklich? Ich entsinne mich nicht genau. Sagte man nicht, dass er aus gewissen Gründen zu dieser Reise gezwungen worden sei?“
„Ja. Seine eigene Tochter, die Schlossherrin auf Steinegg, soll ihn gezwungen haben. Drüben ist er bald gestorben. Sein Totenschein wurde herübergeschickt. Baronesse Asta ist seitdem verschollen.“
Da trat der Diener herein und brachte auf einem Teller einen Brief, welcher soeben vom Briefträger abgegeben worden war. „Gib ihn dem Herrn Baron“, befahl der Sänger. „Er mag ihn öffnen!“ Der Diener tat dies und entfernte sich dann wieder.
Der Baron hatte den Brief genommen, drehte ihn in den Händen hin und her und fragte verwundert:
„Wie kommt es, dass du mir das Amt deines Privatsekretärs übergibst?“
„Aus dem sehr einfachen Grund, dass ich jetzt nicht lesen kann. Dieser verteufelte Burgunder treibt mir das Blut so nach dem Kopf, dass es mir vor den Augen in allen Farben schillert. Die Buchstaben würden vor meinem Blick tanzen. Ich kann nicht lesen. Bitte, unterziehe dich der kleinen Mühe!“
„Es könnte aber etwas Diskretes sein.“
„Vor dir habe ich kein Geheimnis.“
„Vielleicht eine Rechnung?“
„Die dürftest du erst recht lesen. Aber ich bin ja erst drei Wochen hier, in Wien habe ich nichts dergleichen zu erwarten. Wie ist die Adresse?“
„Herrn Guiseppe Criquolini, Sänger. Auch die Straße und Hausnummer ist ganz richtig angegeben.“
„So! Und die Handschrift?“
„Eine sehr geübte Männerhand.“
„Dann bin ich wirklich neugierig – ah, welcher Poststempel?“
„Salzburg.“
„Wüsste wirklich nicht, wer mir von dort her zu schreiben hätte! Brich auf und sei so gut, ihn mir vorzulesen!“
Der Baron folgte dieser Aufforderung. Er nahm den Bogen aus dem Kuvert und las, ohne die Zeilen vorher zu überfliegen:
„Elsbethen, den 20. März 18…
Lieber Sohn!…“
„Halt!“, rief da der Sänger. „Ich glaube gar, der Brief ist – ist – ist…“
Er sprach den Satz nicht aus, und erst als der Baron ihn fragend anblickte, fuhr er fort:
„Von meinen Eltern.“
„Du hast deine Eltern noch?“
„Ja.“
„Aber davon hast du mir ja noch gar nichts gesagt!“
Der Sänger wurde verlegen. Er antwortete:
„Weil wir zufälligerweise noch nicht von meinen Familienverhältnissen gesprochen haben.“
„So! Nun, wenn der Brief von deinen Eltern ist, was sich allerdings aus der Anrede als ganz gewiss ergibt, so musst du ihn selbst lesen. Hier ist er.“
Er reichte ihm den Brief hin. Der Sänger streckte bereits die Hand nach dem Schreiben aus, zog sie aber wieder zurück und sagte:
„Lies immerhin! Was die alten Leute mir zu schreiben haben, das sind ganz gewiss keine Staatsgeheimnisse.“
„Ganz wie du willst!“
Er begann abermals:
„Lieber Sohn!
Weil wir nicht schreiben können, haben wir den Herrn Pfarrer gebeten, diesen Brief an dich zu verfassen. Wir haben gehört, dass du in Amerika gewesen bist und da viel Geld verdient hast. Indessen ist es uns traurig ergangen. Du warst fort, und wir waren zum Arbeiten zu alt. Da hat uns die Gemeinde ernähren müssen.
Dann kam einmal die Murenleni zu uns, die eine Sängerin geworden ist. Sie sah unsere Not und hat viel mit uns geweint. Von dieser Zeit an haben wir alle Wochen fünfzehn Mark von ihr erhalten, wovon wir leben und uns sogar noch etwas sparen können. Gestern erfuhren wir, dass du wieder aus Amerika zurück bist und in Wien auf der Mohrengasse wohnst. Da haben wir es für unsere Pflicht gehalten, dir zu schreiben.
Der Vater ist immer krank gewesen, und der Mutter geht es nicht gut mit ihren Augen. Sie kann beinahe gar nichts mehr sehen. Wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, so wird sie dich wohl nicht mehr erblicken. Denn wenn es die Kunst einmal erlauben wird, an uns alte Leute zu denken und zu uns zu kommen, dann wird sie entweder blind sein oder auch bereits lange nicht mehr leben.
Der liebe Herrgott mag dir Glück und Segen geben. Wir sind zufrieden, wenn er uns bald ein ruhiges und seliges Ende beschert.
Deine
alten, alten Eltern.“
Als der Baron den Brief vorgelesen hatte, legte er ihn aus der Hand und blickte Criquolini fragend und erwartungsvoll an.
