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Nicht immer gehen die Einschätzungen der Karl-MayForscher über den Wert gewisser Werke des ‚Maysters‘ d’accord. Im Reprint Unter den Werbern von 1986 hatte ich die gleichnamige Dessauer-Geschichte als Talentprobe eines noch unerfahrenen Fabulierers bezeichnet und handwerkliche Mängel festgestellt.11 Der akribische, aber nicht unumstrittene May-Exeget Klaus Eggers meinte, meine Kritik würde den May’schen Intentionen nicht gerecht12, weil er in Mays Frühwerken eine Vorwegnahme späterer Motive und Themen des Oeuvres erblicken wollte. Tatsächlich sind beide Standpunkte durchaus miteinander vereinbar. Wenn man erkennt, dass May in seinen frühen Zeitschriftenveröffentlichungen logische und sprachliche Fehler unterliefen oder manche Figuren und Handlungsverläufe arg unglaubwürdig wirken, so kann man trotzdem Motive, Figuren und Techniken erkennen, die auf Späteres – und handwerklich Besseres – vorausweisen.

Eine Weile wurde unter den May-Kennern gern darüber debattiert, welche Teile etwa in den MünchmeyerRomanen vielleicht gar nicht von Karl May stammen. Auf seltsame Inkongruenzen in der Handlung der MünchmeyerErstausgabe vom Waldröschen wies schon Edmund-Kara Jendrewski hin; ob ein ganzes Kapitel im Erstdruck von 1882ff. fortgefallen sein könnte, darüber lässt sich nur spekulieren.13 Zweifel äußerte auch Walther Ilmer an der Authentizität des letzten Kapitels von Deutsche Herzen, deutsche Helden, das die Handlung leider keineswegs zu einem guten (oder wenigstens befriedigenden) Schluss bringt und das Hauptgeheimnis im Dunkeln lässt. Diskutiert wurde schließlich die Triest-Episode aus Der Weg zum Glück mit der Mädchenhändlergeschichte (heute in leicht ‚begradigter‘ Neufassung in GW Band 78, Das Rätsel von Miramare). Andererseits scheint hier jemand deutlich zeitgenössische Quellen, Reiseführer und ähnliches zu Miramare benutzt, gesichtet und ausgewertet zu haben – wäre das jemand anderem bei Münchmeyer zuzutrauen, wenn nicht Karl May selbst?

Für alle diese Überlegungen und Hypothesen gibt es Indizien, aber keine Beweise. Es mag auch sein, dass das Schreiben solcher Riesenromane den Autor May dermaßen überforderte (zumal er auch anderes parallel schrieb), dass seltsame Schlusskapitel oder Prä-Schlussepisoden ein Zeichen der Erschöpfung des Autors waren und kein Indiz für Einschübe von fremder Hand.

Das 10. Kapitel des Romans Der Weg zum Glück spielt in Wien, in einer ganz anderen Atmosphäre als die dörflichen Episoden um den Kerybauern oder den weiblichen Samiel (= die Kronenbäuerin Martha). Ein Grundthema, das den Roman durchzieht, ist die Frage nach der ‚wahren‘ Kunst. Viele Künstler stellt das Buch vor: die wahnsinnige (oder hellsichtige) Dichterin Franza von Stauffen, den genialen Geiger Fex (alias Curty von Gulijan), den Dichter und Lehrer Max Walther, den begabten Zeichner und Maler Johannes Weise. Besonders aber sind es zwei Gestalten, die den Leser fesseln: die Sennerin Murenleni und ihr Freund, der Krikelanton, Gamsjäger und Wilderer. Hier hat May eine Liebesgeschichte entworfen, die einmal nicht zu einem Happy End führt. Zwar beherrschen beide, Leni und Anton, in besonderer Weise die Kunst, mit ihren geschulten Stimmen zu begeistern, ja die Welt zu erobern. Während Leni (alias Ubertinka) sich aber der „Reinheit“ ihrer Kunst verschrieben hat und auch in ihrer persönlichen Lebensführung moralischen Grundsätzen streng verpflichtet bleibt, verfällt Anton (alias Tenor Criquolini) den Verführungen einer ausschweifenden Lebensweise (Wein, Weib und Gesang sozusagen) und den Einflüsterungen der üppigen Kokotte Valeska, die ihrerseits die Geliebte des Einbrechers Salek ist (was Anton natürlich nicht weiß).

