Читать книгу Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3 - Karl Michael Görlitz - Страница 8

Оглавление

IM ZEICHEN DER KOGGE

Da saß ich nun also und mühte mich, dieser Aktion ein Gesicht zu geben. Goldene Zeiten im Schlussverkauf. Ich entwarf goldene Kaskaden als Deckenhänger, Aufsteller, für die Schaufenster, den Lichthof und die Außenwerbung, als Plakat, Anzeige und Flyer. Dann noch eine nette Alternative. Und noch eine, und noch eine. Jedesmal schüttelte der Alte, der höchstens fünf Jahre älter war als ich, den Kopf.

»Nee, Herr Görlitz, dat isset noch nicht! Machense ma noch weiter und kitzeln se dat Letzte aus dem Thema.«

Bei der dreißigsten Alternative beschlich mich der Verdacht, in der Psychiatrie gelandet zu sein und an einer Beschäftigungstherapie teilzunehmen. Später sollte ich erfahren, dass Schlussverkauf und Weihnachten zu den Reizthemen meines Chefs gehörten, mit denen er sich nur höchst ungern befasste. Nur, wenn der Termin unmittelbar bevorstand und auch dann mit Widerwillen. Und bis zur nächsten Rabattschlacht war es noch lang hin. Es war Spätsommer oder Frühherbst, wie man will, und die goldenen Zeiten lagen noch weit in der Zukunft.

Seltsamer Verein, dachte ich so für mich hin und rechnete damit, mich bald wieder zu verabschieden. Bange war mir nicht, in Düsseldorf verdiente ich ohnehin besser.

Aber ich genoss die viele Freizeit, die der Job mir ließ. Die Probezeit nimmst du noch mit, bevor du wieder Pendler wirst. Ist das ein blöder Laden hier!, sprach ich zu mir selbst, bevor ich weiter kritzelte und kritzelte.

Mein neuer Nachbar war mit einem ähnlich wichtigen Projekt betraut. Der Haufen bearbeiteten Transparentpapieres auf seiner Seite nahm langsam beängstigende Ausmaße an, ohne dass es jemanden sonderlich interessiert hätte, am allerwenigsten den Boss. Kam er ins Atelier, warf er einen flüchtigen Blick auf das lichte Gebirge und den pixelnden Kollegen, und verschwand mit einer scherzhaften Bemerkung wie:

»Na, Eisenhärchen, fleißig, fleißig!«

Eisenhärchen mochte das gar nicht. Dabei war seine Frisur wirklich ungewöhnlich. Der Mann hatte einen Kopf wie grob geschnitzt. Typ Hohensteiner Kasper mit einer hohen Stirn, die fast im rechten Winkel zum platten Kopfdeckel stand. Seine spärlichen, gut gefetteten Haare trug er allesamt exakt von hinten nach vorn gekämmt, und genau auf der Stirnkante wie mit dem Lineal abgeschnitten. Furche um Furche in säuberlichen Reihen auf der hellen Kopfhaut, die aussah wie gestreift, und dann, zack, die englische Rasenbank über der Kartoffelnase.

Meist sah ich ihn im Profil und fühlte mich jedesmal an Frankensteins Monster erinnert. Zum Monster fehlten ihm jedoch die Körpergröße und die Verschraubungen an den Schläfen. Allerdings war er auch ohne Muttern verschroben. Schnükel, oder so, hieß er und kam aus dem Osten. Friegekauft oder zwangsüberwiesen blieb ungeklärt, denn eigentlich redete er nicht viel. Im Kaufhaus am Alex war sein vorheriger Wirkungskreis, und dort hatte er wohl allerlei Beschriftungen den Schaufenstern angetan. Je weniger Waren, desto mehr Parolen. Irgendwas wollten die Leute ja sehen. Scheiben-Schnükel hatten die dortigen Kollegen ihn gerufen, aber das hörte er auch nicht gern. Noch weniger aber seinen westlichen Spitznamen, den er regelrecht hasste.

War Butterbeck grinsend verschwunden, explodierte er jedesmal förmlich, wie Rumpelstilzchen, mit welchem er dann auch äußerlich eine fatale Ähnlichkeit aufwies. Dann brüllte er auf, wie ein verwundeter Löwe. »Arschloch verdammtes, elende Drecksau!« und noch einiges Schmeichelhaftes mehr, von welchem der Anstand mir gebietet, es nicht zu Papier zu lassen.