„Verdammte Geschichte!“, brummte dieser. „Hm! Es ist eben so gekommen.“
„Was?“
„Dass ich mich nicht habe um meine Eltern kümmern können. Ich habe sie ganz vergessen!“
„Wie ist das möglich?“
„Nimm es mir nicht übel! Aber diese Frage ist fast überflüssig. Wenn du meine früheren Verhältnisse – – pah! Schweigen wir lieber! Es kommt nichts heraus dabei.“
„Ganz wie du willst. Aber hast du Ihnen denn nicht einmal etwas geschickt?“
„Nein. Ich sagte dir ja bereits, dass ich auf sie ganz vergessen hatte!“
„Nach dem, was ich gelesen habe, müssen sie sehr arm sein?“
„Freilich sind sie das. Aber zu hungern haben sie doch nicht gebraucht. Du hast es ja gelesen, dass die Gemeinde sich ihrer angenommen hat. Und nun werden sie von der Murenleni unterstützt. Sie leiden also keine Not.“
„Wer ist dieses Frauenzimmer, welches eine Sängerin geworden ist und deinen Eltern wöchentlich fünfzehn Mark gibt?“
„Das ist – das ist – meine erste Geliebte.“
„Deine erste Geliebte? Mann, welch ein Glück hast du!“
„Wieso?“
„Eine Geliebte, die du also verlassen hast und die trotzdem deine Eltern ernährt! Sapperment! Das ist aller Ehren wert! So wohl wird es nicht gleich einem andern!“
„Grad ein Glück ist’s nicht für mich. Wenn ich daran gedacht hätte, hätte ich meinen Alten selbst was schicken können. Sie hat sich eigentlich gar nicht in unsere Angelegenheit zu mengen. Sie mag für sich selbst sorgen. Sie will mich damit nur ärgern. Was gehen sie meine Eltern an? Nichts, gar nichts. Ich bekümmere mich doch auch nicht um ihre Angelegenheiten!“
„Aber, lieber Freund, wenn deine Eltern sich in Verhältnissen befunden haben, welche die Unterstützung seitens der Armenbehörde notwendig machten, so müssen sie doch sehr arm gewesen sein.“
„Nun freilich, Millionen hatten sie nicht besessen.“
„Was ist denn dein Vater?“
Der Sänger blickte eine Weile still vor sich hin. Seine Brauen zogen sich zusammen. Seine Mienen drückten den Widerwillen, sich über dieses Thema zu äußern, deutlich aus, er antwortete:
„Du kannst dir denken, dass ich über diese Verhältnisse nicht gern spreche.“
„Warum nicht? Nach deinem Auftreten muss man denken, dass du aus einem guten Haus stammst. Du hast dir in Amerika ein Vermögen ersungen, du bist also ein Kavalier und es kränkt dich nicht, ansehnliche Summen im Spiel zu verlieren. Deine Tänzerin kostet dich viel Geld. Du hast als Künstler Zutritt in ausgewählte Kreise erlangt, und doch sind deine Eltern auf die Unterstützung ihrer Gemeinde angewiesen. Ich begreife das nicht!“
Es war keineswegs die sittliche Entrüstung, welche dem Baron diese Worte diktierte. Er sprach so, weil er sich rächen wollte. Er hatte anhören müssen, dass man an seinem Adel, an seinen Besitztümern zweifelte, dass man ihn sogar für einen Falschspieler halte. Das alles hatte der Sänger ihm mit der größten Gemütlichkeit ins Gesicht gesagt. Nun fand er Gelegenheit, ihm den Hieb zurückzugeben. Es fiel ihm gar nicht ein, das zu versäumen. Es war ihm natürlich ganz und gar egal, ob die Eltern seines Freundes ein gutes Auskommen hatten oder ob sie hungern und darben mussten, aber er fühlte sich davon befriedigt, eine Art gelinder moralischer Entrüstung zeigen zu können. Er hatte seine Worte in freundlich-ernstem, eindringlichem Ton gesprochen, so wie ein verständiger, älterer zu seinem leichtsinnigen, jüngeren Bruder sprechen würde.
„Ist es dir vielleicht unlieb, zu erfahren, dass ich weder dem Geburts- noch dem Geldadel entstamme?“, fragte der Sänger.
„Nein. So etwas kommt mir nicht bei. Du bist Künstler; das berechtigt dich, dich als uns ebenbürtig zu betrachten. Die Verhältnisse deiner Eltern kommen dabei natürlich nicht in Betracht. Es ist sogar, streng genommen, eine Ehre für dich, dich aus dürftigen Verhältnissen so emporgearbeitet zu haben.“
„Das denke ich auch. Es ist mir nicht etwa leicht geworden, den Schmutz der Vergangenheit abzuschütteln, und du wirst es sehr begreiflich finden, dass ich mich so viel wie möglich dem Gedanken an die Heimat zu entziehen suche. Der Brief, welchen du mir da vorgelesen hast, ist nichts weiter als ein Bettelbrief. Ich werde den alten Leuten einige Gulden schicken. Dann haben sie ihren Zweck erreicht und sollen mich nicht weiter belästigen. Ich werde dies ihnen sehr scharf empfehlen.“
„Hm! Wenn ich mir die Fassung des Briefes vergegenwärtige, so kann er mich rühren.“
„Mich nicht!“
„Sie machen dir nicht den geringsten Vorwurf, dass du nicht an sie denkst und ein üppiges Leben führst, während sie nicht das Notwendigste haben. Sie wünschen dir Glück und Segen und hoffen auf ein baldiges seliges Ende. Das ist wirklich rührend.“
„Redensarten! Meine Eltern haben keine Bedürfnisse. Sie sind bei trockenem Brot glücklich gewesen und können mit wenigem zufrieden sein. Sie haben gar keine Veranlassung, jetzt auf einmal höhere Ansprüche zu erheben.“
„Aber das tun sie ja auch nicht!“
„Nun, so mögen sie mich überhaupt in Ruhe lassen! Ich habe anderes zu tun, als mich mit den dortigen Verhältnissen zu beschäftigen. Mein Sinn steht nach Glanz, Ruhm und Ehre. Ich mag keinerlei Berührung mit dem Schmutz meiner Heimat haben. Die Eltern haben alle Zeit ihre Steuern und Abgaben entrichten müssen; sie haben jederzeit gegen den Staat und die Gemeinde ihre Schuldigkeit getan, und darum haben Staat und Gemeinde nun auch die Verpflichtung, für sie zu sorgen.“
„Das ist sehr kalt gesprochen; aber mich geht es gar nichts an. Ich bin dein Beichtvater nicht und habe nicht die Pflicht, dir eine erbauliche Rede zu halten. Es war mir nur interessant, zu erfahren, dass die Wurzel deines Glücksbaums in so armem Boden ruht. Nun begreife ich freilich, welche Anstrengungen es dich gekostet haben muss, dich emporzuarbeiten. Dein Vater ist jedenfalls ein armer Handwerker gewesen?“
Der Ton, welchen der Baron jetzt anschlug, machte den Sänger williger zur Antwort.
„Noch weniger! Er war Handarbeiter. Ein Stück Brot und ein Schluck Ziegenmilch dazu, das ist fast der ganze Inhalt unserer Speisekarte gewesen. Natürlich wurde ich zu ganz demselben Beruf erzogen.“
Er lachte dabei höhnisch auf.
