Читать книгу Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3 - Karl Michael Görlitz - Страница 10

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DIE MÜHEN DER EBENE

Natürlich versöhnten wir uns wieder. Ich war noch durch mehrere Schwulenkneipen getingelt, nachdem Herby überhaupt nicht aufgetaucht war und hatte überall die gleiche Stimmung angetroffen, bis mir selbst die Öhrchen soweit herunterhingen, dass sie beim Gehen störten und ein Taxi nötig wurde.

Vielleicht war der Apotheker zu Rudi geeilt, um besser diesen zu trösten. Nicht zum ersten Mal hatte er mehr Interesse an Rudi als an mir gezeigt, Nein, nichts, nada! Von Empfehlungen des Vermissten ließ ich mich nicht noch einmal verleiten. Von wegen Berlin feiert am heiligen Abend wie Paris! Nie wieder eine derart niederschmetternde Erfahrung. Wenn schon allein, dann doch wohl besser eine Schlaftablette oder die Mitternachtsmesse, aber kein Abhängen in der Kneipe. Rudi hatte seinen Schock überwunden und zeigte sich erheitert über den reumütigen Bericht. Nur mit Räucheraal stand er ein paar Jahre auf dem Kriegsfuß, ebenso mit Lachs. Dabei hatte die Farbe ihm gut gestanden.

Silvester, seinen Geburtstag, hatten wir ebenfalls ohne nennenswerte Verluste überstanden. Eher im Gegenteil. Wir hatten die erste gemeinsame Party einigermaßen erfolgreich geschmissen. Kollegen, neue Bekannte aus Berlin, einige alte aus Düsseldorf, der Nachbar von oben und die von der Seite vorsichtshalber auch. Es war ein launiges Miteinander gewesen und hatte frühmorgens im Metropol geendet, der angesagtesten Disco jener Tage.

Anfang des Jahres kam auch Rosa für einige Tage. Noch hatte sie nicht den Entschluss gefasst, wirklich mit der Trinkerei aufzuhören, und so wurde es eine sehr fröhliche Woche. Besonders Herby zeigte sich entzückt und führte seiner alten Freundin das Berliner Nachtleben vor, nur zu gern auch ohne mich, damit er allein mit Rosas frechem Mundwerk prunken konnte. Es war wie immer. Rosa tingelte mit dem Pharmazeuten ihres Vertrauens und den Erzeugnissen der Pharmaindustrie im Handtäschchen durch die Bars, während Herby den Nachschub regelte. Einige Male schlief sie auch gleich bei ihm, da der Heimweg zu lang schien. Noch immer wohnte sie in der Düsseldorfer Geibelstraße, wovon, war leider nicht ganz klar. Mir nicht und ihr wohl auch nicht, wie es schien. Manchmal zerriss es mir schier das Herz, aber was konnte man machen, wenn jemand nicht gewillt ist, die Selbstdemontage zu beenden. Ich rannte mit Schuldgefühlen herum und machte mir Vorwürfe, nicht konsequent genug gehandelt zu haben. Von vorn herein hätte ich keine festere Bindung zulassen dürfen.

Jetzt hatten wir den Salat. Aber das sagt sich immer so einfach und ist in der Praxis so schlecht durchzuhalten, außer man besitzt ein Herz von Stein. Also war mir gar nicht wohl, und mir verblieb die einzige Möglichkeit, nämlich abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten. Ich selbst befand mich ebenfalls in einer kritischen Verfassung. Ohne chemische Krücken, wie allerlei Tranquilizer, kam ich selbst nicht mehr zurecht. So war ich heimlich ganz froh, als sie wieder abreiste und mich den eigenen Sorgen überließ, die auch nicht gerade klein waren.

Schon bald nahte Ostern und mit ihm auch Muttern. Vom Bahnhof Zoo ging es mit ihr direkt in die Mampe-Stuben. Die lange Zugfahrt hatte sie durstig gemacht, und nach einigen Cocktails dort, übersah sie gnädig die Dreckecken im gemeinsamen Haushalt, als wir endlich angelandet waren. In der Tat, es war noch einiges zu renovieren, aber der Rest sah schon ganz nett aus. Und auf ihrem alten Sofa fühlte sie sich fast wie zu Hause, besonders wenn sie ihren Home-Dress, die geliebte Kittelschürze, trug.

Sofort übernahm sie das Kommando und schaltete und waltete mit fester Hand. Wobei sie stets schalten und schelten verwechselte, aber am Steuer war sie ja nie besonders gut gewesen.