Karl May hat ausführlich und einigermaßen detailverliebt das Leben Antons und seiner Ausschweifungen beschrieben; dabei gerät auch immer wieder Wiener Lokalkolorit ins Visier, trotz mancher kolportagetypischer Zeilenschinderei. Während der moralische Verfall Antons einerseits dazu führt, dass sich Leni von ihm abwendet und ihre Zuneigung einem moralisch höherstehenden Aristokraten, dem Grafen von Senftenberg schenkt, wird „Criquolini“ am Ende recht drastisch vorgeführt, wie tief er gesunken ist und dass er bloß das dumme Opfer eines dreisten Gaunerpärchens war. Mit dieser Hauptmotivik ist in der Wien-Episode eine zweite verbunden: Ein Verwandter Curty von Gulijans (des ehemaligen Fex) lässt Salek die Papiere Curtys stehlen, um ihn um seine Familienbesitztümer zu bringen. Auch diese Intrige wird von der Polizei unter tätiger Mithilfe des alten Wurzelsepps aufgedeckt und verhindert.

Wenn wir erstmals im Rahmen der Gesammelten Werke das Wien-Kapitel aus dem Weg zum Glück wieder im ursprünglichen Text vorlegen, so geschieht das in vollem Bewusstsein der kolportage- und genretypischen Schwächen und Fehler des Münchmeyer-Textes. Gleichzeitig wirft diese Episode auch ein bezeichnendes Licht auf die von Mays Zeitgenossen, etwa Hermann Cardauns, behauptete „abgrundtiefe Unsittlichkeit“ der May’schen Kolportage. Ja, May verlegte Teile seiner Handlung in den Bereich des sittlich Anstößigen, wobei außer den drastischen Beschreibungen des Rauschs, den sich Anton und sein (falscher) Freund Baron Stubbenau antrinken, kaum etwas wirklich die Gefühle der Leser peinlich berührt haben dürfte. Die Reize Valeskas werden z. B. für Münchmeyers ‚Wogende-BusenStil‘ geradezu dezent angedeutet. Alle diese ‚pikanten‘ Momente dienen aber bei May einer höheren Moral: Dekadenz ist Zeichen moralischer Schwäche, wahre Kunst aber untadelig. So ist das scheinbar Anstößige als Hilfsmittel im Dienst einer (allerdings auch ein wenig kitschigen) Kunstmoral zu verstehen.

Band 90 wird abgerundet durch zwei Bearbeitungen aus der Feder Franz Kandolfs, die seit den 1930er-Jahren nicht wieder neu aufgelegt wurden und daher gerade für diejenigen, welche an Editions- und Verlagsgeschichte interessiert sind, von besonderem Reiz sein mögen. Die damals in der Zeitschrift Das Vaterhaus erschienene Fassung der dem Verlorenen Sohn entstammenden Buchbinder-HeilmannGeschichte mit dem Titel Aus dem Kelch des Schicksals diente 1985 als Vorlage für einen Teil von Band 74. Dabei wurden allerdings die religiösen Anspielungen und einige typische Merkmale von Kandolfs Stil getilgt. Vom seinerzeit in der weniger bekannten Zeitschrift Illustrierte Roman-Woche abgedruckten Der Doppelgänger war den Bearbeitern von Band 74 nur der Titel bekannt, und dass es sich um eine ‚entflochtene‘ Episode aus dem Verlorenen Sohn um die beiden Köhlersleute und ihren Verwandten aus Amerika handelt, dessen Rolle zeitweilig von einem betrügerischen Verbrecher auf der Flucht übernommen wird.

Die Version in Band 74 unterscheidet sich deutlich von der hier abgedruckten Kandolf-Fassung des Jahres 1934, sodass der neue Band 90 auch hiermit den Kennern und Liebhabern der May’schen Werke Neues und Abwechslungsreiches bringt.

Christoph F. Lorenz

Verschwörung in Wien

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