Solange sein Chef aber in natura zugegen war, zeigte er überströmendes Interesse und war mit allen seinen Vorschlägen mehr als einverstanden.

»Selbstverständlich, prima Idee, wird sofort erledigt, Herr Sturmbannführer. Jawoll.« Sogar am Telefon benahm er sich wie in einer preußischen Militärposse, sobald er die Stimme seines Herrn vernahm.

Er knickte bei jedem Jawohl förmlich zusammen, und krümmte sich dermaßen, dass er beim fünften oder sechsten Abnicken mit der Stirn auf das vor ihm liegende Reißbrett schlug. Kein Witz! Bisher dachte ich immer, Hubert von Meyerinck übertreibt hemmungslos in seinen Knallchargenrollen. Mitnichten! Die Wirklichkeit war noch viel gnadenloser und der Mann trug schwere Verletzungen davon. Auch wenn sie äußerlich nicht so direkt zu sehen waren.

War das Telefonat beendet, richtete sich der Kollege wieder auf zu der beeindruckenden Größe seiner 1,60 m und schmetterte den schuldlosen Hörer auf die erschrockene Gabel mit einer Wut, dass die Fensterscheiben vor Angst erzitterten.

»Mistkerl! Blödmann! Scheißauftrag!!!«

Es war eine Wucht. Besonders für den Telefonhörer, der schon zweimal ausgewechselt worden war und den Zuhörer, der ebenfalls immer öfter an Wechsel dachte. Auch Butterbeck tobte gern. Ein blitzeschleudernder Zeus, wenn etwas nicht nach seinem Willen lief. Und das war einiges. Der Mann litt außerdem an einer Entscheidungsneurose. Er ließ Muster für Fenstereinbauten und Sonderschauen anfertigen, gleich im Dutzend. Damit spielte er wie ein kleiner Junge mit der Eisenbahn. Wochenlang, bis es fast zu spät war. Diese Farbe, dieser Stoff vielleicht, jener Warenträger eventuell.

»Herr Spallek, baun se mir ma davon ein Produktfenster!«

Selbst fasste er schon lange nichts mehr an. Dafür gab es Leute. Aber die Kunst des Delegierens lag ihm auch nicht so recht. Nichts lief in seinem Sinne, da er sich nicht richtig mitzuteilen wusste. Es brauchte schon hellseherische Fähigkeiten, um den verborgenen Sinn der gemurmelten Absichten zu erahnen. Aber wehe, jemand schwamm nicht gleich auf der Welle, die Monsieur gerade trug, und hatte etwas missverstanden. Dann wurde sein Büro zur Löwengrube und der Boss brüllte, als wolle er sich gleich selbst fressen. Theater, Theater, der Vorhang geht auf. Kaum war er wieder geschlossen und der Abgekanzelte auf Knien hinausgerutscht, lächelte er spitzbübisch den erschütterten Zeugen an. Ja, unser Ton ist rauh, liebe Frau.

Die anderen gingen etwas pfleglicher miteinander um und murrten nur hinter dem Rücken. Bevor ich anfing, Alpträume von goldenen Zeiten zu erleiden, rettete mich eine dringende Aufgabe. Eine Sonderschau für Küchenzubehöhr, in Neudeutsch Kitchen-Workshop geheißen.

Butterbeck war ausschließlich für Design modernsten Zuschnitts. Davon war er regelrecht besessen. Nostalgie war etwas völlig Fremdes für diesen vorwärts strebenden Geist. Dass es vor der Bauhaus-Moderne schon andere Stilrichtungen gegeben hatte, interessierte ihn nicht die Bohne, ja, war geradezu ein Reizthema für ihn. (Vielleicht weil er auch über keinerlei Wissen diesbezüglich verfügte?)

Und nun hatte die Leitung des Hauses ihm wieder etwas aufs Auge gedrückt, was ihm gar nicht passte. Olle Küchenherde und uralte Kochmaschinen sollten aufgestellt werden, zwischen welchen die modernen Gerätschaften zum Verkauf auslagen. Also, das lag ihm nun gar nicht, und das war mein Glück.

Meine Vorschläge überzeugten ihn, bis hin zu den Zeitungsanzeigen, und plötzlich hatte ich alle Hände voll zu tun, denn auch die Direktionsetage hatte sich begeistert gezeigt von seiner Präsentation. Mir war es recht, dass er die Lorbeeren bei diesen Herren einkassierte, nach Karriere in diesem Haus stand mir nicht der Sinn. Mir war nach Privatleben, da gab es einiges nachzuholen ...