Ich hatte ja schon fast vergessen, mit welcher Energie geklagt werden konnte. Meine Zuneigung zu ihr war mit der Entfernung gewachsen, aber in natura kam sie gleich nach einem größeren Beben. Während sie, wie immer, über ihren Mann jammerte, den anderen Sohn schlecht machte und über die undankbare Tochter herzog, putzte und kochte sie, als wäre es ihr Haushalt. Ein neuer Staubsauger musste her und eine Waschmaschine blieb auch noch hängen. Vorbei die Zeiten im Waschsalon schräg gegenüber. Das war ja alles nicht so schlecht, nur die ewigen Klagelieder konnten unsereinen ihren Aufenthalt höchlichst verleiden.Und neuerdings hatte sie eine Art zu klammern entwickelt, die ziemlich unangenehm war. Sie belegte mich mit Beschlag, wo immer nur möglich, dass man das Gefühl kriegte, langsam in ihrer großzügigen Umarmung zu ersticken. Es war ja rührend, wenn sie morgens das Frühstück richtete und abends vom Dienst abholte, beziehungsweise in der Silberterrasse des KaDeWes auf mein Erscheinen wartete. Einzelne Abteilungsleiter grinsten schon, wenn sie uns beieinander sitzen sahen, oder blieben auf ein Wort stehen, um der eleganten Frau ein Kompliment zu machen. Dann lächelte sie strahlend und fuhr den Flirtmechanismus aus, wie ein alter Zirkusgaul beim Losschmettern der Trompeten.

Ja, das war ihre Welt, der überdimensionale Luxusschuppen und ihr Sohn, der so freundlich akzeptiert wurde, dass sie allabendlich um einige Zentimeter wuchs. Ich gönnte es ihr von Herzen. Von Anerkennung war ihr Lebenslauf nun wirklich nicht gerade überschattet gewesen. Der Ehemann und sein Sohn hielten sie schlichtweg für ein wenig unterbelichtet, obwohl sie irgendwie an ihr hingen, und die Tochter in Leipzig konnte ihren hohen Ansprüchen nicht gerecht werden. Natürlich eilte auch Jutta nach Ostberlin, um sich mit Mutter zu treffen und einige diskrete Scheinchen abzugreifen. Geizig war Mutter ja nie und insofern hatte sie nicht ganz so unrecht, wenn sie über die Undankbarkeit ihrer Brut klagte. Aber vom frühen Morgen bis zum späten Abend wurden die ewig gleichen Elegien zur Zumutung.

Als tibetanische Gebetsmühle hätte ihr eine große Zukunft offengestanden, aber da wollte sie leider partout nicht hin. Stattdessen klammerte sie sich an ihren so plötzlich über alles geliebten Sohn und ließ den unermüdlich laufenden Strom von Verurteilungen über dessen Haupt plätschern, Rudi inbegriffen. Selbst vor dem Fernseher versiegte er nicht. Ab achtzehn Uhr bot ihr das zweite Programm Ablenkung von den Grausamkeiten des Tages, die lustigen Mainzelmännchen mussten es unbedingt sein, vom ersten Programm hielt sie überhaupt nichts, da war sie von seltener Markentreue. Egal was lief, sie redete sich den Ärger vom Herzen, während sie sich langsam mit Sekt vollsog wie ein trockener Schwamm. Es war zum Verzweifeln! Nachrichten und Fernsehspiele kriegte man nicht richtig mit, weil sie nicht aufhörte zu reden. Sich zu entfernen, um ein Buch zu lesen, grenzte an Hochverrat.

Kein Wunder, dass ich die shoppingmüde Frau am Abend ins Theater oder Kino schleppte, wo sie gezwungenermaßen ihren Redefluss eindämmen musste. Oper war dafür gut, ganz ausgezeichnet sogar, weil sie so lange dauert, ganz besonders die Werke von unserem geliebten Richardle. Anfangs zischten die Leute wütend, wenn sie einen halblauten Kommentar flüsterte, und erschrocken fügte sie sich und blieb stumm. Ruhe und Frieden, während auf der Bühne die Götterdämmerung krachte, dass sich die arme Frau in Reihe eins gelegentlich die Ohren zuhalten musste, um der fürchterlichen Plautzmusike (O-Ton) zu entgehen.