„So bist du also ‚entdeckt‘ worden?“
„Ja. Ein hiesiger Professor der Musik hörte zufällig meine Stimme und nahm mich mit sich. Er bildete mich aus, soweit seine Kräfte reichten. Dann ging ich für einige Monate nach Paris, wo ich wieder ‚entdeckt‘ wurde, nämlich von dem amerikanischen Unternehmer, mit welchem ich dann unter Begleitung anderer Künstler durch die Vereinigten Staaten zog, von woher ich vor drei Wochen hier angekommen bin. Diese amerikanische Reise hat meinen Ruf begründet. Ich singe jetzt nur noch für goldenes Honorar und denke dabei natürlich nicht gern an die Zeiten zurück, in denen ich als Tabulettkrämer den Staub der Landstraßen aufwirbelte.“
„Tabulettkrämer? Donnerwetter, das ist famos; das ist romantisch!“
„Oh, es gibt noch viel romantischere Punkte in meiner Vergangenheit. Was würdest du zum Beispiel dazu sagen, dass ich einer der gefürchtetsten Wildschützen gewesen bin?“
„Du? Zuzutrauen wäre es dir!“
„Ich war es in Wirklichkeit. Keine Gämse verstieg sich zu hoch für mich und kein Abgrund war mir zu gefährlich. In der Dunkelheit der Nacht und auf Wegen, bei denen mir jeder Fehltritt den Tod bringen musste, stieg ich auf, und manches Mal bin ich, die schwere Beute auf dem Rücken, an Wänden abgestiegen, an denen kaum eine Fliege Halt finden konnte. Wenn ich daran denke, so möcht ich gleich nach dem Stutzen greifen und hinauf in die Berge, denn:
Aan Gamsl an der Wand
Und aan Punkt in der Scheiben,
Und aan Schatzerl an der Hand
Das ist mein Tun und mein Treiben.
Halloi droi droi dri!“
Er war vom Diwan aufgesprungen, stützte sich mit der Hand auf den Tisch und sang den Jodler mit einer Stimme und einer Verve, welche ihm das Lob des anspruchsvollsten Gesangskenners eingebracht hätte.
Aber der Burgunder wirkte noch immer, sodass der Sänger wankte und sich wieder niedersetzen musste.
„Verdammt!“, zürnte er. „Der Wein hat mich bei den Nerven gepackt. Das hätte mir früher nicht geschehen können. Damals hatte ich Eisendrähte anstatt der Nerven im Leib. Dem Krikelanton tat es keiner gleich, kein Einziger in allen Alpen.“
„Krikelanton? So hießt du?“
„So wurde ich gerufen. Wer ein Gamskrikel haben wollte, konnte es von mir bekommen, wenn kein anderer den Schneid hatte, es ihm zu beschaffen. Darum wurde ich nur der Krikelanton genannt und darum habe ich diesen Rufnamen in den Künstlernamen Criquolini umgewandelt. Eigentlich heiße ich Anton Warschauer.“
„Es ist mir, als ob ich früher öfters etwas von dem Krikelanton hätte erzählen hören. Es hieß, die Polizei verfolge ihn auf Schritt und Tritt, sie könne aber seiner nicht habhaft werden.“
„Das ist wahr. Sie war mir stets auf den Fersen, hat mich aber nicht bekommen, selbst damals nicht, als ich bei der Leni erwischt wurde. Ah, dieser Fluchtweg des Nachts über den Felsengrat! Das war ein kolossales Wagnis und ich glaube nicht, dass ich es heut wieder unternehmen würde. Man hielt mich für tot und hat lange, lange Zeit im Abgrund nach mir gesucht.“
„Du machst mich wirklich begierig, dieses Abenteuer zu erfahren.“
„Wenn es dir Spaß macht, will ich es dir erzählen. Ich befinde mich in der richtigen Stimmung dazu.“
„So tu es bitte!“
„Nimm dir erst eine Zigarre dort und bring mir auch eine! Meine Beine sind obstinat15 geworden; sie haben mir den Gehorsam gekündigt und ich muss nachher wirklich ein Schläfchen machen, um mich wieder in Ordnung zu bringen.“
Die Zigarren wurden angesteckt und dann begann der Krikelanton zu erzählen.
Aber er erzählte nicht nur von jener Nacht, in welcher er rettende Zuflucht in der Wohnung der dicken Dichterin gefunden hatte16, sondern er berichtete auch das weitere, sein Verhältnis zur Murenleni und seinen Bruch mit ihr, als sie gegen seinen Willen Sängerin geworden war.
Der Baron unterhielt sich sehr gut dabei, denn er erhielt dadurch den Stoff zur Ausführung gewisser Absichten, von denen er freilich nicht reden konnte. Was er hörte, diente leider nicht dazu, seine Achtung für den Sänger zu erhöhen.
Der Krikelanton war ein anderer geworden und doch war der eigentlichste Kern seines Wesens, seiner Individualität ganz derselbe geblieben. Kühnheit, Ausdauer, Rücksichtslosigkeit, Selbstsucht, das waren seine Grundeigenschaften gewesen. Die Leni hätte aus ihm einen braven Mann machen können und sie war auf dem besten Weg dazu gewesen, als er sich gewaltsam wieder von ihr losgerissen hatte. Das Glück war ihm freundlich entgegengetreten und hatte ihm äußerliche Erfolge gebracht, innerlich aber hatte er Schaden genommen. Sein Herz hatte sich verhärtet und sein Gefühl für das Bessere sich abgestumpft. Nur sich und sein eigenes Wohl im Auge behaltend, hatte er nicht nur die Geliebte, sondern sogar seine Eltern vergessen. Die gewaltigen Eindrücke seiner amerikanischen Reise, die dort errungenen Erfolge hatten ihm den Sinn für die schlichten Verhältnisse des Lebens getötet. Er hatte kein Verständnis mehr für die Heiligkeit natürlicher und moralischer Verpflichtungen und war nur noch Einflüssen zugänglich, welche mit ungewöhnlicher Stärke auf ihn wirkten.
Darum war die Liebe zu der braven Leni längst in seinem Herzen erstorben und an deren Stelle loderte nun eine wilde Leidenschaft für die Tänzerin, deren gleißende Erscheinung die glühendsten Wünsche in ihm erweckt hatte. Das ‚Glück‘ hatte seine besseren Eigenschaften erstickt und die schlechteren zur vollen Entwicklung gebracht. Dabei aber ist unter Glück nur der äußere Erfolg gemeint, denn das wahre Glück ist etwas ganz anderes, tief Innerliches.
„So!“, sagte er zuletzt. „Jetzt kennst du die interessanteste Episode meines Lebens und damit mag diese Vergangenheit für mich abgeschlossen sein. Der Teufel soll mich holen, wenn ich wieder an diese Dummheiten denke. Die Zukunft gehört mir. Ich will leben und genießen; ich habe den Willen, die Kraft und auch – – das Geld dazu.“
Er legte sich auf den Diwan zurück, als ob er von der ganzen Angelegenheit nichts mehr wissen wolle.