Die Küchenaktion wurde ein Erfolg, mit Anzeigen und Plakaten, die aussahen, wie von Oma im Kreuzstichmuster gestickt. Ganz allerliebst. Von da ging es aufwärts und ich wurde ein wichtiger Mann in der Abteilung, der zu allem seinen Senf dazu geben musste.

Ich brüllte zurück, wenn der Boss laut wurde, dass die Wände wackelten, nur mit dem Unterschied, dass der Ärger von mir nicht so spurlos abprallte, wie bei ihm.

Oftmals dachte ich, der Kerl habe das Gemüt eines Kettenhundes, doch gelegentlich überraschte er auch durch eine gewisse Sensibilität. Ich begann mich für die graue Eminenz im Hintergrund zu halten und zog daraus ein nicht geringes Vergnügen. Manchmal lief ich durch das Riesenhaus und sang: Unter den Blinden ist der Einäugige König. Vergessen war, dass ich in Düsseldorf noch einen Blindenstock auf Rollen, mit Fahrradlampe und Klingel, zum Abschied von Hermann-Josef und Kurt erhalten hatte, bei dessen Auswahl ich sogar noch ahnungslos mithalf.

Düsseldorfs blindester Grafiker hatten sie mich gern gerufen, und in gewisser Weise hatten sie recht damit. Starke Vorstellungskraft und ein optisches Gedächtnis haben auch Nachteile. War ich auf einen roten Umschlag programmiert und der Vorgang mittlerweile in einem grünen abgelegt, sah ich ihn ums Verrecken nicht, auch wenn er direkt vor meiner Nase lag und in dicken Lettern auf sich hinwies. Das ist annähernd so geblieben. Zu Hause brauche ich gelegentlich ein Foto von unserer Wohnung, um die Ecken zu sehen, die noch nicht fertig sind, da ich im Geist immer die Lösung imaginiere. Solange, bis ich tatsächlich den Realzustand übersehe. Erst ein Foto vermittelt den nötigen Abstand, und manchmal erschrecke ich dann regelrecht. Blind.

Überdies wähnte ich mich immer öfter, in einer Behörde gelandet zu sein. Nicht nur wegen der ausufernden Bürokratie der Verwaltung, sondern auch wegen der Mentalität vieler Mitarbeiter. Es gab Laufzettel und Formulare für fast alles, Stechuhren und Stechschritt. Manchmal fand ich es regelrecht verwunderlich, dass in diesem Warenumschlags-Amt auch noch Geld erwirtschaftet wurde, so umständlich, wie alle Vorgänge geregelt waren. Man konnte das Gefühl kriegen, die Verwaltung sei zum Selbstzweck geworden, so emsig, wie sie Vorschriften und Formulare produzierte, die als Hemmschuh wirkten. Irgendwie kannte ich das bisher aus der freien Wirtschaft anders. Ich begriff es einfach nicht und bockte.

Angefangen hatte es mit den Stechuhren und diesen Anwesenheitskärtchen. Entweder ich steckte sie falschrum in die Uhr, oder ich ordnete sie im falschen Fach ein. Nach einer Weile gaben sie erschöpft auf. Ähnlich war es mit dem Pünktlichkeitswahn. Meist blieb ich abends länger, wenn wirklich was zu tun war. Das regte niemanden auf. Aber morgens! Umständehalber musste ich durch die Dekoabteilung, da alle anderen Türen um acht Uhr in der Früh noch geschlossen waren, und jedesmal lief ich meinem Spezi in die Arme, der bei mir nicht weisungsbefugt war. Der war mit der Anwesenheitskontrolle der Dekorateure beschäftigt, da anscheinend die Kontrolle im Personaleingang nicht ausreichend war. Zum Glück mussten die nicht auch noch ihre Fingernägel vorweisen, sonst wäre der Mann bis Mittag beschäftigt gewesen. Rauschte ich nur fünf Minuten zu spät an ihm und seinen Schäfchen vorbei, erscholl mir ein giftiges: »Mahlzeit!« entgegen, was ich mit einem gutgelaunten Lächeln und einem dummen Spruch wie: »Was gab's denn heute?« oder ähnlich Geistreichem quittierte. Auf die Dauer war das ein ödes Spiel, und so gewöhnte ich mir an, erst dann den Arbeitsplatz aufzusuchen, wenn die Luft wieder rein war, und ich plädierte für Gleitzeit.

