Читать книгу Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3 - Karl Michael Görlitz - Страница 6

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ERSTE SCHRITTE

Anfangs war es mehr eine Wochenendbeziehung. Es war höchste Zeit geworden, ein wenig öfter nach den Rechten zu schauen, denn Rudi hatte schon wieder einen reizenden jungen Mann, mit dem er sich traf. Für eine rein platonische Freundschaft war dieser einfach zu hübsch. Rudi, der Schlingel, hatte jedesmal dieses gewisse Glitzern im Blick, wenn er von ihm sprach. Ein Glitzern, das sämtliche Alarmsirenen bei mir aufjaulen ließ.

Was du nicht besiegen kannst, mach zu deinem Freund.

Da ich ebenfalls bei ihm ein gewisses Wohlgefallen erregte, so wie er bei mir, fand er sich alsbald als umworbener Hausfreund bei uns wieder. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Im ersten Jahr pendelte ich zwischen Düsseldorf und der neuen Heimat. Hermann-Josef brauchte mich noch für seine Agentur, sowie auch einige Andere.

In Berlin gab es vorerst wenig zu tun für einen Freelancer, den niemand kannte und niemand brauchte. Der Arbeitsmarkt in meiner Branche war klein und es stand ein gewisses Überangebot heimischer Fachkräfte einem Mangel an Arbeitsplätzen gegenüber, da die Hochschulen munter alljährlich noch neue Konkurrenten auf den Markt entließen.

Dieser Auffassung war man auch beim Arbeitsamt, als ich mich harmlos nach Umzugsbeihilfen erkundigte, die der Senat dringend gesuchten Arbeitsplätzen gewährte.

»Na, das hat uns gerade noch gefehlt«, seufzte die Beamtin, mit welcher ich konferierte. »Noch'n Grafiker aus Westdeutschland, wo wir unsere eigenen schon nirgendwo mehr unterbringen!«

Kreative im Dutzend billiger und im Einzelnen fast umsonst, da sich alle unterboten.

Die Industrie war abgewandert und ihre Dienstleister hinterher. Den traurigen Rest des Kuchens mussten sich zu Viele teilen.

Nach längerem Suchen fand sich endlich eine kleine Agentur, die gelegentlich Hilfe benötigte. Man warb mit knatternden Reimen für eine Brotfabrik. Und für eine Kette von Autowaschanlagen mit Herz, auf deren Logo ein lustiges Auto blinzelte. Kleinvieh macht auch Mist. Wer wusste das nicht besser als ich, und was passt besser zum Broterwerb als die Gestaltung von Butterbrotpapier. Steinofen, Doppelkruste, Bauernschnitten, Hefeweizen. Es war entspannend. So entspannend, dass ich im Halbschlaf zweimal die Textblöcke für die Verpackungsseiten verkehrt herum montierte. Danach wollte man nicht mehr so gern mit mir. Zu Recht!

Für Tunten gab es eigentlich nur eine Alternative, und die hieß KaDeWe. Also bewarb ich mich und forderte einen für Kaufhausverhältnisse derart heftigen Preis, dass der Werbeleiter ziemlich blass um die Nase wurde. Er versuchte, mich herunterzuhandeln, und ich kam ihm ein wenig entgegen, aber nicht viel.

Danach hörte ich nichts mehr und ich rechnete schon lange nicht mehr mit eine Anruf, der zu einem zweiten Gespräch bat. Es hatte wohl etwas länger gedauert, bis der Mann der Geschäftsleitung klar gemacht hatte, dass er unbedingt einen Spezialisten aus Düsseldorf brauchte. Einen, der fast genau so viel verdiente, wie er selbst. Ganze hundertfünfzig Mark betrug der Unterschied, da ich später Gelegenheit bekam, das streng gehütete Geheimnis auf der Gehaltsabrechnung kurz einzusehen.