„Du könntest wirklich der Hauptheld eines Romans sein“, sagte der Baron. „Schade nur, dass du mit der Heldin desselben zerfallen bist. War diese Leni denn wirklich hübsch?“
„Nach meiner damaligen Ansicht, ja. Sie hatte eine prächtige Taille, einen vollen Busen, starke Waden, blitzende Zähne, kleine Hände, also mehr, als ein Wilddieb von seinem Mädchen vernünftigerweise verlangen konnte; jetzt aber besitze ich freilich einen ganz anderen, einen geläuterten Geschmack. Ein Weibsbild, welches nach Heu, Käse und Kühen duftet, würde mir jetzt Krampfanfälle zuziehen. Unter ‚schön‘ verstehe ich jetzt etwas ganz anderes als damals.“
„Sie interessiert mich dennoch. Wo mag sie sich befinden?“
„Ich weiß es nicht. Sie wird verschollen sein.“
„Schwerlich!“
„O doch. Sie nannte sich als Sängerin Mureni. Weißt du jetzt etwas von einer Sängerin dieses Namens?“
„Freilich nicht.“
„Also! Meine Vorhersagung wird eingetroffen sein. Sie ist an ihrem Trotzkopf zu Grunde gegangen. Ich möchte darauf schwören, dass ihre vollen Formen ihr Unglück geworden sind. Ihre Stimme war nicht übel; aber ihre geistigen Anlagen reichten zwar aus für eine Sennerin, keineswegs jedoch für die schwierige Ausbildung zur Künstlerin.“
„Die deinigen haben aber ausgereicht, obgleich du nicht mehr Bildung besaßt als diese Leni?“
Diese Frage wurde in freundschaftlichem Ton gesprochen, hatte aber trotzdem den Zweck, dem Krikelanton einen Stich zu versetzen. Er fühlte denselben auch, denn er fragte schnell:
„Willst du mich beleidigen?“
„Fällt mir nicht ein! Ich weiß ja, dass es ein Mann unter den ganz gleichen Vorbedingungen bedeutend weiter bringt als ein Weib. Es mag also sein, dass sie auf der untersten Stufe der Gesangskunst sitzen geblieben ist.“
„Und moralisch ist sie jedenfalls tiefer und tiefer gesunken. Als ich sie in jenem Konzert zum ersten Mal mit offenem Busen und nackten Armen sah, wusste ich sofort, dass sie damit den ersten Schritt zur Schande getan hatte. Von jenem Abend an war sie unrettbar verloren.“
„Hm?“, fragte der Baron lächelnd. „Du konntest also eine solche Entblößung nicht ansehen?“
„Nein. Auch heut noch nicht. Ein Weib, welches seine intimsten Reize in dieser Weise freigibt und veröffentlicht, flößt mir gradezu Ekel ein.“
„Und – Valeska, deine Tänzerin?“
Der Sänger errötete. Er suchte nach einer Antwort, fand aber keine passende.
„Ich möchte annehmen, dass die Leni sich dem Publikum bei Weitem nicht so gezeigt hat, wie die Tänzerin es tut!“
„Das ist etwas ganz anderes“, antwortete Criquolini. „Der Tanz hat den Zweck, durch charakteristische, harmonische Bewegungen irgendeinen Gedanken aus dem Reich des Schönen zur Anschauung zu bringen. Da ist es ganz selbstverständlich, dass die Formen der Tänzerin mit herbeigezogen werden müssen. Die Entblößung der betreffenden Körperteile hat also ihre völlige Berechtigung. Nicht so liegt es aber bei einer Sängerin. Die drallen Waden und fetten Arme eines Weibes haben mit der Kunst und dem Zweck des Gesangs gar nichts zu tun. Oder sage mir, ob zum Beispiel das Lied mit dem bekannten Schlussrefrain ‚Ihm hat ein goldner Stern gestrahlt‘ an Schönheit gewinnt, wenn die vortragende Sängerin dabei eine Taille trägt, welche bis zur Frechheit tief ausgeschnitten ist!“
„Das Lied bleibt freilich ganz dasselbe; aber wenn du offen sein willst, so wirst du es mir gestehen, dass du lieber eine Sängerin hörst, welche zeigt, dass sie nebenbei auch reizend ist, als eine, welche sich wie eine frierende Nonne verhüllt.“
„Ganz richtig! Aber bei meiner Geliebten muss ich mir das verbitten. Wenn dagegen die Tänzerin Trikots anlegt, so kann ich als Künstler nichts dagegen haben, folglich als Mann auch nicht. Mögen andre sehen, wie schön sie ist, wenn nur diese Schönheit mein alleiniges Eigentum bleibt.“
„Du magst ja Recht haben, obgleich ich der Ansicht bin, dass du gegen die Tänzerin weit nachsichtiger bist als gegen diese Leni. Nach allem, was du mir von der Letzteren erzählt hast, interessiere ich mich für dieselbe so sehr, dass ich wissen möchte, was aus ihr geworden ist und wo sie sich befindet.“
„Willst du sie aufsuchen?“, fragte der Krikelanton lachend. „Dann gut Glück dazu!“
„Vom Aufsuchen ist keine Rede. Ich habe anderes zu tun, als mich um eine untergeordnete Sängerin zu bekümmern; aber wenn ich sie zufällig träfe und sie meine Teilnahme merken ließe, so fragt es sich, ob ich nicht doch deine Eifersucht erregen würde.“
„Eifersucht? Papperlapapp!“
„Oho! Alte Liebe rostet nicht!“
„Diese ist aber gerostet. Und wenn die Leni mir als eine der bedeutendsten Künstlerinnen begegnete, so würde ich ihr doch nur zeigen, wie sehr ich sie verachte. Von einem Aufflammen der alten Liebe oder gar von Eifersucht könnte gar keine Rede sein.“
„Weißt du denn wirklich, dass sie verschollen ist?“
„Ja, ganz genau. Im vorjährigen Album ist ihr Name noch zu finden. ‚Signora Mureni, München‘ ist da zu lesen. Im gegenwärtigen Jahrgang steht sie nicht mehr. Ich habe mich gleich nach meiner Ankunft in Wien an ihre Münchener Adresse gewendet, um…“
„Also doch!“, lachte der Baron.