Tatsächlich war ich dann auch der erste Mitarbeiter, der offiziell diese Möglichkeit erhielt, bis sie allgemein in der Abteilung eingeführt wurde. Passiver Widerstand kann äußerst effizient sein, das wusste niemand besser. Leider war ich dann auch der erste, dem sie wieder aufgekündigt wurde, da mein Minuskonto auf unvertretbare Weise angeschwollen war. Das war einige Jahre später, als die Gnadensonne nicht mehr so hell strahlte.

Es war nicht nur so, dass die Grafikabteilung verdächtig klein war und technisch vollkommen unzulänglich ausgerüstet, nein, es gab sogar noch eine Konkurrenzabteilung namens Verkaufsförderung, die ähnliche Ziele verfolgte, allerdings mit noch weniger Effizienz.

Und das Beste war: die wirklich wichtigen Großanzeigen wurden außer Haus gegeben. Ein Dozent vom Lette- Verein erledigte das. Ein wirklich netter Mann und guter Grafiker, der sich damit ein dickes Zubrot verdiente. Mir gefiel überhaupt nicht, wie man ihn ohne Vorwarnung von heute auf morgen absägte, nachdem ich das Geschäft aufs Auge gedrückt bekam. Jedoch was sollte ich machen? Wir verstanden uns gut, mir grollte er nicht, und überdies hatte er es kommen sehen, nachdem immer mehr Aufträge an meinen Schreibtisch abgeladen wurden.

Nach einem halben Jahr hatten auch die Tunten am Mittagstisch den Schock überwunden, dass ich mich ungefragt dazu gesellt hatte und nun auch das Frühstück mit ihnen gemeinsam verzehrte. Es war der Tisch der Auserwählten, der Erstkräfte, an welchem man nicht ungebeten saß. Anfangs versuchten sie mich zu ignorieren und benahmen sich hochmütig, aber steter Tropfen höhlt den Stein, wie schon gesagt.

Auch Hagen, der mich ja auch als Privatperson kannte und zu vermitteln versuchte, konnte an ihrer Abneigung wenig ändern. Es war und blieb eine Unverschämtheit in ihren Augen. Dabei hätte ich in der Silberterrasse sitzen können, aber mir war das Personal lieber, zumal einige allerliebste Geschöpfe die Pause versüßten. Auch die blonde Lichtgestalt aus Butterbecks Vorzimmer saß mit an dem Tisch. Und wenigstens in den Pausen wollte ich was Schönes vor Augen haben. Es war nicht so, dass ich mich rasend in ihn verliebte, diese Position war an Rudi vergeben, allerdings, aus dem Bett geworfen hätte ich ihn auch nicht.

Nein, es war wirklich nur der Wunsch etwas Nettes zu sehen, und außerdem saßen noch andere Cremeschnittchen am langen Tisch mit der orangefarbenen Resopalplatte, die vergeblich ein wenig Fröhlichkeit in der muffigen Kantine verbreiten sollte. Orange und Braun waren die Grundfarben im Saal, wie in Neukölln. Hier kam kein Fremder rein, er wäre auch nicht freiwillig geblieben. Ein riesiger Raum, verräuchert und kahl. Selbst die große Fensterfront war durch halbtransparentes Glas uneinsehbar. Aber was da so manchesmal hinter der Milchglasscheibe saß, war spektakulär.

Besonders die weiße Flotte der französischen Köche und Bäcker war mir eine Augenweide, auch wenn sie nicht schwul waren. Oder die Schönheitsköniginnen aus der Parfümabteilung, von welchen die Meisten unverkennbar weiblichen Geschlechts waren, zwischen denen aber einige ebenso unverkennbare Visagisten rumzickten, deren bestes Ergebnis das eigene Gesicht darstellte. Es wollte gar nicht zusammenpassen, die elegant ausstaffierte Gesellschaft auf den schäbigen Plastikschalen mit Stahlrohrbeinen in der nüchternen Umgebung. Als sei man in der Theaterkantine eines Gesellschaftsstückes gelandet mit großer Besetzung gelandet.

Aber es war hochinteressant, denn stets herrschte ein eifriges Kommen und Gehen, da die Pausenzeiten gestaffelt waren. Die Kantine war anregend, das Essen weniger. Zwei Hauptgerichte. Ein schlichtes für den kleinen Geldbeutel und ein exklusives für die Besserverdienenden. Das trennte die Spreu vom Weizen. Am Essplatz von Herrn Bukett, der ebenfalls mit einigen seiner alten Getreuen an einem Vierertisch saß, verzehrte man natürlich die gehobene Variante, egal was angeboten wurde.