Ausschlaggebend für meine Einstellung waren vermutlich die netten Anzeigenentwürfe für Helmut Horten, die für eine warme Mahlzeit am Wochenende hergestellt worden waren und die mir jetzt plötzlich halfen. Was hatte ich damals geflucht, aber man soll ja nie nie sagen. Also sagte ich zu, obwohl ich als Pendler wesentlich mehr Knete heranschaffte.

Rosas Wohnung war in ein Zweizimmer-Appartement zurückverwandelt worden. Mein Zimmer überließ ich komplett Rosa, im anderen Zimmer hatte ich ihr ein schönes Wohn- und Schlafzimmer hergerichtet, mit den Möbeln, die wir uns geteilt hatten.

In Berlin stand der traurige Rest des geliebten Salons, der nun endgültig auseinandergerissen war, und Mutter hatte ich die grüne Daunengarnitur abgeschwatzt, die nutzlos in ihrem Keller stand, obwohl sie noch tadellos in Ordnung war. Lindgrüner Ziegenhaarsamt von den Bielefelder Werkstätten, fast nicht tot zu kriegen. Die Rückenkissen sind teilweise noch in Betrieb, längst neu bezogen und so verwohnt, dass sie in den Hundekörbchen gelandet sind. So vornehm liegen unsere Köter, auf reiner Daune, während unsereins mit Schaumflocken, (nicht nur vorm Maul), vorlieb nimmt.

Einen Gründerzeit-Esstisch im Barockstil mit gewundenen Beinen, den eine Nachbarin zum Berliner-Haushalt beigesteuert hatte, nahm ich mit, den runden Klapptisch mit den Stühlen behielt Rosa, sowie Sekretär und Schreibtisch, nebst Sitzecke und Hausrat. War ich in Düsseldorf, schlief ich auf meinem alten Bett, in Berlin pennten wir auf Rudis aufgeklappten Schaumstoffsofa, das herrlich ungemütlich war.

Überhaupt verloren sich unsere paar Möbel in der Neuköllner Riesenwohnung fast völlig, aber jeder Neuanfang braucht seine Zeit.

Wir waren es nicht gewohnt, beim Einzug gleich eine Kompletteinrichtung auf Kredit zu erwerben, so wie das heute gern gemacht wird. Erst nach und nach füllten sich die Räume und es war ein Gefühl, als lebte man in einem Fass ohne Boden, aber andererseits freute man sich um so mehr über jede größere Anschaffung. Wie langweilig es ist, gleich in ein perfektes Nest von der Stange zu hüpfen, war bei dem Pärchen über uns zu beobachten, unseren neuen Nachbarn. Äußerlich alternativ anzusehen, aber im Herzen stramm konsumorientiert, langweilten sie sich bald so sehr, dass nur eine Trennung Abwechslung versprach.

Dennoch waren es die einzigen in dem großen Eckhaus, die uns akzeptabel schienen und mit denen wir Kontakt pflegten, der über freundliche Bemerkungen im Hausflur oder Fahrstuhl hinausging.

Unter uns befand sich eine internistische Praxis, was bedeutete, dass man des Abends nicht so viel Rücksicht nehmen musste, denn das Parkett ohne Teppiche knallte ziemlich, wenn man mit Straßenschuhen darüber huschte. Neukölln hieß der Bezirk, in dem wir nun wohnten, und selten gab es eine Gegend, die schlechter zu ihrem Namen passte, denn neu war hier gar nichts. Eher im Gegenteil. Neu waren hier lediglich das Hertie-Kaufhaus und einige Häuser, die in den 50er Jahren die Bombenlücken füllten, und die auch schon wieder reichlich mitgenommen wirkten. Berliner Mischung in der Grundfarbe dreckig. Ein Arbeiterviertel, ziemlich hässlich, aber mit verstecktem Charme, der wirklich gut versteckt war.

Im ehemaligen Rixdorf lauerten gemütliche Bauernhäuschen mit Obstgärten hinter schwärzlichen Mietskasernen, was zutiefst überraschend war, und unweit davon spielte ein kompletter Park, mit Orangerie und leider vertrockneter Kaskade, Häschen in der Grube. Ein reicher Kiesgrubenbesitzer hatte seinen Tagebau mit freundlichen Grüßen und neuer Füllung an die Stadt zurückgegeben. Als noble Geste und völlig unpassend in der ärmlichen Umgebung. Aber schön.

