Читать книгу Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3 - Karl Michael Görlitz - Страница 9

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HEILIGABEND ZU ZWEIT

Traute Zweisamkeit. Festglanz. Weihnachtsglocken Süßer! - Die Glocken klingen!

Es lief nicht allzu gut mit uns beiden. Ständig schielte Rudi nach frischerem Gemüse. Manchmal kam er erst vormittags nach Hause und sah aus wie ein zufriedener Kater nach einer Extraportion Sahne. Fast vermeinte man noch den Milchbart zu sehen, wenn er mir behaglich schnurrend um die Beine strich. Ach so, das war jetzt Alfred, unser Kater, da hab ich was verwechselt. Aber genau so benahm sich Rüdiger. Von Reue keine Spur, schließlich führten wir eine moderne Beziehung. Also schluckte ich den Ärger runter und revanchierte mich mit einer Nacht in der Herrensauna oder einer anderen Kurzaffäre.

In die Sauna traute ich mich schon seit längerem. Rudi wohnte noch in der Keithstraße, als er mir anvertraut hatte, dass er zum Duschen gelegentlich die Sauna aufsuchte. Zum Duschen??! Normalerweise ging er am Arbeitsplatz im Druckhaus Tempelhof unter die Brause. Nur zum Duschen in die schwule Sauna, wo der Eintritt stolze 25 DM kostete? War deshalb das gemeinsame Konto stets so geplündert?

Also, das wollte ich aber jetzt mal genauer wissen, und anschließend waren wir gemeinsam in den verruchten Schwitzkasten gepilgert. Es war ja nicht so weit, räumlich gesehen, denn ansonsten war es höchste Zeit, auch mal einen Blick auf die Fleischbeschau zu riskieren.

Und was soll ich sagen: Es hat mir gefallen. So gut, dass ich fortan die kleine Bar inmitten der handtuchbekleideten Menge zum Zweitwohnzimmer erklärt hatte, um dort auf meinen fleißigen Spätheimkehrer zu warten.

Zu einem geringen Aufpreis gab es Einzelkabinen mit Liege zum Entspannen, nach dem anstrengenden Saunagang oder dem Nebel im Dampfbad mit seinen vielen Nischen, in welchen reichlich Dampf abgelassen wurde. Es wurde entspannt was das Zeug hielt. Über zwei Etagen zog sich ein halb- bis volldunkler Parcours mit schmalen Gängen zwischen den Kabinen und Treffplätzchen für allerlei Mätzchen. Was Mätzchen nicht lernt, lernt Matz nimmermehr, hatte ich vorher noch gedacht und danach mit Freude doch noch eine gewisse Lernfähigkeit festgestellt. Der Mensch lernt bis zuletzt.

Es machte Spaß zwischen den sparsam bekleideten Herren zu wandeln, um sich etwas Nettes auszugucken. Hinter der Bar tummelten sich muskulöse Saaltöchter in Hot-Pants um das leibliche Wohl der Gäste. Ganz reizend. Warme Küche bis früh um Fünfe mit überraschend bürgerlicher Speisenkarte. Rinderroulade unterm Handtuch und auf dem Teller. Rotkohl, Grünkohl, Massageöl. Da kam zusammen, was nicht unbedingt zusammengehörte. Lautes Gestöhn hinter der Sperrholzwand und extrascharfer Mostrich auf der Bulette.

Die Bar war im Geviert und bot gute Rundumsicht. Es war einfach, sich jemanden auszugucken, da alle mit der gleichen Absicht gekommen waren. Und jene, die an der Bar nichts abbekommen hatten, vergnügten sich anonym in der Dunkelkammer, wo nach Belieben getastet und getestet werden durfte, was das Testosteron hergab. Von Aids hatte noch niemand je etwas gehört, und so waren alle eine große Familie von Fleischkonsumenten und äußerst lustig im Umgang miteinander.

Ja, das hatte mir gefallen, und mehrmals war mir der Keuschheitsgürtel in Form eines Badelakens von der Hüfte gerutscht. Man will ja kein Spielverderber sein. Lieber aber noch ging ich mit Rudi hin, um in der anregenden Atmosphäre ausgiebig zu plaudern oder so. Mit ihm war es netter, und wenn im Dampf mal etwas dazwischen kam, war es auch nicht so schlimm. Alles atmete Sauberkeit und Frische, wie überall beim Sport, und nur wer ganz abgeschlafft war, begab sich in die Hände des Masseurs, um sich wieder in Form kneten zu lassen. Viele Paare gingen in die Sauna, um einzeln oder zu zweit Abwechslung vom öden Ehealltag zu finden.

Es war ein kumpelhaftes Miteinander. Von großen Gefühlen keine Spur, es wurde lediglich ein gewisser Triebstau beseitigt. Und hinterher tauschte man Telefonnummern nur, wenn es besonders nett gewesen war.

Die Meisten allerdings waren Einzelkämpfer, die keine feste Beziehung wollten und ein eheähnliches Verhältnis als verlogen und spießig ablehnten. Sollten sie nur, ich jedenfalls war wild entschlossen, mein künftiges Leben nicht im Alleingang zu verbringen und als Einzelschicksal auf eine gute Rente zu hoffen, die mir später einen Stricher pro Woche erlauben würde. Das war absolut nicht mein Ding. Also biss ich die Zähne zusammen, wenn mein Liebster gutgelaunt wieder auftauchte und schritt verdrossen zur Rache, um zu zeigen, dass ich ebenfalls unabhängig war. Illusion ist alles.

Noch bescheuerter waren allerdings die unflotten Dreier auf der heimischen Spielwiese, auf die ich mich, Rudi zuliebe, einließ. War das ein Krampf! Da gerieten oft Modelle auf die Matratze, die mich nicht im Mindesten interessierten. Und das Beste war, dass sie den Initiator des doofen Spiels offensichtlich auch nicht so recht behagten. Spätestens nach zehn schlaffen Minuten drehte sich mein angetrunkener Schatz auf seine Schlafseite und begann zu schnarchen. Schon halb in Morpheus Armen, flüsterte er mir noch zu: »Mach du mal!«, oder ähnlich aufmunternde Sprüchlein, und da lag ich dann und konnte zusehen, wie ich den Gast auf elegante Weise wieder los wurde. Erlär das mal einen völlig Fremden mitten beim Fummeln! Also machte ich gute Miene zum bösen Spiel und schluckte meine Wut, nebst allerlei Pillen und was mir sonst noch in die Quere kam, lächelnd herunter.