An unserem Tisch ging es eher gemischt zu. Einer war so geizig, dass er sich noch die Teebeutel von zu Hause mitbrachte, weil sie an der Theke einen Groschen kosteten, andere taten so, als wären sie mit Goldlöffeln im Maul geboren worden. Man konnte seine Studien machen. Lediglich zwei Heteros saßen bei uns. Ein Substitut mit Frau und Kind und unsere Frau Müller. Ach ja, das Neutrum Gisela war auch meist anwesend und beklagte sich bei Hagen über die Ungerechtigkeit des Tages. Der große Wortführer war ein Kleiner Bayer, pfiffig und wendig, jederzeit zu einem Schmäh bereit. Ein lustiges Kerlchen, welches stets in einen Rechtsstreit, meist mit seinem Vermieter, verwickelt war und saukomische Anekdoten darüber lautstark zu verbreiten wusste.

Nach dem hinreißenden Assistenten gefiel der mir am Besten. Gern kam er ins Atelier geschlichen, auf der Suche nach menschlicher Wärme nebst einem Gläschen, um sein Öfchen anzuheizen. Der Mann war erfrischend direkt und gehörte zu den beliebtesten Kollegen, worauf er ziemlich stolz war. Kurt der Kurze.

Nach Feierabend gingen wir gern zusammen noch ein Bier trinken, in der Andreas Kneipe gleich neben dem großen Kaufhaus. Man konnte diese Kneipe auch als erweiterte Kantine für uns betrachten, da einige schon die Mittagspause am Tresen verbrachten. Eigentlich war es verboten, ohne Vermerk auf der Stempelkarte das Haus zu verlassen. Aus versicherungstechnischen Gründen, wie es hieß, aber Typen wie Waldi, das war unser Stoffkünstler, oder die etwas robusteren Herren aus der Tischlerei und der Schmiede, ignorierten ständig die Vorschriften und verbrachten ganze Nachmittage gesellig. Bis der Pieper sie ans nächste Telefon rief, um Rückmeldung zu machen und zu erfahren, wo die nächste Arbeit auf sie lauerte.

Hätte Herr Bukett auch nur geahnt, wo sich seine Schäfchen herumtrieben, wären sie auf der Stelle gefeuert worden. Bestrafung war dieses Mannes höchstes Vergnügen. Und er hielt viel aus, um dieser Lust weiterhin zu frönen. Manchmal sah man ihn aus Butterbecks Zimmer kommen, grau und erschöpft, denn er war sein beliebtestes Hassobjekt und der Boss ließ keine Gelegenheit aus, ihn zu demütigen.

»Hört denn das nie auf?«, vernahm ich einmal zufällig, als er sich allein wähnte und verzagt die Flügeltür hinter sich und seinem Herrn schloss Er hätte fast Mitleid verdient, aber anderseits war er so boshaft, dass das Mitgefühl sich bei allen, die enger mit ihm zu tun hatten, in Grenzen hielt.

Leider, leider besaß der Mann auf der Seite zur Kneipe hin keine Augen, denn nur die Geschäftsleitung hatte Fensterscheiben, die einen Durchblick ermöglicht hätten. Dort aber hielt er sich so gut wie nie auf. Und machte er einen Kontrollgang ums Haus, musste er sich aus versicherungstechnischen Gründen unmittelbar an den Schaufensterscheiben entlang bewegen, da er sonst wegen Verlassens des Betriebsgeländes hätte ausstempeln müssen. Also konnte er auch nicht mal eben über die Straße, um Stichproben vorzunehmen. Wie ein hungriger Hai im Aquarium kreiste er mehrmals täglich von außen um die Schaufenster, immer auf der Suche nach Mitarbeitern, die schnell eine Zigarette rauchten oder ein Privatschwätzchen hielten. Er hatte so eine Art, unvermittelt wie ein Geist aufzutauchen und er hatte eine Nase für Saumseligkeiten.

»Haben Sie nichts zu tun !?« Dieser Spruch, mit zuckersüßer Stimme gestellt, war gefürchtet, denn meistens war er der Beginn größter Unannehmlichkeiten.