Es gab noch einen Dorfplatz mit Barockkirche, Schmiede, Böhmischen Gottesacker und Stadtvillen der wohlhabenderen Landmännern ringsum, aber das gehörte schon nicht mehr zu unserem direkten Wohnumfeld, es lag aber sozusagen vor der Haustür, wie in anderer Richtung Kreuzberg, welches das berüchtigte Szenenviertel darstellte.

Zum Einkaufen für den täglichen Bedarf gab es das Warenhaus am Rathaus, zwei Fleischer, einige Häuser weiter Bäckerei und Obstladen. Im Parterre hatte sich eine Pizzeria mit äußerst schlichter Dekoration breitgemacht, und um die Ecke hatten sich noch Tier- und Zahnarzt niedergelassen. Deren Eingang war ungleich prächtiger, mit Stuck und Marmor, bei uns war der Gips abgeschlagen, dafür besaßen wir einen Fahrstuhl. Eine Bombe war im Weltkrieg ins Dach gerasselt und das teilzerstörte Haus war schmucklos wieder bewohnbar gemacht worden. Unsere Wohnung ging um die Ecke, was günstig für die Raumfolge war und uns das sogenannte Berliner Zimmer ersparte, ein Durchgangszimmer, welches den Seitenflügel mit dem Vorderhaus verband, wo sich ein zweiter Flur anschloss, der zur Küche, Schlafräumen und Dienstbotenkammer, sowie Personaleingang führte. Fast alle Großraumwohnungen waren ähnlich geschnitten, die nicht ganz so wichtigen Zimmer zum Hof, der im übrigen auch lärmgeschützter war.

Wir schliefen im Balkonzimmer, welches zur Innstraße lag. Gegenüber, auf Augenhöhe lag ein Ehepaar fast den ganzen Tag auf der Lauer. Hingebreitet auf Kissen im Fenster folgten ihre Gesichter wie Stiefmütterchen dem Lauf der Sonne, denn ansonsten gab es nicht viel zu sehen in der ruhigen Straße.

Unter ihnen ging ein besonders hübscher Apotheker, der auch nichts weiter mit der Geschichte zu tun hat, seinen Geschäften nach. Außer vielleicht, dass er einmal zum Kaffee herüberkam und sich angenehm überrascht zeigte, dass hinter den ständig geheimnisvoll zugehangenen Fenstern sich so etwas wie ein fast normaler Haushalt verbarg.

»Wir waren so neugierig, was sich wohl hinter den Pferdedecken in ihren Fenstern verbergen mochte, dass ich unbedingt einmal nachschauen musste.«, erklärte er uns erleichtert. So, so, als Pferdedecken wurden meine eleganten Fensterdekorationen von unten wahrgenommen! Nun ja, Heteromänner verstehen eben nicht viel von der Kunst, mit Stoffen zu zaubern, auch wenn sie zauberhaft aussehen.

Die Gegend litt schwer unter ihrer Bedeutungslosigkeit, dabei lag um die Ecke ein Hallenbad, von welchem man wahre Wunderdinge hörte. Ein Badepalast wie im alten Rom, mit säulenumstandenen Becken und Mosaiken unter der Gewölbedecke, Massagebänken aus eitel Marmor und wasserspeienden Delphinen, die von allerliebsten Putti geritten wurden. Das wärs eigentlich gewesen, um mich mit der Ödnis ein wenig mehr anzufreunden, aber das Bad war wegen Renovierung geschlossen und blieb es, solange wir in der Sonnenallee wohnten. Erst kurz vor unserem Wegzug wurde es feierlich wiedereröffnet und wir bekamen Gelegenheit, es trockenen Fußes zu durchschreiten. Gebadet haben wir dort nie.