Ein Scheißspiel war das, und anderntags war mein Liebster gut ausgeschlafen und hoch amüsiert, während ich verkatert, mit Wut im Bauch und Gliedern durchs Heim schlich. Anders herum gefiel es mir allerdings auch nicht, denn ausgerechnet bei Dieterchen schlief ich dank Tablette tief und fest in ihrer Mitte, während sich Beide über mir vergnügten. Das fand ich überhaupt nicht begeisternd.

So in etwa waren die Verhältnisse, als schon wieder das Fest der Liebe nahte. Und so blieb auch der heilige Abend ziemlich einseitig. Der Mensch ist seines Glückes Schmied. Ich hatte es so gewollt und mich für Berlin entschieden. Niemand hatte es von mir verlangt, Rudi am allerwenigsten.

Friss Vogel oder stirb. Ich fraß lieber, sterben konnte ich immer noch.

Vor dem Fest hatten wir uns tief in die Augen geblickt und uns gegenseitig versichert, keinem Konsumwettbewerb zu erliegen.Wenn Geschenke, dann nur Praktisches für den Haushalt, der mehr als dürftig ausgestattet war.

Kaum war dieses vereinbart, verfiel ich in einen Kaufrausch auf der nach oben offenen Konsumwahn-Skala von 9,5, bei dem kein Stein, und erst recht kein Schein, mehr übrigblieb.

Au, Mann, was in diesem Hauswesen aber auch alles fehlte! Rudi kochte nach wie vor mit dem Tauchsieder seine Spaghetti, obwohl wir einen alten Gasherd in der Küche stehen hatten. Eine Verordnung von Anno Tobak verlangte einen funktionsfähigen Herd in jeder Mietwohnung. An dieser Verordnung hatte sich nichts geändert, und am Ofen offensichtlich seither auch nichts. Elektrisches Licht gab es bereits im Haus, auch wenn aus den Zimmerdecken noch die Anschlüsse für Gaslampen ragten. Strom gab es auch, besonders in der Wand zwischen Küche und Badezimmer, welches noch mit Jugendstilfliesen prunkte. Von wegen Kriechstrom! Er konnte blitzschnell zuschlagen, wenn man aus Versehen die Wand berührte. Auf der Suche nach dem Übeltäter eröffneten sich uns ganz neue Möglichkeiten, und bald besaßen wir eine praktische Durchreiche zur Badewanne, die wir auf Dauer dann doch nicht als so besonders hilfreich empfanden, obwohl sie gelegentlich ganz reizende Einblicke in die Badekultur unserer Gäste erlaubte. Also spachtelten wir was das Zeug hielt, am Küchentisch vor der Wand und gleich daneben an der Mauer. Moltofill sei Dank, war das Gröbste noch vor Heiligabend erledigt. Ich besorgte eine alte Nähmaschine, die zum Küchentisch umfunktioniert wurde. Auch eine von diesen praktischen Ideen, die schwer in Mode waren, denn wer heftet schon seine Butterbrote mit Zwirn zusammen. Wir eigentlich nie, und da wir beide nicht mit der Maschine umgehen konnten, blieb diese dauerhaft versenkt, bis Phillip der Schneider bei uns einzog. Für einen Schneider hatte dieser übrigens wenig Ahnung von Materialkunde, denn er schnitt Brot auf der Tischdecke und wunderte sich anschließend halb zu Tode, dass das Wachstuch ebenfalls zerschnitten war und nicht mehr zusammenwachsen wollte. Aber das ist schon eine andere Geschichte, die etwas später spielt.

Töpfe und Pfannen mussten her, Schippe und Besen mussten rein. Schüsseln, Gläser und Bestecke, Teller und Tassen ins Regal, wenn man schon keinen Schrank hat. Schwämme, Bürsten, Feudel - alles im Eimer, der auch noch gekauft werden musste. Jeden Abend ächzte ich unter der Last der Sonderangebote ringsum.

Praktisch denken - Schönes schenken! Ein gebrauchter Kühlschrank musste her, ächz! Manchmal weiß man die Bequemlichkeit eines geräumigen Fahrstuhles gar nicht recht zu schätzen. Ich lernte es im Handumdrehen.

So ausgerüstet begann ich mit den kulinarischen Vorbereitungen für das große Fest. Eigener Herd ist Goldes wert. Nach Großem stand mir der Sinn. Etwas Extravagantes musste her, als Lohn der Mühen, und am Besten etwas, dass sich auch portionsweise verschenken ließ. Freundschaften muss man pflegen, besonders wenn sie noch nicht so alt sind. Und unsere neuen Freunde waren, Herby einmal ausgenommen, allesamt blutjung. Dieterchen zum Beispiel ging noch zur Uni und feierte dort erste Erfolge in der Theatergruppe. Wir hatten der Aufführung beigewohnt, wie besorgte Eltern. Auch seine ältere Schwester und deren Intimus besuchten uns häufig.Und unter meinen neuen Kollegen gab es durchaus Einige, bei welchen es sich lohnte, die Beziehung zu vertiefen. Zum Jahreswechsel hatte sich ein Düsseldorfer Freund angemeldet, der mittlerweile in Hannover studierte. Walterchen, auch so ein Seitensprung meines Holden, der sich unversehens als Hausfreund wiederfand, weil er mir gefiel.

Das waren die Leute, die etwas Handgearbeitetes sicherlich zu schätzen wussten. So wie Herby, der bei selbstgemachtem Eingemachten stets jubilierte. Schon wieder hatte er einen Kreis leicht angestaubter Jungfern um sich geschart, die für ihn strickten und häkelten. In dulci jubilo.

Etwas Beeindruckendes musste her. Etwas, das mich schlagartig als Meister der Haute Cousine auswies, der Unvergessliches in der Pfanne hatte.