So kamen die Kneipenbesucher immer davon. In den Hintergrund abtauchen, wenn er ums Gebäude schlich, und wenn der Pieper loslegte, sichern, schwupps über die Straße zur Toreinfahrt oder zum Seiteneingang mit dem Fahrstuhl, der selten genutzt wurde und vorrangig den Diktatoren aus der zweiten Etage diente.

Bedauerlicherweise saß in unserer Kantine nicht nur der schöne Jürgen aus dem Vorzimmer und sein fast genau so lieblicher Exfreund, der im übrigen auch Jürgen hieß. Natürlich nicht, denn auch der weniger attraktive Kollege hatte hier sein Plätzchen. Mister Neumann entsprach sämtlichen Vorurteilen, die Heteromänner von Schwulen haben, gleich im Quadrat. Vom einfachen Dekorateur war er emporgestiegen in die lichten Höhen von Butterbecks Sekretariat, wie auch sein schöner Kollege.

Jürgen Menzel war gelebte Diskretion, sein Büropartner das genaue Gegenteil. Meist erschienen sie im Duett. Wie Max und Moritz auf der Berliner Durchreise (bekannte Modewoche). Der in sich gekehrte große Blonde und sein unentwegt plappernder Gegenpart, der ständig Belanglosigkeiten von sich gab. Ein sonniges Gemüt. Mit einer Selbstsicherheit, die fast schon beneidenswert war. Ich ärgerte mich manchmal, wenn ich eine unbeabsichtigte Blödheit begangen hatte und es erst hinterher merkte. Dieser hier kannte keinerlei Selbstzweifel. Er war authentisch bis zur Selbstaufgabe und merkte nicht einmal, wenn er ungeheuren Blödsinn verzapfte. Für ihn war das außerordentlich befreiend und seine Welt blieb zeitlebens zuverlässig flach.

Direkt hässlich konnte man ihn auch nicht nennen, so ein bisschen Typ Elton John, den ich auch nicht so unbedingt sexy finde. Sein Freund war ein heißblütiger Italiener, ein bisschen klein und pummelig, aber oho. Originell waren sie beide.

Ausgerechnet dieser Kollege schien ein Auge auf mich geworfen zu haben. Irgendwie hatte ich den Aufprall nicht gespürt, weil ich meinerseits nur Augen für die Herrlichkeit an seiner Seite besaß. Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hatte er mich zu einem privaten Treffen unter Kollegen zu sich nach Hause gelockt. Da geht man doch auch gern mal eine private Verbindung ein, wenn ein solcher Kreis von berufsbezogenen Fachleuten zum Gedankenaustausch auch noch die Freizeit opfert.

Ja, und da sitzt dann kein großer Blonder oder sonst ein Kollege, außer dem festlich geschmücktem Gastgeber, und der erzählt dir, wie gut er erst einmal in seiner Jugendzeit, in Unna vor vier Jahren, ausgesehen hat. Und zum Beweis hat er dir einen in Kalbsleder gebundenen Folianten in XXL-Format auf den Schoß gedrückt, der um die Zeugungsfähigkeit fürchten lässt, und in welchem er eifrig blättert, von Geburt bis Mallorca-Urlaub in Monaco, während er immer näher rutscht, und die Tür geht auf, weil der heißblütige Italiener erschöpft von der Arbeit nach Hause kommt. Wo Italiener doch so eifersüchtig sind und kleine Pötte erst recht schnell überkochen. Der arme Carlo mag sich gewundert haben, dass meine Begrüßung so enthusiastisch ausfiel. Man weiß ja nie, ob die Vendetta in diesen Kreisen gänzlich ausgestorben ist.

Mir gegenüber legte er jedenfalls von Stund an ein gewisses Misstrauen an den Tag, während ich ihn nie darüber aufklären mochte, warum ich eigentlich gekommen war. Das erschien mir herzlos. Und so hörten wir noch gemeinsam ein abwechslungsreiches Stündchen deutsches Schlagergut. Ja, und dann hatte ich vorher noch blöderweise eine Geburtstagseinladung bei seinen Freunden angenommen. Wenn man noch fremd ist, eine gute Gelegenheit, den Bekanntenkreis zu erweitern, und Kollege Uwe hatte das Maul ziemlich weit aufgerissen.