Auch die Sonnenallee war eher schattig, vier Reihen alter Kastanien säumten Gehweg und Mittelpromenade, auf der schon lange niemand mehr promenierte. Im Sommer hatte man den Eindruck eines grünen Tunnels, der sich endlos lang hinzog. Das war wirklich schön und versöhnte ein wenig mit dem Blick auf den immergrünen Kunstrasen des Sportplatzes mit seinem gnadenlosen Flutlicht auf der anderen Straßenseite. Elf Freunde sollt ihr sein. Oftmals hörte sich das gar nicht so an, besonders am Sonntag, wenn spärliches Publikum das Rasengrün umstand und unzufrieden johlte. Hier brauchten wir keine Vorhänge um neugierige Blicke abzuwehren, und hier saßen wir am Wochenende mittags beim Frühstück und warfen gelegentlich einen gelangweilten Blick auf die vierundvierzig strammen Männerbeine, die sich unten tummelten. Fußball! Das war uns viel zu rustikal.

Da schlurrten wir doch lieber in den Hauspantöffelchen in unser geliebtes Ili-Kino, gleich neben dem Fußballfeld. Ein Kino, in welchem die Zeit in den 50ern stehen geblieben war, mit verblichenen Diplomen im Foyer, dessen Tapete auch schon museal zu nennen war, die es als Filmkunst-Lichtspieltheater von Weltrang auswiesen.

Der Typ hinter der Kasse war klasse. Genau so verschroben wie das Kino, welches er praktisch im Alleingang betrieb. Es gab zwar noch einen Filmvorführer und eine Chefin mit Kontrollzwang, mit welcher er telefonisch in ständigen Kontakt stand, aber gesehen hat man beide nie zusammen. Vielleicht führte er auch Selbstgespräche mit dem Telefonhörer, den er ständig am Ohr hatte und nur beiseite legte, um in der Kasse nach Wechselgeld zu kramen. Hatte man noch einen Zusatzwunsch, wie ein Eis oder ein Tütchen Gummibärchen, geriet er prompt ins Schleudern, denn dafür gab es eine Extrakasse. Und der Vorgang des Geldwechselns begann erneut. Schließlich musste alles seine Ordnung haben, und nachdem er die übergeordnete Instanz telefonisch informiert hatte, reichte er beides durch den Schlitz im Fenster, welcher danach wieder sorgfältig verschlossen wurde. Danach erhob er sich von seinem Platz und schlurfte aus dem Kassenbereich, nicht ohne vorher der Chefin kurz Bescheid zu geben, dass er nun den Akt des Einlasses vornahm.

In den 50er Jahren mochte er eine flotte Erscheinung gewesen sein, wenn er sommers in kurzen Höschen und nabelfrei, mit auf der mageren Brust flott zusammengeknoteten Hemd à la St.Tropez und Badelatschen hinter der Eingangstür erschien, aufschloss, und die Besucher nach strenger Prüfung der Kinokarte, die er soeben selbst verkauft hatte, einzeln einließ, bevor er wieder absperrte und die gemächliche Prozedur beim nächsten Besucher von neuem begann. War man erst einmal drin, war man auf sich selbst angewiesen und konnte sich hinsetzen, wo man wollte, denn es gab nur einen Einheitspreis. Zum Glück war es nie voll, denn ansonsten hätten die letzten Kunden rechts gehen müssen, um den Hinausströmenden Platz zu machen, die über den gesehenen Film diskutierten.