Und da gab es selbstverständlich nur eines, welches international die Spitze aller gastronomischen Bemühungen darstellte: getrüffelte Gänseleberpastete nach Straßburger Art, mit der ich schon auf der Jahnstraße, vor allem mich selbst, überzeugt hatte. Damals war ich förmlich ergriffen gewesen, so gut hatte sie geschmeckt, trotz der - oder vielleicht gerade wegen - der geklauten Trüffel, mit welchen die kostbaren Lebern reichlich gespickt waren. Damals waren sie in Christas Backofen trefflich gelungen, und seither hatte ich mehrmals die Gelegenheit wahrgenommen diese klassische Mega-Kalorienbombe zu fertigen. Mit dem ersten Umzug war diese Spezialität mangels Backgelegenheit etwas in Vergessenheit geraten, aber hier und jetzt stand mir wieder ein Ofen zur Verfügung.

Bisher kannte ich nur elektrische Bratröhren, aber mit Gas ging es genau so gut. Auch wenn der Herd nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik war, kochen ließ sich viel besser mit ihm als mit den ollen Elektroplatten. Ein bisschen gefährlich wirkte es ja, wenn mit lautem Wuusch die Flammen im Schacht förmlich explodierten, aber die Generation vor mir hatte die Vulkanausbrüche überlebt, auch wenn sich die Bleche jedesmal leicht nach außen wölbten. Vielleicht könnte man jetzt vermuten, dass mir der Herd explodiert ist. Nein! Solche Missgeschicke sind eher Rudis Domäne. Tatsächlich war ihm im vorigen Winter die eingefrorene Gastherme in Peters Küche um die Ohren geflogen, als er das Wasser im Durchlauferhitzer auftauen wollte. Die Abdeckhaube war ihm dabei voll gegen die Stirn geknallt, als Denkanstoß sozusagen, vorher auch das Gehirn einzuschalten.

Sein ostpreußischer Dickschädel hatte standgehalten, zum Glück, und seither ging er vorsichtiger mit dem Stadtgas um. Aber immer wieder geriet er in Lebensgefahr, weil er Warnungen ignorierte, und zum Beispiel übers Dach kletterte, um in die Wohnung zu gelangen, nachdem er den Schlüssel vergessen hatte. Bisher hatte er noch einen gewaltigen Dusel gehabt, und es war zu wünschen, dass dieses so blieb. Er lebt bis jetzt noch, ganz gut, wie mir scheint, und gestern Abend hat er auch die Gänseleberpastete überlebt, die als schöner Weihnachtsbrauch und elegante Überleitung in unsere Küche wieder eingeführt wurde.

Gänseleberpastete von foie gras. Das klingt nicht so nach Tierquälerei. Schon Opa mästete zwei seiner Lieblinge mit der Hand. Er formte Klöße aus leckerem Haferbrei und schob sie der Gans in den Rachen. Danach massierte er ihr mit sanften Bewegungen den Hals, um die sichtbare Verdickung unterm Federkleid nach unten zu streicheln, durch den langen Schlund in Richtung Magen. Nicht einmal schlucken musste die Gans selbst, und hinterher war sie immer so schön satt, und ich war immer so hungrig. Als Kind war ich vollkommen einverstanden mit der Vorzugsbehandlung der Beiden. Anfangs wehrten sie sich noch gegen die Behandlung, eingeklemmt zwischen Opas Knien, aber später gewöhnten sie sich daran, eine Extraportion zu kriegen und watschelten anschließend träge und zufrieden davon. Schließlich wurden sie nur zu den Fütterungszeiten extra behandelt und lebten ansonsten das ganz normale Leben einer Schlachtgans, die lediglich zur Nahrung dient. Freundschaftliche Gefühle entwickelt man zu anderen Tierarten, wie Hund oder Pferd, aber nicht zu Sonntagsbraten, auch wenn sie noch so drollig gewesen waren. Das Putzige verwuchs sich schnell, und sie blieben namenlos aus gutem Grund, denn wer verzehrt schon gern einen Donald oder eine Daisy, die gestern noch mit Matrosenkrägelchen über den glitschigen Boden des Hühnerhofs geeiert waren.

In der Massentierhaltung läuft das natürlich ein wenig anders. Wenn man ernstlich darüber nachdenkt, müsste man eigentlich zwangsläufig zum Vegetarier werden. Was da mit dem Viehzeug passiert ist unverantwortlich, besonders mit den Hühnern. Trotzdem greifen wir zu und verdrängen den Tatbestand der Tierquälerei. Bilder von der Gänse- oder Entenmast dienen nur allzu gern den Gegnern als Beweismaterial für die Grausamkeit solcher Fleischproduktion. Es ist grausam, keine Frage, aber ausgerechnet dem Mastgeflügel wird dabei noch am wenigsten geschadet, weil es so kostbar ist. Auch wenn es zynisch klingt, die teuren Lebern machen, dass der Restvogel drumrum sich besonderer Aufmerksamkeit erfreuen darf. Das war schon bei Opa so, und so ist es geblieben.

Ja, und einmal im Jahr kann man sein schlechtes Gewissen dann schon betäuben, besonders wenn man sich diesen Sachverhalt einmal klarmacht. Diese Lebern sind schon eine kleine Sünde wert. Und einmal ist keinmal, Tirili!

Übrigens lief bei Opa die Zubereitung regelmäßig schief, da er seine Prachtlebern viel zu lange briet. Je länger er die Leber schmurgelte, desto mehr Fett lief aus, bis er zum Schluss ein trockenes Häufchen in einem See von Fett übrig hatte. Das schmeckte sogar mir nicht, der ich ansonsten furchtlos fast alles verzehrte, was nicht so besonders geraten war.

Erst im Westen sollte ich wirkliche Bekanntschaft mit der hochgepriesenen Delikatesse machen. Und ich fand meine Schöpfung besser gelungen, als die teuren Terrinchen, die allenthalben zur Weihnachtszeit auftauchten. Also frisch ans Werk, Gesell! Soll das Werk den Schöpfer loben, braucht es Tatkraft, wie, siehe oben. Und, saß ich neuerdings nicht an der Quelle zu so viel Raffinement? Nur die Trüffel konnte ich hier leider nicht wie gewohnt klauen, soviel Nerven besaß ich nicht mehr.