Dafür kriegte sie spätabends noch ein feudales Abendessen in einem der gehobenen Restaurants im Umfeld des Theaters, wo sie mit dem Kellner flirten konnte und kein Fernseher bei der Nahrungsaufnahme störte. Das blieb auch bei späteren Besuchen so, obwohl sie viel lieber zu Hause beim Zwoten gesessen hätte, um das Fernsehspiel der Woche nicht zu begreifen.

»Ich gomm da gar nich rin!«, war ihr beliebter Kommentar dazu. Was Wunder auch, wenn ihre Gedanken wieder einmal bei der Geldverschwendung des Gatten weilten. Da half nur noch Flucht. Besonders, nachdem sie mir wiedermal den Vorschlag, uns den Haushalt zu führen, unterbreitet hatte. Hilfe - rette sich wer kann!

Von ihrem Ehemann hielt sie nicht mehr viel und redete ständig über Scheidung - und ihre Bereitschaft, sich den Kindern zu opfern. Niemand wollte ihr Opfer, zumal sich in Nullkommanichts die Verhältnisse gewendet hätten. Schon so kriselte es genug zwischen Rudi und mir, gemeinsam mit Mutter wäre ich ihn im Handumdrehen wieder los. Und niemand im Leben wäre noch bereit, mit mir jemals zusammenzuziehen. Der Typ mit Mutti!

Und am schlimmsten war die Klammerei. Keine fünf Minuten konnte sie allein bleiben, stets auf der Suche nach Gesellschaft. Ich höre noch immer das ständige:

»Was machste denn gerade???«

»Mutter, ich sitze gerade in der Badewanne und onaniere.«

»Muss das denn gerade jetzt sein, ich hab mir doch ooch mein ganzes Leben den dreckchen Säx verkniffen!«

Och nö, lieber nicht. Bei ihr durfte sich nur der Hund verlustieren, der schließlich natürliche Reflexe besaß - Menschen eher nicht, das war selbstverständlich Schweinkram.

Also flohen Rudi und ich am Ostersonntag in die Disco, nachdem die Grundgute endlich schläfrig geworden war und sich ins Heiabettchen trollte.

Es wurde eine lustige Nacht, zumal ich einige Helferzellen, aus Rosas Vorrat, abgezweigt und verwahrt hatte. Natürlich nur zu Testzwecken. Wurde ich immer noch depressiv? Nein, diesmal war ich wieder vorschriftsmäßig munter geworden. Supermunter sogar! So munter, dass wir bis zum Morgen durchhielten und anschließend noch in den falschen Bus stiegen, der nur bis Tempelhof fuhr. Das fanden wir dermaßen komisch, dass wir lachend am Platz der Lustbrücke noch eine offene Kneipe aufsuchten, um ein offenes Wort miteinander zu reden, was ungefähr bis Mittag dauerte.

Zu Hause war dann Polen offen, denn Mutter kreiste schon seit neun um den festlichen Frühstückstisch, und die Ostereier waren längst kalt geworden. Mufften eben neue in den Offen. Ein biffchen nuschelten wir schon und Rudi war todmüde, während ich immer noch sehr lebendig war.

Es war ein Frühlingstag wie im Bilderbuch, die Sonne lachte hinter den Gardinen, die sich nicht aufziehen ließen, weil sonst auch die ungeputzten Scheiben zum Vorschein gekommen wären. Das ließen wir mal besser zu, vor allem schmeichelte das diffusse Licht viel mehr dem Teint. Wenn sie Sonne haben wollte, konnte sie ja auf dem Balkon sitzen, wir brauchten sonne olle Sonne nicht. Wir waren mehr für Bierlaternen und gedämpftes Licht. Am besten stark eingedämpffft. Nun seiet nicht gar so ungehalten, werte Frau Mutter, schließlich ift Ostern! Und darüber sollten wir unf freuen. Ffreue dich, jesaja, denn fiehe, der Frühling ist gekommen und läfft sein blaues Band flattern über Berg und Pfand.

»Du solltest wohl besser ins Bett gehen!« Wifo?? Immerhin hatte ich doch erst ein Brötchen verzehrt und ein Ofterei, ein kaltes Hartes, und kein warmes Weiches. Ich hasse harte Eier, seit ich als Kind einmal zwei Dutzend gefuttert habe. Igitt! Wo ich fo um Weiche gebeten habe, jeftt waren sie innen grün, wie die Heide. Heide witzka. Heia. Helau.