Die Leute in der Warteschlange murrten nur verhalten, denn wer ins Ili ging, wusste Bescheid und kam rechtzeitig. Wer wollte auch schon die blöden Werbefilme sehen. Erst wenn der Hauptfilm bereits angefangen hatte, machte sich gewisse Unruhe breit und der Mann an der Kasse geriet in Schwierigkeiten, die er mit der Chefin erst ausdiskutieren musste, bevor er zur Tat schritt. Gelegentlich zeigte man tatsächlich Filmkunst, wohl um den Ruf zu wahren, aber in der Hauptsache wurden die üblichen Blockbuster in der zweiten Verwertungskette nachgespielt, da es noch keinen Video-Verleih gab. Das Haus hatte aber eine Filmspezialität, die jede Samstagnacht gezeigt wurde: Cheech and Chong, die Dauerbekifften. Viele der sogenannten Off-Kinos hatten zu dieser Zeit ihre Spezialität des Hauses, so wie zum Beispiel das Kolonna in der Kolonnenstraße. Dort spielte jeden Sonnabend die Rocky Horror Picture Show, wo man mit einem Tütchen Reis nebst Wasserpistole antreten musste. Ein anderes Filmtheaterchen zeigte mit Hellzapoppin den wahrscheinlich lustigsten Film aller Zeiten zu Flaschenbier. Und wir hatten Cheech and Chong mit den Tütchen auf der Leinwand und im Herrenklo, da im Saal nicht geraucht werden durfte.

Es war ein Erlebnis, den Film mehrmals zu sehen, da man die witzigen Dialoge meist nicht mitkriegte, weil die breite Masse schon vorher grölte. So enthüllte sich der Sinn nur nach und nach, und es war immer eine Freude, eine neue Pointe zu entdecken.

Auch in der Kindervorstellung am Sonntagnachmittag war schwer was los bei den Glücklichen, die noch Einlass gefunden hatten. Bei dem Hollywood-Epos Die zehn Gebote saß doch tatsächlich eine fromme Familie hinter mir, die das Buch zum Film mit sich führte und einem Vater, der seinem Sprössling daraus predigte. Der aber hörte gar nicht zu, und bei der Szene, in welcher Moses das rote Meer teilt, brüllte er heulend los: »Moses renn! Moses renn!«, bis Papa ihn Mores lehrte und das Kind entfernte. Oder noch so ein Dialogfetzen, der mir im Ohr geblieben ist. Der hinterhältiger Kater im Trickfilm fällt in einen tiefen Brunnenschacht und ein Kind hinter mir sagt mit betroffener Stimme: »Der arme Bär!«

Armer Bär, armes Kino, arme Stadt. Schon längst hat das Ili-Kino seine Pforten geschlossen, aber damals in den Achtzigern siechte es munter vor sich hin in diesem Viertel voller Merkwürdigkeiten.

Unsere Sonnenallee war eine Allee voller Fachgeschäfte. Vom Hermannplatz bis zum Hertzbergplatz reihte sich Fachhandel an Fachhandel, der immer ein bisschen aus der Zeit geraten schien. Der Möbelhändler zeigte seinen Sachverstand an Modellen, die fast museumsreif waren, der Tapetenspezialist klebte Muster, die schon bei Kriegsende als veraltet galten, und in den Modegeschäften hingen Nylonkittel, in denen sich unsere Putzfrau daheim geniert hätte.

Vor allem Spezialgeschäfte zur Verschönerung des Heims waren in der Sonnenallee heimisch. Tapeten und Farben wurden abgelöst von Teppichböden und Farben, und die wiederum von Heimwerkerbedarf zum Ablösen der Tapeten. Ein Viertel im Umbruch, allerdings mehr innen, denn draußen wurde mit Farbe gespart. Es rechnete sich nicht für den Hausbesitzer, und viele waren dazu übergegangen, nur noch die allernötigsten Reparaturen durchführen zu lassen. Viele Kapitalisten waren längst nach Westdeutschland abgewandert und ließen ihren Besitz von Fachleuten verwalten, die darauf bedacht waren, profitabel zu arbeiten.

Von Besitzerstolz am Ererbten, oder der Maxime: Besitz verpflichtet, wie es so schön heißt, weit und breit keine Spur mehr.

Irgendwie war das Viertel in den 60er Jahren steckengeblieben. Einer Zeit des Aufbruchs. Nur wohin? In der Karl-Marx-Straße reihten sich dicht an dicht die Schuhgeschäfte. Jedes größere Handelshaus hatte hier seine Filiale, dabei sah man nicht mehr Fußgänger als anderswo. Seltsamer Volkssport! Ein Altberliner erklärte: Bis zum Mauerbau hatte die U-Bahn massenhaft Kunden aus Ostberlin herangekarrt, weil das die schnellste Verbindung ins westliche Konsumparadies gewesen war. Tatsächlich wirkte der Fernsehturm mit der aufgespießten Kugel, vom Hermannplatz aus gesehen, ziemlich nah, und in stillen Nächten hörte man das Gekreisch der S- Bahn vom Treptower Park.