Also kaufte ich für den Gegenwert eines mittleren Eigenheims die benötigten Zutaten und machte mich an die zeitaufwendige Zubereitung, da die ganze Pampe nach zweimaligen Durchdrehen durch die feine Scheibe des Fleischwolfs noch durch ein Haarsieb getrieben werden muss, was Ausdauer und einen starken Arm erforderte. Zum Glück besitzt unsereins ja gut trainierte Gliedmaßen, den sogenannten Tennisarm beidseitig, aber drücken sie einmal ein zusätzliches Kilo fetten Speck nur mit dem Löffel durch das engmaschige Gitter, weil sie noch kein Passiersieb besitzen. Nach dem Rezept von Madame Davidis ist dies nämlich unbedingt erforderlich, da die Lebern allein anscheinend noch nicht fett genug sind. Auch wenn der Speck am Vortag stundenlang ausgekocht wird, um das gröbste Schmalz zu beseitigen, ist das immer noch eine Mühe, die Anerkennung heischt, zumal der Rest der Farce auch noch hindurch muss. Das geht nicht ohne Spritzer ab, und anschließend sind die Küchenfliesen und ihr Outfit hochkalorisch, während sie selbst ein Kilo abgenommen haben.

Keine Angst, das kommt anschließend wieder drauf, aber vor den Erfolg haben die Götter nun einmal den Schweiß gesetzt. Die schöneren Leberteile werden mit Trüffeln gespickt, nachdem vorher alle etwaigen Sehnen gezogen wurden, der Rest wandert in die Farce, in deren Mitte die größeren Stücke nun versenkt werden. Dann ab damit in den Ofen, während sie sich langsam Gedanken über die Renovierung der Küche machen können. Am besten sie tapezieren gleich neu. Bei uns war das jedenfalls so, und während das göttliche Gericht im Ofen schmurgelte, bei mittlerer Hitze, wie am Drehschalter eingestellt, machte ich große Pläne. Niemals zuvor hatte ich mit dieser Röhre kommuniziert, es war unser erstes gemeinsames Werk, und vielleicht war es etwas leichtsinnig gewesen, den Herd nicht erst einmal mit etwas Preisgünstigerem zu erproben. Zwar war auf der Drehskala mittlere Hitze eingestellt, aber die Flammenwand im Orkus war nicht viel verkleinert worden, das Gas strömte immer noch hörbar laut, so dass ich die Backzeit schon etwas verkürzte. Dennoch, das Ergebnis war zutiefst unbefriedigend, weil meine schöne Etepatete gerade unten das mit dem Backen offensichtlich wortwörtlich genommen hatte, um mit den Terrinchen eine dauerhafte Verbindung einzugehen, während sie oben noch nicht ganz durch war. Oh Himmel, bis auf das Dachgeschoss war mein Eigenheim vernichtet, einfach verbrannt, wie die Erde im Mekong-Delta.

Da war guter Rat teuer. Gutes Rad ist immer teuer, wie schon das Sprichwort sagt. Was war zu tun? Für ein zweites Eigenheim reichte das Einkommen nicht mehr. Und ich Blödmann hatte schon im Bekanntenkreis rumgetrötet, dass es zum Fest Paté de foie gras gäbe. Nix foie gras - nur foie Heu.

Und während ich mit Hammer und Meißel damit beschäftigt war, vorsichtig Gefäß und Inhalt zu trennen, wiegelte ich ab. Kaum jemand in unseren Kreisen hatte die Vorzüge dieses Triumphes der Kochkunst schon wirklich gekostet. Vor allem die neuen Kollegen nicht, die sich eher aus bescheidenen Verhältnissen rekrutierten, und deren Gehalt so eben zum Überleben reichte. Das erste Haus am Platze konnte auch ganz schön knausern. Trotzdem rissen die Bewerbungen nicht ab, denn in Berlin empfand man es als Ehre, für das hohe Haus zu schaffen. Wie sagte schon der heilige Christian (Dior): Es ist leichter ein paar Kreative anzuheuern, denn ein Kamel durchs Nadelöhr zu fädeln.

Bestand die hohe Kunst der Werbung nicht gerade darin, den Leuten ein X für ein U vorzumachen? War das nicht sozusagen ihre heilige Aufgabe? Und hatte ich mich nicht als ihr kühner Meister erwiesen? Also kratzte ich den genießbaren Teil der Feiertagsspeise unter schweren Seufzern zusammen und vermengte sie hernach fröhlich pfeifend mit feiner Leberwurst, die in die geretteten Feinkostterrinen abgefüllt und mit zerlassener Butter als Deckschicht übergossen wurden, was täuschend echt aussah. Dafür band ich extragroße Schleifen mit allerhand weihnachtlichem Suppengrün darum und wars zufrieden. Leberwurst im Festtagskleid, hoffentlich war niemand beleidigt.

Für Rudi und mich war auch noch ein winziges Schälchen der Originalmasse übriggeblieben, die Heiligabend verzehrt werden sollte.

Die Beschenkten zeigten sich entsprechend begeistert. Wunderbarer Geschmack. Einzigartig. Unvergleichlich! So tönte es mir entgegen, als ich später nachfragte. Na bitte! Mit ein paar Tropfen Cognac hatte ich die Leberwurst beim Durchmengen französisiert. Niemand merkte auch nur das Geringste. Nur Kollegin Paula vertraute mir später an, dass ihre Erwartungen an diese Delikatesse wohl ein wenig zu hoch gegriffen gewesen waren. Es hätte zwar ausgezeichnet geschmeckt, aber eigentlich auch nicht viel anders als besonders feine Leberwurst. Womit sie unbedingt recht hatte, denn ich hatte die Gute im Golddarm verwendet.

So rückte der heilige Abend heran, und im traulichen Kerzenschein saßen Rudi und ich uns gegenüber. Zwischen uns bog sich der Tisch unter der Last der angehäuften Delikatessen. Von Aal bis Zunge (natürlich vom Kalb) war alles vorhanden, was das Herz begehrte. Nur die Liebe nicht. Die hatte Ausgang und feierte woanders. Nicht nur Lebensmittel türmten sich zwischen uns, sondern auch ein Haufen unbeantworteter Fragen, die zu stellen keiner wagte. Es lag eine fast greifbare Spannung im Raum, die keiner von uns ansprechen mochte, und so schwiegen wir uns an und quälten uns durch das anspruchsvolle Menü. Welcher Idiot war nur auf die blöde Idee gekommen, solche Haufen von Lebensmitteln für drei Tage zu horten. Fischstäbchen in Leberkuchensauce hätten es bei Rudi genau so gut getan. Ach welch vergebliche Müh, durch seinen Magen ging die Liebe jedenfalls nicht.