Ich überdaffte noch einmal den Forschlag. Heiabettchen war nicht schlecht zum Abchillen. Ich brauchte Schlaf, genau, das war der Menschheit Abchillesferse. Eine Mütze Schlaf. Und das war überhaupt kein Problem, dank Prinzessin Valium, in deren Armen sich ganz ausgezeichnet träumen ließ.

Schloss Gerhus im Grunewald war die eleganteste Adresse für ein festliches Menü.. Wer auf sich hielt, feierte dort seine Hochzeit. Und Mutter hatte einen Fisch, äh, Tisch bestellt. Für wann?- 19 Uhr! Mann Mutti, ist das nicht ein bißchen früh? Anständige Berliner gingen nicht vor 20 Uhr, nur Provinzgänse futterten um diese Zeit!Das hieße ja, spätestens um Sechs reisefertig zu sein und das würde aber knapp mit dem Abend-Makeup. Nun aber flott in die Daune gewickelt. Am besten nahm ich gleich drei von den winzigen Dingern, das bringt sofort wieder runter.

Ich fiel in den Schlaf wie in einen endlosen Brunnen. Ganz unten stand Mutter im Brautkleid mit Schleier am Herd und briet Gesottenes - was immer das auch war. Langsam verstummte der Brautchor aus Lohengrin und ich sang: »Das holde Lied verhallt. Wir sind allein. Zum ersten Mal allein.«

Mutter hielt mir drohend den Pfannenwender unter die Nase. »Was wills'dn damit saachen?«

Ich stutzte im Traum. Im Traum war ich genau so schwer von Begriff wie im realen Leben. » Wees ich ooch nich!«, antwortete ich deshalb.

Und dann fiel mir wieder ein. Pfannenwender – das wars. Der fehlte uns noch! Die beschichtete Pfanne war schon ganz zerkratzt. Erst neulich hatte ich im hohen Hause davor gestanden und hatte überlegt, gleich einen neuen Tiegel mitzukaufen. Der First-Class-Preis der Bratpfanne hatte mich vom Spontankauf abgehalten, und genau so spontan hatte ich den kleinen Helfer vergessen.

Tieglein, Tieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?- Mutti natürlich! Als Kind hatte ich andächtig zu ihr gesagt: »Wenn ich einmal heirate, muss sie aber mindestens genau so schön sein wie du.« Wie oft hatte sie diese krasse Fehleinschätzung herumerzählt. Wieder und wieder, und nun hielt sie mir den Tiegel entgegen, in dessen blanken Boden sich mein angstverzerrtes Gesicht spiegelte. Dabei tropfte völlig ungeniert das gesottene Gebratene auf den schwarzweiß gekörnten Terrazzoboden der Küche, wo es zerspellte. Hartgesotten!

»Ich bin immer für dich da, mein Sohnemann, unn ich führ dir's traude Heem.«, trällerte sie dazu und reimte weiter: »Mitt'n Säx, daß laß mer sein, denn da guggen wer erschma, unn dann machen wir uns Zwee, unn dann machen wir uns Zwee im Leehm ma so richtsch schön bequem.«

Oh Mutter, nicht einmal das Versmaß stimmte, und das sagte ich ihr auch. Und plötzlich schwoll sie an, wie ein wütender Flaschengeist, und ragte drohend in den unendlich schwarzen Himmel. Auch ihre Stimme schwoll mit und dröhnte wie der Bass im Metropol, der nicht nur im Magen vibrierte.

»Jetzt wär ma nich so frech, mei Klääner!«

Wie eine verlangsamte Tonspur wurde ihre Stimme zum tiefen Bass und ich war bass erschrocken. Ich versuchte zu fliehen, jedoch das Hartgesottene am Boden wollte mich nicht ziehen lassen und zog seinerseits, bei jedem Schritt, der wie in Zeitlupe erfolgte, gummiartige Fäden aus dem wirbelnden Muster des Fußbodens. Das ehemals gleichmäßige Terrazzo-Dessin aus schwarzen und weißen Punkten ordnete sich, nach wilden Pirouetten, immer wieder neu und erstarrte dann für einen Moment zu einem anderen phantastischen Horrorbild. Höhnische Fratzen, bleckende Mäuler, Lippen von denen der Schaum troff. Uuuaah - in welchem Film war ich denn hier gelandet?

Die Bilder wechselten in immer schnellerem Rhythmus, bis der ganze Boden flackerte und die Einzelbildschaltung nicht mehr erkennbar war. Als würde der Boden brennen!