„Pah! Nicht aus Herzensinteressen, sondern nur, um überhaupt zu wissen, woran ich bin. Ich habe die Antwort erhalten, dass sie von dort spurlos verschwunden sei und niemand wisse, wohin; kein Mensch habe seitdem wieder etwas von ihr gehört.“
„Aber dennoch muss sie existieren, und zwar unter nicht ganz schlechten Verhältnissen.“
„Woraus vermutest du das?“
„Haben dir nicht deine Eltern soeben geschrieben, dass sie wöchentlich fünfzehn Mark von ihr erhalten?“
„Ah, daran dachte ich nicht. Sie lebt also noch, aber unter welchen Verhältnissen? Als Sängerin existiert sie ganz gewiss nicht mehr; wahrscheinlich verdient sie sich das Geld durch ihre Schönheit, welche nun wohl einem abgegriffenen Prachtband gleichen wird. Da ist es eigentlich eine großartige Beleidigung für mich, dass sie das auf diese Weise verdiente Geld meinen Eltern schickt. Das tut sie aus Rache. Ich werde mich also doch wohl nach dem Ort erkundigen, von welchem aus diese Unterstützung den Meinen zufließt. Sie dürfen es nicht annehmen!“
„Willst du sie ihnen nehmen? Dann müsstest du sie natürlich entschädigen, lieber Freund.“
„Das ginge dann aus meinem Beutel? Hm! Ich werde mir die Sache denn doch überlegen müssen.“
Der Sohn, welcher hier in Wien wie ein Graf lebte, wollte es sich überlegen, ob er seinen armen, alten, halb blinden Eltern eine für ihre mehr als einfachen Bedürfnisse hinreichende Unterstützung senden solle! So weit war es mit dem Herzen dieses Mannes gekommen! Sogar der Baron, welcher keineswegs ein großer moralischer Held, sondern vielmehr ein sittlicher Lump war, schüttelte den Kopf und sagte:
„Eigentlich ist das deine Pflicht. Nicht?“
„Möglich. Aber der Mensch besitzt eben glücklicherweise die Freiheit, zu wählen, ob er seine Pflicht erfüllen will oder nicht. Es gibt Pflichten, die einem höchst lästig werden können. Übrigens bin ich jetzt gar nicht disponiert, über so unangenehme Sachen nachzudenken. Mir brummt der Kopf und ich muss schlafen, um später wieder bei guter Laune zu sein.“
„Das ist natürlich für mich ein Fingerzeig, dich gütigst allein zu lassen. Nicht wahr?“
„Nimm es so.“
„Nun gut! Natürlich sehen wir uns heut wieder?“
„Ich hoffe es. – Was gibt es denn wieder?“
Diese Frage war an den Diener gerichtet, welcher abermals einen Brief hereinbrachte:
„Entschuldigung!“, sagte derselbe. „Ist soeben von einem Lakaien für Sie abgegeben worden.“
„Nimm du ihn!“, bat der Sänger den Baron, sich ärgerlich auf den Diwan ausstreckend.
Dieser Letztere nahm dem Diener, welcher sich dann entfernte, den Brief ab und betrachtete das Kuvert.
„Ein adeliges Wappen!“, sagte er.
„Ah! Welches?“
„Das sollte ich kennen. Wenn ich mich nicht irre, so ist es dasjenige des Kommerzienrats von Hamberger.“
„Kenne ihn nicht. Wüsste nicht, was er mir zu schreiben hätte. Es ist doch derjenige, zu welchem Graf Senftenberg heut Abend geladen ist?“
„Ja.“
„Bitte, öffne ihn und lies ihn mir vor!“
Der Baron öffnete und las:
„Sehr geehrter Herr!
Würden Sie sich, falls dieser Brief Sie persönlich antrifft, sich sofort nach dem Empfang desselben zu mir bemühen? Ich habe eine Frage an Sie zu stellen.
ErgebenstHesekiel von Hamberger.“
„Sonderbar!“, brummte der Sänger unwillig. „Er hat zu mir ebenso weit wie ich zu ihm.“
„Willst du etwa seiner Einladung nicht Folge leisten?“
„Ich habe wirklich keine Lust dazu. Was kann der Mann von mir wollen?“
„Wer weiß es? Es ist jedenfalls anzunehmen, dass er dich nicht eines Nichts wegen zu sich entbietet.“
„Zu sich entbietet! Das ist der richtige Ausdruck. Er befiehlt mich ja förmlich zu sich, wie ein Vorgesetzter seinen Untergebenen.“
„Das musst du ihm zugutehalten. Diese Herren haben sich an den kurzen Ton des Kontors gewöhnt.“
„Aber ich bin nicht sein Kontorist. Er fragt mich, ob ich mich sofort, hörst du, sofort nach Empfang dieser Zeilen zu ihm begeben will. Kann er diese Frage nicht in die Form einer höflichen Einladung, ich will nicht sagen einer Bitte kleiden? Muss er mich denn persönlich inkommodieren? Kann er mir das, was er mich fragen will, nicht gleich mitschreiben und es sodann mir überlassen, ob ich ihm die Antwort persönlich oder schriftlich geben will? Wer und was ist dieser Mann denn eigentlich?“
„Ein Millionär.“
„Trotzdem kann er ein großer Dummkopf sein.“
„Sehr verdient um die Industrie des Landes.“
„Ist mir gleich. Ich bin weder Eisenarbeiter noch Zigarrenmacher. Mich geht das nichts an.“
„Er sieht feine Gesellschaften bei sich.“
„Das ist eher etwas.“
„Verwendet viel Geld an die Kunst.“
„Das söhnt mich beinahe mit seinem Brief aus.“
„Sodann musst du beherzigen, dass Graf Senftenberg bei ihm verkehrt. Vielleicht hat dieser dich ihm empfohlen und du würdest ihn blamieren, wenn du nicht gingst.“
„Hm! Aber ich bin jetzt keineswegs in der Verfassung, mich so einem Herrn vorzustellen.“
„Trinke ein Selters!“
„Höre, du wirst mir langweilig. Du hast für jeden meiner Einwände eine Entgegnung.“
„Das sollte dich überzeugen, dass es nur gut ist, der an dich ergangenen Einladung zu folgen.“
„Wenn du in dieser Weise den Fürsprecher machst, so werde ich am Ende doch gehen.“
„Tu es! Ich begleite dich eine Strecke.“
„Gut. Das macht mich williger.“
Er stand auf und begann seine auf dem Diwan etwas in Unordnung geratene Toilette zu restaurieren. Der Lakai musste wirklich ein Selters bringen. Bei dieser Gelegenheit befahl er diesem, nach dem heruntergefallenen Ring zu suchen.