Sogar einen Tannenbaum hatten wir in dem noch leeren Erkerzimmer aufgestellt, und darunter lagerte ein beachtlicher Haufen bunt verpackter Geschenke. In Ermangelung des klassischen Christbaumschmuckes war ich auf die Idee gekommen, einen italienischen Baum zu kreieren. Schließlich ist man Künstler und muss ausgetretene Wege nicht noch breiter latschen. Also hingen statt Lametta gekochte Spaghetti an den Zweigen, was genau so festlich aussah. Dazwischen glänzten in weihnachtlichem Rot getrocknete Tomatenviertel und in grobem Salz gerollte Fleischklößchen.

Geriebener Parmesan zauberte die Andeutung von frisch gefallenem Schnee auf das winterliche Grün, und wir fanden es hinreißend originell. Mit den duftenden Bienenwachskerzen dazwischen sah der Baum wirklich traumschön aus, nur das der Duft nicht ausreichte, den etwas strengeren Geruch des Reibekäses zu überlagern. Genau genommen, roch unsere gesamte Wohnung so, wie die Kantine an Tagen, an denen es Spaghetti Bolognese gab, was mich stets bewog, den Räumlichkeiten fern zu bleiben. Frisch gerieben geht dieser Käse ja noch, aber was die Industrie an getrocknetem Pulver bereit hält, ist eine Beleidigung nicht nur für die Nase. Da hatte ich wieder an der falschen Stelle gespart. Rudi an der Richtigen, denn wie sich herausstellen sollte, hatte er unser altes Werkzeug säuberlich verpackt, und jedesmal, wenn ich einen Hammer oder zerkratzten Schraubenzieher auswickelte, krähte er vor Vergnügen und gluckste dazu:

»Siehst du, nur Praktisches unter dem Baum.«

Himmeldonnerwetternocheinmal! Es fiel mir schwer, Haltung zu bewahren bei dem Ulk, denn so wie er sich benahm, war noch eine wirkliche Überraschung zu erwarten. Ein Verlobungsring? Ein Nerzmantel? Ein Schloss in den Karpaten? Bei jeder Niete, die ich zog, steigerte sich die Erwartungshaltung noch ein wenig. Ich hingegen hatte mich an die Abmachung gehalten und wirklich Nützliches erstanden. Langweiligen Kram, wie einen Teppichboden für sein Zimmer und Bettwäsche mit Donald Duck drauf, für die er so schwärmte. Eine Micky Maus als Halter für eine elektrische Zahnbürste, die bei Gebrauch losschmetterte:

»Brush your teeth, brush your teeths everyday, brush and brush and brush, what's the one and only way.«, oder so ähnlich. Die enervierende Melodie hab ich besser behalten, als die hinfort quäkende Stimme. Alles so praktisch hier.

Schließlich durfte ich das letzte Geschenk auspacken, zu welchem er mich sorgsam dirigiert hatte. Für ein Schloss in den Karpaten und auch für den Nerz war es entschieden zu klein, und für einen Verlobungsring entschieden zu groß. Sicherlich war es etwas aus dem Antiquitätenhandel, meine Leidenschaft war ihm ja nur zu gut bekannt. Platten und Bücher, über die ich mich ebenfalls freuen konnte, schieden schon wegen der Form aus, außerdem fühlte es sich weich an und zerfiel in zwei Päckchen, als ich es aufriss. Das konnte nur was zum Anziehen sein. Na, egal, das ist ja auch was Nützliches.

Als ich nun die Päckchen öffnete, fielen zwei Stoffpuppen heraus. Ich dachte, mich rührt der Schlag. Puppen! Ausgerechnet Puppen! Außer den Kasperle- Figuren in der frühen Kindheit hatten die kleinen Gesellen noch am allerwenigsten interessiert - eher im Gegenteil. Mein Bruder Peter sollte, nach Mutters Wunsch, eigentlich ein Mädchen werden und wurde mit Puppen immer wieder bedacht, die ich ihm nur zu gern überließ. Später waren es dann lustige Plüschtiere, und noch mit achtzehn Jahren fand sich ein schnurrender Kater zum Aufziehen auf seinen Gabentisch, mit welchem er gemeinsam die Augen verdrehte.

Stoffpuppen! Dazu noch welche, die unverkennbar aus der DDR stammten, wie die Trikotagenknautschgesichter bewiesen. Machten sie drüben die doofen Dinger etwa immer noch? War denen noch nichts Besseres eingefallen? Ich erinnerte mich nur allzu gut an die ärmlichen Nachkriegsmodelle aus alten Strümpfen, meist mit Laufmaschen am Hinterkopf oder anderswo, die den eigentlichen Verwendungszweck nicht mehr zuließen und so der Resteverwertung zugeführt wurden. Sie waren überall auf den Jahrmärkten zu finden gewesen und gehörten zu jenen Produkten, die es in der schlimmsten Mangelzeit reichlich zu kaufen gab und uns Brüdern damals nur ein verächtliches Lächeln entlockten. Armeleutespielzeug aus abgewetzten Flicken.

Es war, als hätte mich ein Pferd ins Kreuz getreten. Ich rang um Fassung. Ich rang und rang. Noch weniger hätte er meinen Geschmack nicht treffen können, dabei kannte er doch meine Vorlieben.

Eigentlich hätte ich ja vorgewarnt sein müssen. Jemand, der ständig seine Harlekinmarionette in Bettnähe aufhängte und mit seinem Plüschdelphin und Entchen in die Badewanne ging, während die Kuschelbären im Regal warteten, war möglicherweise doch kein passender Umgang. Vielleicht sollte Rudi erst einmal seine Kindheit hinter sich bringen. Da fühlte man sich glatt wie der böse Onkel mit einem Zwölfjährigen. Eigentlich passten wir schon fast extrem nicht zueinander. Zwischen uns lagen Welten.

Zum ersten Mal erfasste mich tiefe Mutlosigkeit. Solche Gegensätze, wie bei uns, waren wohl doch nicht zu überbrücken.