»Du führst mich in die Geheimnisse der Grafik ein und ich dich in die Berliner Gesellschaft«, hatte er getönt und dabei eine Liste von Prominenten heruntergerasselt, die klang wie das Berliner Who is Who, die ebenfalls eingeladen worden waren. Er kannte diese tatsächlich, denn er führte die VIP-Kartei des Hauses und entschied, wer zu welchem Empfang eingeladen wurde und welcher Autor zur Signierstunde. Natürlich gab es gewisse Anweisungen vom Direktorium, aber die Einladungslisten liefen über seinen Schreibtisch, und die Verhandlungen mit den gehätschelten Promis führte fast ausschließlich er mit seiner leicht quäkenden Telefonstimme, die zu exorbitanten Schmeicheleien fähig war.

Ebenso stellte er die Programme für Veranstaltungen im Haus zusammen, und die Mannequins für Modenschauen wurden auf seine Empfehlung engagiert, vorausgesetzt Butterbeck war mit deren Aussehen einverstanden. Prominenz war Uwes ganze Welt und die Upperclass sein Leben. Darin harmonierte er auch vollkommen mit seinem Freund Carlo, der die Generalvertretung für ein bekanntes Kreditkarten-Unternehmen innehatte. Beide wohnten standesgemäß am Rüdesheimer Platz, und bei der Einrichtung war auch nicht gespart worden. Dort sah er aus wie auf den Fotos, die in Illustrierten von den Behausungen prominenter Mitbürger Zeugnis ablegten. Jaha. Und nun sollte ich ganz allein in diese illustre Gesellschaft eingeführt werden, denn Rudi hatte wenig Lust verspürt auf den ganzen Rummel.

Schon das Haus in der Kantstraße, in welchem die Prominenzfete stattfinden sollte, wirkte nicht eben vertrauenerweckend, aber derlei war in Berlin bedeutungslos. Hinter wackeligen Stiegen und Putzschäden im Treppenhaus verbargen sich oftmals ganze Schlösser, zumindest im Vorderflügel. Hinten allerdings hatte man schon vor dem Krieg gespart. Sogar unsere Wohnung in Neukölln hatte einst den beliebten Personaleingang besessen, jetzt war er zugemauert. Dieser Quatsch mit dem Status war längst abgeschafft worden. Unsereins konnte nur grinsen über Schilder wie Aufgang nur für Herrschaften oder die formidablen Klingelkästen in der Küche, die anzeigten, in welchem Raum Hilfe benötigt wurde. Wahrscheinlich damit sich das blöde Zimmermädel nicht in der weitläufigen Dreizimmerresidenz verirrte. Viele Mieter bevorzugten mittlerweile die relative Ruhe der Hinterhäuser, abgeschirmt vom Straßenlärm. Und dennoch! Irgendetwas war geblieben von der minderen Wertschätzung des Gartenhauses, wie es im eleganten Westen Berlins vornehm umschrieben wurde.

Der Innenhof, den ich durchquerte, zeigte noch Spuren des ehemaligen Großbürgertums, mit seiner runden Rabatte in der Mitte, die nur wenig verwildert war. Aber die Zweizimmerbutze, die ich betrat, war dann doch eher auf Personalniveau. Wohin man auch blickte, waren Bömmelchen und Fransen, kunstseidene Lampenschirmchen mit Glasperlenbehang in Puffrosarot. Rosa Wolken vor den Fenstern, rosa Stimmung unter den ausschließlich männlichen Gästen. Hier sollte ein Stelldichein der Prominenzen stattfinden? Hatte denen noch keiner gesagt, dass die Sechziger Jahre längst vorbei waren? Im Trend lag immer noch Art-Deko, die Retrowelle schwappte erst langsam zu den Fünfziger Jahren. Oder waren die so ultramodern, dass sie zehn Jahre einfach übersprangen, und ich erlebte zum ersten Mal, wie wir Geschichte wurden? Nein, wohl doch nicht, die Gäste waren originell. Die meisten von ihnen waren von der effeminierten Sorte, die angeblich viel mutiger ihre Sexualität zeigten, als wir gewöhnlichen Homomänner. Diese hier waren besonderes mutig.

Schon im Hof war das Gekreisch unüberhörbar gewesen. Ich glaub ja gerne, dass eine gewisse Courage dazu notwendig ist, sich dermaßen affektiert zu geben, aber warum es immer die hässlichsten Vögel der Community sein müssen, erklär mir mal einer. Weil bei denen sowieso schon keine Chance besteht, den Traummann zu finden? Und eh alles egal ist? Emanzipation ist ja gut und schön, aber muss man seine Sexualität gleich dermaßen plakativ dem abgeneigten Publikum vor die Füße knallen? Und dauernd?