Der Diener gab sich alle Mühe, fand ihn aber natürlich nicht.
„So lass es jetzt“, sagte sein Herr. „Such, wenn wir fort sind, weiter!“
Der Lakai zog sich in das Vorzimmer zurück und bald war der Sänger zum Gehen bereit. Das Selters schien ihm wohlgetan zu haben. Er wankte nicht mehr und sein Körper erhielt nach und nach die verlorene Spannkraft zurück.
Er betrachtete sich noch einmal wohlgefällig im Spiegel und erklärte sich dann zum Gehen bereit. Schon wendete sich der Baron nach der Tür; da aber drehte er sich noch einmal zu dem Sänger, welcher ihm folgen wollte, zurück und sagte:
„Da fällt mir ein: Könntest du mir nicht einen kleinen Dienst erweisen?“
„Gern, wenn es mir möglich ist.“
„Es ist eine Geldangelegenheit.“
Der Baron beobachtete dabei die Miene seines Freundes mit gespanntem Blick. Dieser verbarg seine Überraschung nicht, sondern sprach:
„Aber, mein Bester, du hast doch in letzter Zeit ganz bedeutende Summen von uns gewonnen!“
„Das ist sehr richtig.“
„Du musst also doch bei Kasse sein. Du lebst zu splendid. Du musst dich mehr einschränken. Meine Gelder kann ich nicht angreifen. Vielleicht hilft dir der Graf aus der Verlegenheit.“
Über das lauernde Gesicht des Barons ging ein höhnisches und doch auch befriedigtes Lächeln, welches er aber schnell wieder unterdrückte.
„Wer sagt dir denn, dass ich mich in einer Verlegenheit befinde?“
„Nun, du!“
„Ich? Ich weiß kein Wort davon.“
„Du sprachst doch von einer Geldangelegenheit!“
„Das ist richtig; aber meinst du vielleicht, dass Angelegenheit mit Verlegenheit gleichbedeutend sei?“
„Ah! So hast du es anders gemeint? Das ist mir sehr lieb. Ich dachte, du wolltest borgen.“
„Und du hättest mir nichts geliehen?“
„Gern, wenn ich könnte; aber ich sagte dir bereits, dass ich über meine Gelder verfügt habe.“
„Nun, so beruhige dich. Ich stehe mich nicht so, dass ich meine Freunde in Anspruch nehmen müsste. Meine Güter bringen mir so viel ein, dass ich glänzend leben kann.“
„Trotzdem kann man einmal in augenblickliche Verlegenheit geraten.“
„Das wäre für mich sehr schlimm, da ich soeben die Erfahrung mache, dass sogar mein bester Freund mir in diesem Fall seine Hilfe versagt.“
„Pardon! Es gibt Zeiten, in denen man nicht kann, wie man will. Aber was hast du denn eigentlich mit dieser Geldangelegenheit gemeint?“
„Ich will tausend Gulden fortschicken, nicht per Postmandat, sondern per Kuvert. Ich brauche dazu Papiergeld und habe augenblicklich nur Gold. Darum wollte ich dich fragen, ob ich nicht bei dir das Gold in Papier umwechseln könnte.“
„Wenn es weiter nichts ist! Das können wir schon tun.“
Der Baron nahm seine Börse heraus und zählte die Goldstücke auf den Tisch. Dabei aber beobachtete er die Bewegungen des Sängers genau. Dieser zog ein kleines Schubfach, welches im Sockel der Stutzuhr angebracht war, auf und nahm einen darin befindlichen kleinen Schlüssel heraus. Mit diesem öffnete er ein Fach des Schreibtischs, welches ganz mit Geld angefüllt zu sein schien, und zwar mit Staatsanweisungen. Er nahm eine Note zu tausend Gulden heraus, legte sie dem Baron hin, nahm das Gold dafür, schloss dieses zu dem Papiergeld ein und hob dann den Schlüssel wieder in dem Uhrenkästchen auf. Das alles hatte der Baron gesehen und sein Gesicht leuchtete vor Befriedigung. Seine Absicht, zu erfahren, wie zum Geld des Sängers zu gelangen sei, war befriedigt worden.
Nun gingen sie.
Als sie in den Hausflur traten, kam ein junges, schönes Mädchen die Treppe herab. Sie war ihrem Anzug nach ein besseres Dienst-, vielleicht ein Stuben- oder Zimmermädchen. Der Sänger sah sie und blieb stehen. Wenn sie das Haus verlassen wollte, musste sie an ihm vorüber. Sie zauderte weiterzugehen, war dann aber entschlossen, ihren Weg fortzusetzen.
„Martha“, sagte er, indem er sich ihr in den Weg stellte. „Haben Sie sich das, was ich Ihnen sagte, überlegt?“
Ihr Auge flammte zornig auf. Sie wollte sich an ihm vorüberdrängen und antwortete dabei:
„Lassen Sie mich! Ich habe mit Ihnen nichts zu schaffen!“
Er aber ergriff sie beim Arm, hielt sie fest und rief lachend:
„Liebes Kind, ein Dienstmädchen darf nicht so zurückweisend sein. Es gibt ja Leute, welche einen Händedruck mit einem Gulden bezahlen.“
„Behalten Sie Ihre Gulden und lassen Sie mich los, sonst rufe ich Hilfe herbei.“
„Das wirst du nicht tun. Komm, ich muss dich küssen!“
Er wollte sie an sich ziehen und umarmen, da aber schlug sie ihm mit der geballten Hand ins Gesicht, dass er zurückprallte.
„Donnerwetter!“, fluchte er, ihren Arm noch immer festhaltend. „Du bist giftig. Nun aber wirst du erst recht geküsst.“
Er riss sie jetzt mit aller Kraft an sich, um seine Drohung wahrzumachen. Sie war nicht schwach gebaut, aber ein Mann ist stets stärker als eine weibliche Person. Ihre Kraft reichte nicht aus, sich von ihm zu befreien.
„Hilfe, Hilfe!“, rief sie laut.
Er ließ sie trotzdem nicht los und sie rangen miteinander. Der Baron stand dabei, ohne ein Wort zu sagen oder eine Hand zum Schutz des Mädchens zu rühren. Die Letztere wiederholte ihren Hilferuf.