Zwei Puppen!! Wie putzig - nein pupsig. Eine Oma, sitzend mit Kaffeetasse aus Karton, und Drahtbrille. Und ein Opa im Ausgehmantel, mit Pappzigarre, einen Regenschirm schwenkend. Oma bleibt zu Hause und hat die Schürze umgebunden. War das eine Allegorie auf das, was uns bevorstand? Gemeinsam alt werden war als Idee ja ganz nett, aber warum ein so konventionelles Pärchen - und wen sollte die Oma darstellen? - Doch wohl hoffentlich nicht mich. Das war eine Rolle, die mir dermaßen fremd war, dass mir grauste. Auch wenn ich in der Küche mit den Töpfen hantierte, alle berühmten Köche waren Männer. Oder sollte der unternehmungslustige Greis mich symbolisieren, mit halbgeöffnetem Mantel und keck geschwungenem Parapluie? Wohl eher nicht, so ausgehfreudig wie Rudi sich gebärdete.

Hübsch und aufwendig hergestellt waren die neuen Hausgötter ja, das musste selbst ich zugeben. Und von billig konnte bei ihnen wohl kaum die Rede sein. Irgendwo im KaDeWe war ich über ähnlich kartoffelnasige Monster gestolpert, die an die Nachkriegsjahre erinnerten, und war stehen geblieben, um den heutigen Preis abzulesen. Der war dermaßen gepfeffert gewesen, dass ich regelrecht erschrocken weitergeeilt war. Waren die teuer! Das war Wucher der unverschämtesten Art.

Erich und seine Genossen ließen sich die Handarbeit aber kräftig bezahlen. Oder wurden die gleich mit Gold aufgewogen, wie Porzellan aus Meißen? Plötzlich tat es mir um das viele Geld leid, das nutzlos zum Fenster hinausgeschmissen war. Hätte er wenigstens nicht zwei Kerle genommen, als Symbol für gemeinsames Altern! Aber so erfüllte es eigentlich den Tatbestand der Majestätsbeleidigung mit mir als Heimchen am Herd. Von dem rausgeworfenem Geld hätten wir auf die Balearen fliegen können, um dort zu feiern, ach was sag ich – zu überwintern.

Wut quoll in mir auf, die sich nur mühsam unterdrücken ließ. Jähzorn ist meine unangenehmste Eigenschaft, ein Erbteil meines leiblichen Vaters, dessen Anfälle von Mutter wieder- und wiedergekäut wurden. Bloß nicht - es ist Weihnachten - zähl erst einmal bis zehn.

Wir setzten uns wieder, um den Fischgang zu verzehren. Räucherware, Aal, Lachs, Stör und verstörte Forelle. Geräuchertes hält länger! Guter Witz und einfach weiterzählen. Schweigen und zählen. Ach nein, bei Elektra hieß das jetzt: schweigen und tanzen.

Tätärätä - Tätärätä! Schweigen und tanzen, und so zähl ich vor euch hin. Täätää - Dreie und Viere - Rätärärä, Rätärätä und Fünfe und Sechse. Bei Sieben schrillte das Telefon im Flur und Rudi sprang förmlich erleichtert auf und eilte zum Hörer. Wahrscheinlich Herby zu später Stunde. Die Familie war längst durch, die Bekannten ebenfalls. Herby hatte darauf gedrungen, nach der Feier, zu welcher er geladen war, noch unbedingt ein alternatives Bier im Kreise Gleichgesinnter zur Brust nehmen zu wollen. Schließlich war man in Berlin, wo selbst Heiligabend schwer was los war und die Puppen tanzten.

Ja, die Puppen tanzten bis in die Puppen. Ich hatte abgewehrt und dabei an mein stilles Glück daheim gedacht, aber trotzdem wollte Herby noch einmal durchbimmeln, bevor er loszog. Still war es ja, das Glück - nein eher murmelte es mehr im Flur. Ich nahm noch einen tiefen Schluck von dem sauren Champagner. Bääh. Offenbar war es der alte Hausfreund. Vertrautes Gelächter, das übliche Geplänkel, das sie miteinander pflegten. Satzfetzen drangen an mein Ohr. Anscheinend hatte Herby gerade angefragt, wie bei uns der festliche Abend verlaufen war, und Rudis Antwort lautete:

»Wir versuchen gerade glücklich zu sein!«

Wir versuchen gerade glücklich zu sein? Das ließ sich ändern und zack - hatte er die silberne Fischplatte auf dem Kopf, von welchem sie polternd zu Boden fiel. Nur der rosa Lachs war nicht mitgefallen, sondern krönte delikat seine Föhnfrisur. Rudi sah plötzlich sehr appetitanregend aus, mit der Petersilie hinterm Ohr.

Ich schnappte mir den Hörer und verabredete mich mit dem Freund in Andreas Kneipe, während Rudi im Bad verschwand, um sich abzuschmücken. Würgegeräusche hinter der verschlossenen Tür zeigten an, dass er sich des Fisches auf zweierlei Weise entledigte. Dabei hatte ich doch lediglich nur seinen Kopf getroffen. Ach ja, bei sich reagierte der Bursche immer so äußerst sensibel, nur bei anderen haute er oftmals Sachen heraus, die an Peinlichkeit kaum zu übertreffen waren. Wie viele hatten sich anschließend schon bei mir beschwert, wenn mein Herzblatt sich im Ton vergriff. Wer so austeilt, muss auch einstecken können. Das war eine wichtige Lektion, an welcher auch meine Rosa zu knabbern hatte. Ich war es leid, immer nur Öl auf die erregte Menge zu gießen, damit die Wogen des Ärgers sich wieder glätteten.

Wir versuchen gerade glücklich zu sein! Nun gut - Experiment gescheitert. Forellenquintett im Ohr, nur musikalisch ein Genuss.

Im Taxi hatte ich schon den ersten Reueanfall. Verfluchter Jähzorn. Das hätte ich auch eleganter lösen können, nicht ganz so spontan, aber dafür nachhaltiger.

Nun, es war passiert. Und ich war keine Jahresendflügelfigur, wie es neuerdings jenseits der Mauer hieß. Vielleicht war es wirklich besser, sich einen neuen Partner zu suchen, tatsächlich war ich schon auf dem Weg dahin. Nach Schöneberg, wo sich schöne Knaben laben. Leicht zu haben, doch schwer zu binden, ließ sich gerade heut was finden. Dichten beruhigt enorm, und der Poesie wohnt ein Zauber inne, die den Leu zum Kätzchen macht. Am Wittenberg stieg das Schmusekätzchen aus, warf einen flüchtigen Blick hinauf zur Arbeitsstätte, auf dem ein veritabler Tannenwald im Licht der Elektrokerzen schimmerte. Heiliges Blechle, was hatten die Menschen nur aus dem besinnlichen Fest gemacht. Weihnachten schrie es von allen Dächern, und über die breite Tauentzienstraße schwangen sich Spangen aus Licht mit barocken Motiven.