Oder gehts es auch eine Nummer leiser und etwas weniger exaltiert. Die Parallelen zur Frauenemanzipation schienen mir unübersehbar. In den Fernsehdiskussionen rissen auch immer jene den schmallippigen Mund am weitesten auf und tönten über männliche Gewalt gegen Frauen, die sie am wenigsten zu befürchten hatten. Man muss nicht gleich ein Macho sein und beladen mit Vorurteilen, wenn man die Komik sieht. Und komisch konnten sie sein - gelegentlich. Meist fand ich allerdings die Kreischschwestern nervtötend und ziemlich unoriginell. Nur wenn eine gewisse Pfiffigkeit dahinter steckt, mag ich es leiden. Und besonders helle schien mir an jenem Abend keiner.

Schon der Gastgeber starrte mich fassungslos an, nachdem er sein Geschenk ausgewickelt hatte. Jüngst hatte ich mir eine ultraschicke Artdeco-Schachtel als Zigaretten-Etui in Schwarzlack mit Silberstreifen gegönnt. Mit wehem Herzen hatte ich mich von dem schönen Stück getrennt. Und nun das! Der Typ sah nur eine alte Blechschachtel vor sich. So eine Schachtel war das. Kollege Uwe war an meine Seite geeilt, um die Vorstellung zu übernehmen. Der jauchzte auch gleich los:

»Ah, wie toll, Mike, das ist ja reines Art-Deco!«

Stimmt, vorher hatte ich sie noch extra sauber gemacht und auf Hochglanz poliert. Die Dose glänzte mit mir um die Wette. Offensichtlich war das Geburtstagskind in Stilfragen nicht so bewandert, denn sein Mienenspiel änderte sich nicht. Immer noch stierte er kommentarlos auf das hochelegante Etui.

»Meensch, wo hast du das nur aufgetrieben?«, sprang Uwe bei. »Das ist ja supertoll!«

Für teures Geld hatte ich im Antiquitätenhandel die Rarität erworben und mein Herz blutete noch ein wenig, sie gleich wieder herzugeben. Der so Beschenkte war leider nicht zu überzeugen. Blech bleibt Blech, und Uwe redete ohnehin viel Blech. Mit spitzen Fingern packte er das alte Ding auf den Gabentisch und würdigte es keines Blickes mehr. Ebenso wenig wie mich, was in dem kleinen Wohnraum gar nicht so einfach war, denn ich fand mich alsbald von zänkischen Nebelkrähen aller Art umlagert, die mich anscheinend für prominent hielten. Wer weiß, was Uwe ihnen vorher erzählt hatte. An blühender Phantasie bestand offensichtlich ein gewisser Überschuss in seinen grauen Zellen. Ach nein, bei ihm waren sie ja rosa. Die von ihm groß angekündigten Spitzen aus Film, Funk und Fernsehen hatten es allesamt vorgezogen, einen anderen Termin wahrzunehmen.

Da war keine Brigitte Mira und kein Günther Pfitzmann mit Würstchen vom Grill. Die Dinger kamen einfach aus der Dose. Keine Evelyn Künneke oder Hildegard Knef hatte den Nudelsalat zubereitet. Nichts, nada. Selbst Uwes blonder Kollege glänzte wieder durch Abwesenheit. Pech gehabt. Stattdessen wurde ich umlagert wie Wallenstein und das Geburtstagskind immer saurer. Kaum jemand kümmerte sich noch um seinen Ehrentag und das er Mitarbeiter der Woche in der Parfümabteilung geworden war. Die Blicke, die er verschoss, wurden immer giftiger. Mit Mühe gelang es mir, mich für einen Moment freizukämpfen.

»Muss eben Zigaretten holen!« Mit diesem Spruch hatte sich schon Allerhand verkrümelt. »Bin gleich zurück!«

Na, das kennt man ja. In zehn Jahren oder so. Am Bahnhof Zoo wählte ich am Nachtverkauf für Drachenfutter drei gelbe Rosen, deren Blütenränder zusätzlich mit etwas Glimmer aufgehübscht waren. Das fand ich angemessen. Zu üppige Sträuße wirken immer so neureich. Dann ging ich zur Party zurück und schnappte mir das unwillkommene Geschenk und legte die verzuckerten Rosen an seine Stelle. Noch einmal winkte ich den verblüfften Fans zu und verschwand. Dort wurde ich auch nicht wieder eingeladen. Irgendwie war ich wohl nicht der passende Umgang.

Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3

Подняться наверх