Nein! Es brannte tatsächlich, und nicht nur unter den Nägeln - auch unter den Füßen. Und der Boden wurde mir zu heiß und ich kam nicht richtig weg und der Schatten über mir drückte meine Kehle zu und mich würgte eine Hand, die mir gänzlich unbekannt. Und mein wilder Schrei erscholl:

»Mann, hab ich die Nase voll!!« Und von oben dröhnt es mit Gedröhn: »Komm, wir machen uns jetzt schön!»

Blitzartig war ich wach, herausgerissen aus dem Sekundenschlaf. Aber der Alp hielt an.

»Komm, wir wollen uns doch ein bisschen nett machen, steh auf.«

Auf Normalgröße geschrumpft, oder war sie noch etwas kleiner geworden, stand Mutter am Lager und trieb zur Eile. Der Wecker hatte noch nicht einmal geklingelt und zeigte stur auf halb Vier. Rudi stellte ihn regelmäßig etwas vor, damit wir ja nicht zu spät zur Arbeit erschienen. Also war es gegen Drei.

Na Hilfe, was hatte die Frau denn nun schon wieder vor? Wollte sie etwa zu Fuß in den Grunewald, im Sturmgepäck noch ein paar Hardeggs als Wegzehrung? So schön konnte man sich in den drei Stunden bis zum Abmarsch doch gar nicht machen, bis dahin war meine dezente Gesichtsbräunung schon längst wieder überholungsbedürftig. Mutter legte ohnehin nur Lippenstift auf, nicht einmal Wimperntusche. Die Basedowaugen und für immer ausgezupften Brauen verbarg sie hinter einer dunklen Brille, wie Heino.

Hat man in diesem Haushalt denn nie seine Ruhe?

»Komm Mimi, mach schon, sei lieb und steh auf!«

Wenn sie mich mit meinem alten Kosenamen aufs Betteln verlegte, hätte sogar Lazarus nicht widerstehen können und wäre geflohen. Also erhob ich mich auch und wandelte. La Somnambule von Bellini war geradezu ein Ausbund von Fröhlichkeit gegen mich und Zombies ein Haufen ausgelassener Kinder. Herr Romero wäre begeistert gewesen. Sollte ich mir Pflaster auf die Lider kleben, damit die Augen offenblieben? Ständig fielen sie wieder zu. Ich schaffte es bis zum Sofa. Dort sank ich nieder, was weniger feinfühlige Autoren als Plumpsen geschildert hätten, um noch ein halbes Schläferstündchen mit Morpheus zu vertändeln.

Was soll ich sagen, um halb sieben war ich tatsächlich in Hemd und Krawatte, und zur vollen Stunde auch in der Hose. Mutter kämpfte derweil mit Rudis Unterstützung gegen einen leichten Nervenzusammenbruch. Noch im Taxi murmelte sie unzusammenhängendes Zeug wie:

»Ja noch nie erläbt... Transuse... hochheiliger Festtag... bin ich nicht schon gestraft genug...«

Sie beruhigte sich erst wieder, als wir durch die Halle des Restaurantschlosses schritten, die nicht annähernd so pompös wirkte wie im Reiseführer. Zwar führte eine beeindruckende Treppe schräg nach oben, aber der Gesamteindruck war eher muffig.

Dunkles Holz, dunkle Vorhänge, verräucherte Tapeten. Ein wenig Frische hätte hier wohl gutgetan. Hoffentlich war das, was hier auf den Teller kam, nicht auch so gut abgehangen, wie das Ambiente.

Im eigentlichen Restaurant herrschte gähnende Leere. Die vier oder fünf besetzten Tische änderten daran nicht viel. Warum nur hatte der Manager einen solchen Aufriss bei der Vorstellung gemacht? Der Mann hatte so getan, als könnte er nur mit Mühe noch einen Platz im Saal vergeben. Selbst jetzt musste er in einem gewaltigen ledergebundenen Journal nachblättern, wo er unsere Wenigkeit platzieren sollte und führte uns anschließend zu einem Tisch, der Mutter prompt missfiel.

Sie wollte ans Fenster, und so wie es aussah, sprach wenig dagegen. Wieder musste der Mann in seiner Hausbibel nachschlagen und studierte sie geraume Zeit, bis er zustimmend nickte und den verlangten Tisch gewährte.

Hatten die einen Knall hier, wie unliebsame Pauschaltouristen sahen wir wohl kaum aus. Mutter war, wie immer, geradezu die Verkörperung städtischer Eleganz. Mittlerweile hatte sie zu einem Stil gefunden, der zeitlos war, aber mit edelsten Materialien und schlichten Schnitten punktete. Anziehen konnte sie sich, auch wenn sie sonst nicht viel beherrschte.