An dem Wald über den Schaufenstern war ich nicht ganz unschuldig, da mir die bloße Reihung von Bäumen zu statisch erschienen war. An dem Großplakat über dem Haupteingang auch nicht, auch wenn es von unserem Dekomaler, der noch die aussterbende Kunst der Kinogroßplakate beherrschte, ausgeführt worden war. Ein nostalgischer Weihnachtsmann war darauf zu sehen, der von einer Oblate fürs Poesiealbum abgekupfert war und über drei Etagen in den Nachthimmel ragte, umrahmt von hunderten leuchtenden Glühbirnen.

Eigentlich hatte ich vorgeschlagen, das gesamte Haus als Weihnachtspaket mit einem riesigen Geschenkband zu umwickeln und mit einer gigantischen Schleife über dem Portal zu krönen. Aber leider war das von meinem Boss abgeschmettert worden, mit den freundlichen Worten: »Nee, Görlitz, du bist bekloppt!«

Als im nächsten Jahr ein Pariser Kaufhaus mit derselben Idee Furore machte, grinste er nur und erklärte mir: »Aber bekloppt bist du trotzdem!«

So war mir nur der klassische Weihnachtsmann verblieben, der fortan in allerlei Variationen von gestern durch die Werbung geisterte.

Der Hauptgeschäftsführer, ein gewisser Herr Seemann, hatte die Dekorateure angewiesen, die Schaufenster zu schmücken als hätte Fortuna ihr Füllhorn hinter die Scheiben gegossen. Zum großen Ärger von Butterbeck, der stets die Ansicht vertrat, dass weniger mehr sei. Der Erguss war nun zu besichtigen, neuerdings auch noch mit nostalgischer Komponente. Museales Spielzeug, Tröten und alte Knacker, Prunkschlitten von Gestern und Püppis in Gründerzeitstuben. Ein halbes Museum war zu bewundern. Selbst wer Fortuna nur als Sportverein kannte, blieb stehen, um den schön arrangierten Kram aus Alt und Neu anzuschauen. Nur heute nicht, die Straßen waren wie leergefegt um die heilige Mitternacht, die gerade geschlagen hatte. Ein eisiger Wind pfiff um die Ecke und drehte sich in Spiralen um die dürftige Bedürfnisanstalt am Wittenbergplatz. Eine leere Einkaufstüte kreiste träge, bevor sie niedersank. aDeWe - einkostabteilung war darauf zu lesen.

Wider Willen musste ich grinsen. Einkostabteilung – das klang ein bisschen nach dem Eintänzer aus der Fischbratküche, und tatsächlich war das neue Design unter meinen Augen entstanden.

Auch der Platz lag völlig verwaist. Selbst am Lokushäuschen, in welchem so gern spezielle Bedürfnisse gestillt wurden, lauerte niemand. Tote Hose allüberall. Ganz tot? Nein, im Hintergrund schimmerten die Lichter der kleinen (gallischen?) Kneipe, die tapfer gegen die vorgeschriebene Besinnlichkeit ansang, wie eine rettende Insel im leeren Lichtermeer. Nichts wie hin!

Schon beim Näherkommen sah ich, dass es nicht allzu voll sein konnte, im winterfesten Vorbau saß eine einsame Gestalt, die Feier fand wohl eher am Tresen statt, wo Herby auf mich wartete. Wie verabredet. Leider war er noch nicht gekommen, wie unschwer festzustellen war, nachdem die Tür hinter mir zugefallen und der schwere Filzvorhang gegen Zugluft überwunden war. Eigentlich war so gut wie niemand gekommen, die Kneipe war fast leer. Ach du Schreck! Sollten das etwa die feiernden Massen sein, von denen der Freund geschwärmt hatte? Seine Worte klingelten noch im Öhrchen: »Mike, wie in Paris! Überschäumende Lebensfreude garantiert! Sekt in Strömen!«

Zwei Hocker weiter saß eine alte Schabracke im abgetragenen Nerzmantel und quirlte gelangweilt die Kohlensäure aus der Hausmarke. Je mehr Blubberbläschen dem schlanken Sektkelch entwischen, desto trübsinniger wurde ihre Miene. An ihrer Linken baumelte die unvermeidliche Herrenhandtasche für gediegene Semester.

Ich schaute genauer hin. Ach so, das war gar keine Frau. Ach ja, das konnte man heutzutage manchmal nicht so direkt sehen. Mir fiel ein, wie Mutter und ich mit schulterlangem Blondhaar im Zigarettenladen von einem galanten älteren Herren vorgelassen wurden.

»Bedienen Sie doch erst die beiden Damen, ich hab es nicht so eilig.«

Mutter hatte gekräht vor Lachen, und der hochverlegene Herr hatte sich entschuldigt. Was sie wohl heute am Festtag machte, allein mit ihrem Liebsten? Bruder Peter, so war zu hören gewesen, war ebenfalls nicht zu den Feiertagen erschienen, denn in seiner Ehe kriselte es bereits. Anscheinend wurde es seiner Gattin lästig, zusätzlich zum anstrengenden Dienst im Kreiskrankenhaus, noch die gesamte Menagerie, einschließlich Bruder zu versorgen. Na, das passte ja mal wieder. Flotte Sprüche von alternativer Lebensweise und zu Hause keinen Finger krumm machen. Schwierig, einen Junggesellen über Dreißig, bei welchem die Gewohnheiten schon stark eingeleiert sind, noch umzuerziehen.

Ach ja, hoffentlich erscheint Herby bald, der Trübsinn hier ist förmlich greifbar. Der Nerz neben mir starrte mit verhangenem Blick auf die fünf weiteren Gäste am anderen Ende der Bar, die ebenfalls das Verfallsdatum weit überschritten haben mussten. Mich nahm er nicht einmal zur Kenntnis, und ich verspürte ebenfalls wenig Lust, mich mit ihm auszutauschen. Worüber auch, obwohl ich mittlerweile Experte in Nerzfragen war.