Oft dachte ich an die Schwester dabei, die Fahrt damals, vom Bahnhof Friedrichstraße bis zur Helmholtzstraße, war mir endlos erschienen und ich hatte das Gefühl gehabt, weit draußen in der Pampa gelandet zu sein. In Wirklichkeit wohnten wir jetzt praktisch um die Ecke und befanden uns immer noch mittenmang der Stadt. Aber Treptower Park mit Ehrenmal, Rummelplatz (der sich hochstaplerisch Kulturpark nannte) und der stolzen Weißen Flotte am See hätten genau so gut auf einem fremden Planeten liegen können. Ein Planet, von dem nächtens gespenstisch herüberschallte, und der besonders im Winter seinen Mief von Braunkohle und Zweitaktgemisch mit freundlichen Grüßen zu uns wehen ließ. Über den Kanal, der gleichzeitig auch Grenze war, zu einem Land voller Abenteuer.

Seit der Grenzverkehr praktisch zum Erliegen gekommen war, war es vorbei mit den guten Geschäften im Viertel, und das sah man leider auch an den Auslagen. Soviel Teppichböden in längst aus der Mode gekommenen Braun- und Grüntönen lagen in den Fachgeschäften um uns herum, was die Gegend immer ein bisschen herbstlich aufmunterte, auch wenn in Schöneberg gerade Mai war.

Nach soviel Lokalkoloratur sollte vielleicht wieder die Handlung einsetzen, aber beim Stichwort Lokal muss ich noch schnell anfügen, dass um den Hermannplatz herum einige Schwulenbars lagen, in welchen das nicht ganz so toughe Vorstadtpublikum verkehrte, das man in der City, mit ihren anerkannten Schönheiten wie David Bowie, praktisch nie antraf. Die City-Hautevolee fuhr gelegentlich zu uns aufs Land, um sich über die schlichten Gemüter zu amüsieren, die immer noch mit toupierten Haaren und dem Herrenhandtäschchen am vom Cartier gebrochenen Handgelenk zu Marianne Rosenberg die Tanzfläche stürmten. Slumming nannte man hochnäsig diese Ausflüge und sie wurden zumeist von jenen unternommen, die auch in unserem Vorstadtidyll niemanden abkriegten. Leute, die höchstens in Ostberlin noch einen Jüngling fanden, der für eine Westjeans bereit war, beide Augen und einiges mehr zuzudrücken. Männer, deren Verfallsdatum längst abgelaufen war, oder jene, die nie eine Chance auf dem Markt der Begehrlichkeiten bekommen hatten.

Dabei gab es durchaus ganz nette Burschen, die gern in ihrem Viertel blieben, weil sie weite Wege scheuten, und lieber eine Tränke in der Nachbarschaft aufsuchten, um in trüber Beleuchtung zu fischen.

Es war wirklich etwas umständlich, mit dem Nachtbus aus der City nach Hause zu fahren, der gemächlich erst einmal durch halb Kreuzberg kreuzte, bevor er über den Kottbusser Damm den Endhaltepunkt Hermannplatz ansteuerte.Von dort mussten wir entweder laufen, oder in ein Taxi umsteigen, denn die Sonnenallee zog sich.

Klar, dass wir gern noch einen Abstecher zu einem Schlummertrunk machten, waren wir erst einmal am Hermannplatz angelangt, bevor uns die Beine in die Hand nahmen. Bald waren wir oftmals auch zu träge, die weite Reise in die City anzutreten und blieben samstags im Kiez bei Kreuzberger und Neurheinischen Schwestern. Vier Jahre Vorstadt - det prägt!

Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3

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