Kellner knickten sofort ein, wenn die kostbar Gewandete erschien. Dieser hier war offensichtlich blind. Altersschwäche und Blindheit gehen nur zu oft Hand in Hand, und dieser hier träumte wohl noch immer von Romy Schneiders Hochzeit hier im Hause, oder was sonst noch an Prominenz erschienen war. Hallo, die Dame war längst tot und die Dame vor ihm kurz davor, zu explodieren. Die einstündige Verspätung war ja wohl hinnehmbar in dieser Ödnis.

Er stolzierte voran mit gravitätischen Schritten, drei majestätische Speisenkarten im Arm, die am gewünschten Platz niederlegte, als enthielten sie unseren Adelsbrief. Danach zog er sich zurück, wahrscheinlich in den Ruhestand, denn fortan ward er nicht mehr gesehen. Sieg und Platz für cher Maman.

Ein Kellner eilte herbei und nahm die Vorbestellung für den Apperitif entgegen, gleichzeitig leierte er die Empfehlung der Küche herunter. Wir winkten ab. Was dringend weg musste, brauchte nicht unbedingt in unseren Mägen zu landen. Lieber etwas von der Karte. Rudi schien enttäuscht, wieder mal kein Sauerbraten zu finden. In fast jedem Restaurant bestellte er dieses Gericht, sofern es auf der Karte stand, und jedesmal war er unzufrieden mit der Qualität. Rheinischer Sauerbraten gehört nun einmal nicht nach Berlin. Was Wunder, wenn das Fleisch nicht lange genug eingelegt wird, so dass es jedesmal wie ein gewöhnlicher Rinderbraten mit saurer Soße daherkommt.

Rudi wollte es einfach nicht glauben, genau so wenig, wie das mit den dunklen Socken in der weißen Kochwäsche. Beratungsresistent! Mittlerweile zuckte ich nur noch mit den Achseln, wenn er rheinisch anfing, und vielleicht fand er ja eines Tages ein Lokal, wo der Braten mundete. Bis dahin kochte ich ihm zu Hause gelegentlich sein Leibgericht, welches er allerdings allein verzehren musste, weil mir davor grauste. Dieser Mann mit seiner Vorliebe für Essig! Im Osten Soljanka und Rotkohlsalat, im Westen Sülze und Sauerkraut. Beim Chinesen Schweinefleisch süßsauer. Und beim Italiener alles, was nur im entferntesten mit Tomate zu tun hatte. Man konnte die Uhr danach stellen, so zuverlässig äußerte er seine Wünsche. Immerhin besaß er mittlerweile tadellose Tischmanieren, wir hatten auch fleißig geübt.

Seltsam, nie so müde gewesen wie heute. Hatten die nicht auch Hotelzimmer hier, mit breiten Betten? Träumen, vielleicht auch schlafen. Wie Prinz Omelett. Wo waren wir noch gleich? Ach ja - die Speisenkarte!

Mutter wählte Kalbsleber, da war sie genau so berechenbar, Rudi Filetgulasch Stroganoff mit Gürkchen und eingelegten Silberzwiebeln, und ich Osterlammrücken. Vorneweg eine Fasanenconsommé. Mutter zahlte ja. Mutter trank Sekt, wir gewöhnliches Bier, was mit leichtem Naserümpfen zur Kenntnis genommen wurde. Mann, waren die doll hier. Sogar für ein Couvert war mit eingedeckt worden, der neuesten Unsitte in der gehobenen Gastronomie, weil sie gnadenlos berechnet wurde. Brot und Butter zum Zeitvertreib, während man zwanglos auf das Vorgericht wartete. Ein Messerchen auf einem Tellerchen macht Fünfmarkfuffzig, und niemand wagte, den Unsinn zurückzuweisen. Sollte ich? Wohl lieber nicht, unsere Dame am Tisch war schon ungnädig genug.

»Eine Lady Curzon noch für mich!«, herrschte sie den Kellner an, so dass dieser leicht zusammenzuckte. Jaa - wir können auch anders.