Vom Band erklangen Weihnachtshits:» Stihiele Nacht, heieilige Naacht. Aales schläft, eiiinsam wacht.«

Andreas, der Wirt, schnurbelt höchstpersönlich heran. Früher sollte er als äußerst attraktiver Mann gegolten haben, das war heute schwer zu glauben. Glaubet und hoffet, ein Kind ist euch heute geboren. Wir kannten uns noch nicht so besonders gut und das sollte auch so bleiben.

Andreas war feist, allerdings nicht auf die schwammige Art, sondern mehr in Richtung Kernschinken. Sein Kopf schien mit in die Breite gewachsen zu sein, hatte aber eine gewisse Kantigkeit in den Konturen nicht eingebüßt. Kurzer Hals, Stiernacken, Quadratschädel. Sah man ihn, wollte man nicht glauben, daß er als glamouröser Mittelpunkt der berühmten Tuntenbälle in atemberaubenden Frauenfummeln auftrat. Vom Türsteher und Rausschmeißer im legendären Kleist-Casino hatte er sich hochgearbeitet zur eigenen Kneipe, wie übrigens fast alle ehemaligen Mitarbeiter, die ihrerseits ebenfalls Szenebars eröffnet hatten, während ihr ehemaliger Chef in die Pleite segelte. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Andreas war Mitbegründer der berühmten Tuntenbälle, die er mittlerweile allein ausrichtete, oder besser gesagt, mit seinem Exfreund, dem er bei der Trennung einen Saunabetrieb als Morgengabe hinterlassen hatte. Man munkelte, dass er mittlerweile mehrere Kneipen besaß, außerdem betrieb er noch eine Künstleragentur, die für das hochkarätige Bühnenprogramm der Bälle zuständig war. Ein wahrhaft umtriebiger Charakter, der knallhart war, sich aber gern mütterlich gab. Wir sind doch alle eine Riesen-Familie, und er die große Mutter mit dem weiten Herzen. Eine Mutter war er schon - aber lediglich im Getriebe der Berliner Restwirtschaft, deren Väter längst in Westdeutschland weilten, um den warmen Subventionsregen zu kanalisieren.

»Oh, ganz allein heute? Und fröhliche Weihnachten aber auch.«, flötete es aus ihm wie aus einem siedenden Wasserkessel. »Aber, aber, Mike, du wirst doch keinen Ärger haben, und hier hab ich auch was Extraschönes für dich, mein Extrasüßer. Und gleich kümmere ich mich persönlich um dich, sobald ich mein Glas mit den Herrschaften dahinten geleert habe.«

Ich zuckte mit keiner Wimper bei dieser Drohung und betete innerlich, dass der verdammte Apotheker bald eintrudelte. Leider wurden meine Gebete nicht erhört. Sich mit dem Freund zu verabreden, war meistens das reine Vabanquespiel. Er neigte zu Nachlässigkeiten. Aber ausgerechnet heute! Am Telefon hatte er noch schallend gelacht, als er unsere Unstimmigkeiten andeutungsweise mitkriegte, aber mittlerweile hatte er sich es wohl anders überlegt. So richtig verübeln mochte ich es ihm auch nicht. Aber als zuverlässigen Freund strich ich ihn endgültig von der Liste. Ohnehin war er immer mehr Rosas Verehrer gewesen, und ich eher gelitten.

Herby war nur was für die sonnigen Tage, den Rest blendete er geschickt aus. Bei sich und erst recht bei anderen.

Aber das sollte sich jetzt ändern, mit psychologischer Hilfe. Und es änderte sich auch - zumindest bei ihm. Er war vollkommen hingerissen von der Therapeutin, auf deren Couch er lag, während er Rede und Antwort stehen musste. Bei ihr ließ er sich privat analysieren, und das war überhaupt kein Schweinkram, wie man proktologisch vermuten könnte, sonder nur schweineteuer. Das zahlte seine Kasse nicht, aber das war es ihm erklärtermaßen wert. Vierzig Eier pro Stunde. Die Dame nahm es von den Lebendigen, wie man so schön sagt, da Tote ohnehin zu Zahlunsverweigerung neigen.

»Ungeheuer, was da rauskommt, du musst unbedingt auch sowas machen«, hatte er einmal geschwärmt, bevor mich sein Blick flüchtig streifte und er fortfuhr: »Allerdings gehört eine gewisse Intelligenz zur Analyse, die nicht jeder mitbringt.«

Wen hatte er eigentlich gemeint?? Die Therapeutin oder sich? Ich schied von vornherein aus. Wie ich mehrfach erklärt hatte, war ich ohnehin zu dumm dazu. Außerdem war ich mir soviel nicht wert, obwohl ich privat versichert war und mich längst aus Vaters Familienvertrag herausgelöst hatte, dessen langes Bestehen mir den günstigsten Tarif bescherte. Sogar eine Krankenhaustagegeldversicherung war abgeschlossen worden, mit Hinblick auf Mutters Vergünstigungen. So seriös war ich geworden, und natürlich auch viel bescheidener. Hundertfünfzig Mark am Tag war zwar nicht die Welt, aber nach damaliger Kaufkraft auch nicht gerade wenig, falls es mal zum Fall der Fälle kommen sollte. Ich ging auf die Vierzig und die sogenannte Midlife-Krisis zu, wäre ich ein wenig pekuniär getröstet.

So ein Mist aber auch mit diesen Stimmungskanonen um mich herum. Noch zehn Minuten Wartezeit und ich war genau so depressiv.

Was für ein Werbegeschenk hatte mir Andreas eigentlich ins Patschehändchen gedrückt? Für einen Kalender, wie im letzten Jahr von Vatern, war es zu klein. Oder war es ein Taschenkalender? Ich war es nachgeradezu leid, Begeisterung zu heucheln für etwas, das ich nicht gebrauchen konnte. Nicht nach diesem Abend, und deshalb hatte ich etwas gezögert mit dem Auswickeln. Ein Taschenrechner kam zum Vorschein. Ohne Werbeaufdruck und ohne Batterie. Solarbetrieben! Als er aufgeklappt wurde, sprang er gleich an. Sogar das wenige Kunstlicht über der Bar reichte, um damit zu arbeiten. Genau so einen hatte ich immer haben wollen. Mann! Wieder einmal hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Andreas, ich liebe dich.

Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3

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