Der Diener des Sängers trat eiligst heraus, fuhr aber schnell wieder zurück, als er sah, dass sein Herr es war, gegen welchen um Hilfe gerufen wurde.
Aus der Wohnung, die auf der anderen Seite des Parterres lag, kam niemand. Es schien niemand zu Hause zu sein. Aber oben auf dem Vorplatz zur ersten Etage ging eine Tür auf. Zwei weibliche Gestalten zeigten sich oberhalb der Treppe, eine ältere und eine jüngere. Diese Letztere zog, als sie die unter ihr liegende Szene überschaute, das Taschentuch hervor und hielt es so vor das Gesicht, dass es nicht zu erkennen war. Die Ältere eilte die Treppe herab, fasste den Sänger von hinten und rief zornig:
„Was ist das für eine Unverschämtheit! Wollen Sie gleich mein Mädchen gehen lassen! Sofort, sofort, sonst rufe ich die Polizei herbei.“
Jetzt ließ er los. Das Mädchen entfloh, er aber wendete sich an die Dame:
„Was haben Sie hier dareinzureden! Sie haben hier unten gar nichts zu sagen!“
Die Dame, deren behäbiges Aussehen auf gute Verhältnisse und einen liebenswürdigen Charakter schließen ließ, antwortete zornig:
„Das sagen Sie mir? Der Wirtin dieses Hauses und der Herrin des Mädchens? Ich will Ihnen darauf nur die Antwort geben, dass ich in meinem Hause Flegelhaftigkeiten nicht dulde. Sie ziehen aus! Sehen Sie sich schleunigst nach einer anderen Wohnung um!“
„Oho! Flegelhaftigkeiten?“
„Ja, das ist es. Ihr Betragen ist rüd und zuchtlos. Seit Sie bei mir wohnen, haben Sie uns nur bemerken lassen, wie ein junger, anständiger Herr nicht leben soll. Ich kann Sie nicht länger bei mir dulden. Ich wiederhole also meine Aufforderung, sich heut noch nach einem anderen Logis umzusehen!“
„Das ist brillant!“, lachte er. „So eine alte Schachtel, welche froh sein sollte, einen gut zahlenden Mieter zu haben, will mich fortjagen! Meinen Sie, dass dies so schnell geht? Sie haben mir zu kündigen. Verstanden!“
Die Dame wollte noch zorniger auffahren; sie beherrschte sich aber und entgegnete in ruhigerem, reserviertem Ton:
„Ich bedarf keiner Belehrung. Ob ich die Kündigung einhalte, kommt ganz auf die Verhältnisse an. Ich will nicht von den Orgien sprechen, welche Sie bis tief in die Nacht hinein in Ihrer Wohnung feiern, auch nicht von den zweifelhaften Frauenzimmern, die sich daran beteiligen; aber Sie haben nun bereits mit jedem hier im Haus engagierten Dienstmädchen angebunden, und heut vergreifen Sie sich sogar tätlich an dem meinigen. Das beweist, dass Sie ein gemeingefährlicher Mensch sind, welchen ich keinen Augenblick länger zu dulden brauche. Auf mein wohlberechtigtes Einschreiten hin beleidigen Sie mich mit schamlosen Schimpfworten. Ich könnte sofort zur Polizei senden, aber ich will jetzt noch darauf verzichten und Ihnen eine Frist stellen. Wenn Sie bis morgen Abend sechs Uhr meine Wohnung noch nicht verlassen haben, lasse ich Sie polizeilich entfernen und auch noch wegen des beschimpfenden Ausdrucks bestrafen, dessen Sie sich bedient haben. Richten Sie sich danach!“
Sie wendete sich um und stieg wieder die Treppe empor. Er sah die andere Dame oben stehen und fühlte sich riesig blamiert. Das brachte ihn aber keineswegs zur besseren Einsicht, sondern es erregte nur seinen Zorn:
„Ein Glück für Sie, dass Sie sich fortmachen“, rief er der Dame nach. „Wenn Sie sich nicht augenblicklich getrollt hätten, wären Sie mit den wohlverdienten Ohrfeigen bedacht worden!“
„Ah, Ohrfeigen?“, antwortete sie, stehenbleibend. „Das ist mir noch nie gesagt worden! Dieser Mensch ist noch viel gemeiner, als ich gedacht habe.“
Er sprang auf die Treppe zu und drohte:
„Nun aber schnell verschwinden, sonst…! – Morgen ziehe ich aus. Mit so einer alten Xanthippe mag ich nicht zusammen wohnen!“
Der Baron mochte befürchten, dass diese Szene sich noch mehr verschärfen könne. Darum trat er herbei, fasste ihn am Arm und bat:
„Komm! Erniedrige dich nicht! So ein Weib darf für unsereinen gar nicht existieren.“
„Hast Recht! Aber sagen muss ich es ihr.“
Sie gingen. Ihr Weg führte sie, da des Kommerzienrats Palais auf der Asperngasse stand, am Eingang der Praterstraße vorüber nach der Ferdinandstraße, in welche die erstere mündet.
Der Sänger war voller Ärger, nicht so sehr über den Zank mit der Wirtin als vielmehr deshalb, dass ihm sein Angriff auf das schöne Mädchen nicht so gelungen war, wie er es beabsichtigt hatte.
„Verdammte alte Hexe!“, brummte er. „Wenn sie nicht dazugekommen wäre, hätte ich mir ein paar Küsse geholt.“
„Was hättest du davon gehabt?“
„Das fragst du mich!“
„Natürlich. Für solche Küsse danke ich! Wenn ich sie nicht freiwillig und aus Liebe erhalte, so verzichte ich lieber darauf.“
„Aber hast du dir denn das Mädchen gar nicht angesehen?“
„Sogar sehr genau.“
„Nun? Was sagst du zu ihr?“
„Sie ist allerdings verdammt hübsch.“
„Nicht nur hübsch, sondern sie ist eine Schönheit, keine Mondschönheit, weißt du, sondern eine mit strotzenden Formen. Man möchte gleich hineinbeißen in diese süße, schwellende Frucht. Aber sie ist ein fester Charakter. Ich habe ihr alle möglichen Vorschläge gemacht, doch vergebens.“
„Ich kann dich nicht begreifen!“
„So! Bist etwa du ein Heiliger?“
„Gar nicht. Aber vorsichtig bin ich.“
„Pah, Vorsicht! Genuss, Genuss, das ist die Hauptsache!“
„Hast du nicht deine Tänzerin?“
„Ja, aber ein richtiger Jäger nimmt, wenn er Hochwild erlegt hat, auch noch einen Hasen mit, wenn er ihm in den Weg kommt.“
„Und die Blamage rechnest du nicht?“
„Nein. So ein Weib kann mich gar nicht blamieren. Sie soll sich einen andern Mieter suchen.“
„Wie? Du willst wirklich ausziehen?“
Das Gesicht des Barons nahm bei dieser Erkundigung den Ausdruck der Enttäuschung an.