Leider verspielte Rudi den kleinen Heimvorteil gleich wieder, in dem er nach Soljanka fragte. Die russische Restesuppe in diesem Montsalvat der Gourmandise! Hätte er wenigstens nach dem Gral verlangt! Der Ober war merklich erschüttert. Wankte das Gebäude, oder kam es mir nur so vor? Es schien in sanften Wellenbewegungen zu schaukeln - ach nein - das war doch eher die Servierkraft, in den Grundfesten tödlich getroffen, die Serviette über seinem Arm zitterte merklich. Man einigte sich auf Tomatensuppe mit Gin und Sahnehäubchen. Nachtisch würden wir später ordern. Mit einer leichten Verbeugung und Segenswünschen für unser restliches Erdenwallen zog sich der Ober zurück. Stille. Aah- !

Ach ja, Gin und Sahnehäubchen. Damit kriegt man jede Dosensuppe fit. Mutters Schildkrötensuppe à la Lady Curzon trug selbstverständlich auch eines und kam ebenso selbstverständlich aus der Weißblechpackung wie Rudis Tomate. Arme Lady, was war nur aus Eurer berühmten Suppe geworden. Aus Vergnügen hatte ich einmal das Originalrezept gelesen und versuchte Mutter damit zu unterhalten. Erst erfreute ich sie mit dem genauen Schlachtvorgang, mit Ausbluten und Abhängen. Danach amüsierte ich sie mit der Herstellung von Schildkrötenwürstchen, die unbedingt hineingehören, und dem Aufbrechen des Panzers und der Entnahme der Innereien.

Sie winkte ab. Damit war sie nicht zu erschüttern, schließlich hatte man auf dem Land gelebt. Aber eines erstaunte sie dann doch, dass der Panzer nicht mitgekocht wurde, so wie Knochen in der Brühe. Die Kraft steckt doch in den Knochen, hatte sie mich stets gelehrt. Flugs schaltete ich um und erklärte ihr, die gallertartige Minimaleinlage von Schildkrötenfleisch auf dem Dosengrund, sei exakt nichts anderes, als in drei Tagen weichgekochte Panzerung. Was sie wiederum nicht glauben wollte.

»De Gnochen in där Subbe wärn ooch nich weech!«, meinte sie ganz richtig, aber mein Widerspruchsgeist war geweckt.

»Nach drei Tagen schon, Mutter, am besten, du probierst es zu Hause einmal aus.«

Weiterhin erklärte ich, diese Hauptzutat für die Turtlesoup schlicht vergessen zu haben, aber mit Kalbsknochen könne sie unbedenklich einen Versuch starten, da dieselben schon nach zwei Tagen unvergleichlich zart gerieten.

»Mike, das habb'ch ja noch nie geheert, du spinnsd wie immer.«

Aber ich blieb ernst und Rudi griente verstohlen. Das verunsicherte sie tatsächlich, und während sie einen langen Monolog über Brühe und das Kochen derselben ansetzte, nickte ich hin und wieder ein, zufrieden, Mutters wachen Verstand eine angemessene Aufgabe geboten zu haben. Unterbrochen wurde ihr Gedankengang nur durch das Nahen des Obers, der ähnlich gemessenen Schrittes herbeieilte wie sein Maître, welcher befürchten ließ, dass die Suppe, die er auf dem Serviertablett balancierte, bei ihrer Ankunft endgültig erkaltet war.

Aber sie kam mit Stil. In silbernen Serviertassen, die mit altmodischer Grandezza vor dem Gast in die bereitstehenden Teller befördert wurden. Mit einer eleganten Drehbewegung glitt die dünne Flüssigkeit geräuschlos in den Porzellanteller, dass es eine Freude war. Seit meinen Kindertagen hatte ich das altmodische Prozedere nicht mehr erlebt.

Nur Mutters Schildkröte kam in der vorgeschriebenen winzigen Tasse, auf welcher überdies noch eine Abbildung zu sehen war.

Wider Erwarten war alles heiß geblieben, die Teller waren so gut vorgewärmt, dass man sich die Finger fast noch verbrennen konnte. Toll!

Natürlich fragte Mutter den Kellner, ob der Panzer bei der Herstellung mitgekocht wurde. Das war zu befürchten gewesen, und natürlich wusste der gute Mann keine schlüssige Antwort darauf, zeigte sich aber bereit, in der Küche nachzuforschen, bevor er weiterpreschte. Ob er wohl an diesem Abend mit einer Antwort zurückkehren würde?

Die Fasanenconsommé erwies sich als sehr blass und sah mächtig dünn aus. Rudis Sahnehäubchen war untergegangen, nur eine helle Schliere zog durch das dunkle Rot. Der Kellner war auch noch nicht sonderlich weiter gekommen und ich sinnierte klug vor mich hin. Eigentlich könnte man gravitätisch auch mit 'f' schreiben. Maje- stetisch, grafitätisch, herzoglich. Weiter kam ich nicht, denn plötzlich wurde mir heiß. Sehr heiß sogar und besonders im Gesicht. Kein Wunder, lag ich doch mit dem Kopf in der Fasanenbrühe. Als lebende Einlage sozusagen, und als ich mich schleunigst wieder herausfischte, war die Suppe auch nicht mehr so jämmerlich blass, dank des dezenten Brauntons, der bis dato meine slawischen Wangen zierte. Ich hingegen schon, bis ein gesundes, natürliches Rot aufzog. Teils von der heißen Suppe und teils vor Verlegenheit. Fassungslos starrte mein mütterliches Gegenüber und leider nicht nur die. Das Platschen, mit dem mein stolzes Haupt in Consommé und kurzen Schlaf fiel, war auch an den Nebentischen registriert worden.

Au weia! Das war aber nun wirklich peinlich. Rudi unterdrückte mit Müh und Not einen mittelschweren Lachanfall. Er war schon fast so rot wie eine Tomate und ich brauchte keinen Spiegel, um zu sehen, dass ich ihm nacheiferte. Gut, dass ich ein Taschentuch aus Stoff mitführte und die Brühe so dünn gewesen war. Nicht auszudenken, was mir mit mit einer geeisten Gurkensuppe passiert wäre. Entweder ich hätte noch eine Weile seelig geschlummert oder für die Schlagzeile GAST IN SUPPE ERTRUNKEN gesorgt.

Mutter starrte immer noch, als hätte sie eine Erscheinung, und es dauerte ein Weilchen, bis sich langsam ihre Lippen aufeinander zubewegten, bis sie einen waagerechten blutroten Strich bildeten. Danach holte sie tief Luft und legte los. Ersparen sie sich und mir die Worte der geflüsterten Suada, die sich nun über mich ergoss. Sie zischte wie ein Dampfdruckkochtopf, der kurz vor der Explosion steht, oder besser gesagt, wie eine alte Lokomotive, die Überdruck ablässt. Lokomotive Leipzig. In ihrer Erregung vergaß sie sogar hochdeutsch zu schimpfen, wie sonst, wenn sie sauer war. Wie konnte man nur leise so laut keifen, so dass der ganze Raum es mitkriegte. Piano, piano! Auch so war das Ganze schon peinlich genug. Mir jedenfalls. Flucht war sinnlos. Und so löffelte ich brav die Suppe, die ich mir selbst eingebrockt hatte, bis zum letzten Quentchen aus. Ohnehin sah sie jetzt viel appetitlicher aus, man merkt doch gleich, was ein bisschen Farbe ausmacht. Farbe bringt Farbe ins Leben, befreit vom grauen Alltag.

Ich wünschte, ich wäre gar nicht hier, weit fort, am besten dort, wo die Sonne, die farbenprahlende - äh, prangende ... Ich war wieder eingeschlafen. Rudi rüttelte sanft an meinem Arm, das Hauptgericht war eingetroffen und Mutter hielt zwangsweise einen Augenblick mit dem Diavortrag inne. Kinder - Miracoli! Kurze Pause.

Danach ging die Stimme der Kritik in Zimmerlautstärke weiter, so dass ich nicht solche Schwierigkeiten hatte, immer wieder mal einzunicken.

Auf den Nachtisch verzichteten wir großzügigerweise, das Essen war nicht so besonders gewesen, nur Rudi hatte sich zufrieden gezeigt. Wir gingen nie wieder hin. Erst als Karl Lagerfeld das Schloss innen und sich außen restauriert hatte, und es sich Vier Jahreszeiten nannte, trieb mich die Neugier, und es war ganz reizend geworden.

Mutter aber sprach die nächsten Jahre nie wieder vom Zusammenziehen, was zwar sein Gutes hatte, aber in dieser drastischen Form wirklich nicht beabsichtigt war. Schon am nächsten Tage reiste sie ab und stand erst zu Weihnachten wieder vor der Tür. Allerdings währte dieser Besuch auch nicht allzu lange, da sie noch am heiligen Abend ihre Abreise beschloss. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ach, und übrigens! Der Schildkrötenpanzer wird nicht mitgekocht, diese Botschaft aus der Küche wäre mir fast entfallen.

Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3

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