„Ja, ich ziehe aus.“
„Das ist dumm!“, entfuhr es ihm.
„Warum?“
„Weil – – weil das Logis nicht übel ist.“
„Es gibt tausend ähnliche und noch bessere. Ich wohne möbliert, kann also jeden Augenblick fort. Ich bin übrigens überzeugt, dass der alte, grimmige Drache wirklich seine Drohung erfüllt, wenn ich nicht bis morgen ausgezogen bin.“
„Ich an deiner Stelle würde das abwarten.“
„Fällt mir nicht ein! Wer Ehrgefühl besitzt, mag mit solchen Personen nichts zu tun haben. Sprechen wir von etwas anderem! Du verkehrst also nicht bei dem Kommerzienrat?“
Als der Sänger von seinem Ehrgefühl sprach, glitt ein mitleidiges Lächeln über das Gesicht des Barons, welcher jetzt antwortete:
„Nein. Ich bin ihm noch nicht vorgestellt.“
„Willst du seine Bekanntschaft machen, so werde ich dich bei ihm einführen.“
„Die Bekanntschaft eines solchen Mannes ist immerhin erwünscht. Aber wie willst du mich bei ihm einführen? Du verkehrst ja selbst noch nicht bei ihm.“
„Werde aber Hausfreund werden; an meinen jetzigen Besuch wird sich natürlich ein intimerer Verkehr knüpfen. Es wäre mir sehr lieb, wenn du mir einen Wink in Beziehung auf den Charakter dieses Krösus geben könntest.“
In diesem Augenblicke kam eine Equipage herangerollt. Eine einzelne Dame saß darin.
„Schau!“, meinte der Baron. „Da hast du gleich die Kommerzienrätin, seine Frau.“
Der Sänger sah sich die Dame an und sagte dann, als sie vorüber war, im Weitergehen:
„Nicht übel! Zwar etwas aufgedonnert, hat aber das Aussehen eines liebenswürdigen Charakters.“
„Den hat sie auch. Man erzählt sich sehr viel von ihren Wohltaten. Sie ist Jüdin.“
„Das sieht man ihrem orientalischen Gesichtsschnitt an. Er ist natürlich auch Israelit, wie sein Name Hesekiel beweist?“
„Ja. Man sagt sich, dass er früher mit alten Kleidern gehandelt habe. Eine Geistesgröße ist er nicht, sondern ein Geldprotz.“
„So harmoniere ich nicht mit ihm.“
„Er wird sich nicht darüber grämen.“
„Ich glaube, dass ich mich nicht viel bei ihm einstellen werde. Bei solchen Menschen ist es ja nicht möglich, sich zu amüsieren.“
„Oh, was das betrifft, so sind grad die Salons dieses Kommerzienrats sehr beliebt. Er zieht wirklich nur feine Leute herbei und ist auch in eigener Person ein Gegenstand der Unterhaltung; nur darf man sich das nicht merken lassen, wenn man ihm willkommen sein will.“
„Wieso?“
„Nun, er hat weder Bildung noch Kenntnisse, hält sich aber für ungeheuer klug und belesen. Bei einem Gespräch über Kunst und Wissenschaft fühlt er sich in seinem Element und schießt dabei solche Böcke, dass man platzen möchte, da man ihm natürlich nicht in das Gesicht hineinlachen darf, sondern nicht nur ernsthaft bleiben, sondern ihm sogar Recht geben muss. Das vergrößert natürlich sein Selbstbewusstsein und so kommt es, dass er sich für einen Mann hält, dessen Urteil gewichtig in die Waagschale fällt. Du wirst es gleich jetzt erfahren, wenn du zum ersten Mal bei ihm bist. Lass dich durch seine Reden nicht verblüffen und lache ihn um aller Welt willen nicht aus, sonst lässt er dich hinauswerfen.“
„Kommt man denn bei ihm in gar so große Gefahr, in ein Gelächter auszubrechen?“
„Zuweilen, ja. Da ist die Asperngasse. Wir trennen uns. Wollen wir uns heut wiedersehen, so weißt du mich zu finden.“
„Vielleicht komme ich. Leb wohl!“
Sie reichten einander die Hand. Der Sänger ging in die erwähnte Gasse; der Baron aber schlenderte zurück, nach der Ferdinandsbrücke zu.
Er machte keineswegs ein vergnügtes Gesicht.
„Verdammt!“, brummte er für sich hin. „Ich hatte es so schlau angefangen, zu erfahren, wie man zu seinem Geld kommen kann. Es ist so leicht, es sich zu holen, und nun muss der Einfaltspinsel die Dummheit mit dem Mädchen begehen, sodass er nun gezwungen ist, sich ein anderes Logis zu suchen. Wer weiß, ob es in demselben ebenso klappt wie hier!“
Er warf den Stummel seiner Zigarre ärgerlich fort, blickte sich vorsichtig um, ob er beobachtet werde, und fuhr fort:
„Heut ist der letzte Tag, welchen er bleiben kann. Eigentlich sollte ich diesen zum Einbruch benützen; aber es passt nicht; ich muss also warten. Einstweilen habe ich den Ring. Er ist echt. Ich werde ihn gut verkaufen. Man sieht mir bereits auf die Finger. Man glaubt nicht, dass ich adelig bin und große Besitzungen habe. Ich werde also bald verschwinden, vorher aber noch einen tüchtigen Treffer machen. Valeska, die Tänzerin, muss mir dabei helfen.“
Der Gedanke an sie schien seinen Missmut zu verscheuchen, denn er lachte lustig auf.
„Das ist eigentlich brillant! Sie ist meine Konkubine und er ahnt es nicht. Er will sie sogar heiraten! Meinetwegen! Er mag es tun. Ich wünsche beiden Glück dazu, denn ich werde meine Rechnung dabei machen.“
Er zog den Ring aus der Tasche, steckte ihn an und ließ im Weitergehen den Stein in der Sonne funkeln.