Читать книгу Die 31 beliebtesten Irrtümer der Bibelauslegung - Karl-Wilhelm Steenbuck - Страница 11

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6. Kain und Abel

Kain tötet Abel. Abel, seinen Bruder. Die Geschichte des Brudermords hat sich tief in das Gedächtnis der Menschheit eingeprägt. Die Menschen spürten: Das ist nicht nur ein Märchen aus uralten Zeiten. Hier wird eine Geschichte erzählt, die unfassbar ist und sich doch täglich wiederholt: Menschen töten Menschen. Diese Geschichte steht nicht wie andere biblische Erzählungen in der Gefahr, falsch verstanden zu werden. Das äußere Geschehen verstehen alle. Doch die Geschichte hat einen tieferen Grund, den kaum einer kennt.

Ich habe ein kleines Experiment gemacht und ein Dutzend Freunde gebeten, darunter auch bibelkundige Laien und Theologen, die Geschichte vom Brudermord in ihren wesentlichen Zügen zu erzählen. Alle fassten sie in etwa so zusammen: Kain und Abel sind die Söhne Adams und Evas. Kain ist Ackerbauer, Abel Viehhirte. Beide bringen Gott ein Opfer dar. Das Opfer Abels wird angenommen, das Opfer Kains nicht. Da wird Kain wütend und bringt seinen Bruder Abel um. Daraufhin bestraft Gott den Kain damit, dass er von nun an ein flüchtiges Dasein auf der Erde führen wird, ohne ein Zuhause. Seine Arbeit auf dem Acker wird von äußerster Mühe geprägt sein. Aber: Niemand soll Kain töten dürfen. Um daran zu erinnern, versieht Gott Kain mit einem Zeichen an seinem Körper.

Das ist tatsächlich die ganze Geschichte. Alle haben das Grundgeschehen erfasst. Aber in dieses Grundgeschehen eingewoben ist ein Geschehen, das dem Ganzen erst seinen tiefen Sinn gibt.

Relecture

Lesen wir also nochmal – „relecture“. In unserer Geschichte spielt sich ein dramatisches Ringen ab: Gott ringt um Kains Wohlergehen, bevor er zum Mörder wird. Er wendet sich in keiner Weise von ihm ab, sondern bleibt ihm zugewandt. Gott nimmt schon vor dem Mord wahr, was in Kain vorgeht. Von Gleichgültigkeit, gar von Ablehnung kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Gott ahnt das Unheil, das sich in Kain zusammenbraut und will es verhindern: „Die Sünde ruht vor deiner Tür, und nach dir hat sie ein Verlangen. Du aber herrsche über sie!“ (1.Mose 4,8)

Was wäre, wenn Kain sich darauf eingelassen hätte? Wenn er Gottes Worten gefolgt wäre? Wir werden es nicht erfahren, denn das geschieht nicht, und die Folge heißt: Brudermord. Und Gott? Wendet er sich nun endgültig von Kain ab? Er bleibt ihm zugewandt! Zwar wirkt sich die Bluttat Kains auf dessen weiteres Dasein aus: Er führt von nun an ein unstetes Leben, das er mühsam fristen muss. Aber eines geschieht nicht: Kain wird nicht zum Tode verurteilt. Gott will, dass er lebt. Gott bringt an Kain ein Zeichen an: Anders als Kain selbst, der es abgelehnt hatte, seines Bruders Hüter zu sein, verpflichtet Gott sich, stets ein wachsames Auge auf Kain zu werfen. Dafür steht das „Kainsmal“.

Eine Geschichte von einem schrecklichen Mord! Und doch eine Geschichte voller Fürsorge und Zuwendung! Kain ist gegenüber Abel gar nicht so benachteiligt, wie es auf den ersten Blick scheint und wie er selber meint.

Wenn wir uns an die Geburt Kains erinnern, fällt noch ein ganz anderes Licht auf die Geschichte. Schon ganz zu Beginn heißt es über ihn: Eva gebar den Kain und sprach: „Ich habe einen Mann gewonnen mit dem Herrn.“ Und sie fuhr fort und gebar Abel. Die Geburt Kains stellt für Eva etwas Besonderes dar, einen Gewinn. Die Geburt Abels wird nicht weiter kommentiert.

Befindet sich nun etwa Abel von Anfang an auf der Schattenseite des Lebens und geht am Ende leer aus? Entspricht sein Schicksal seinem Namen? Abel bedeutet: Nebel, Dunst, Nichtigkeit. Sollte nicht einmal Gott sich dem wenig Beachteten zugewendet haben? Die Geschichte versieht das Schicksal Abels mit einer Hoffnung. Seine klagende Stimme verhallt nicht im Nebel oder im Nichts des Todes, sie wird von Gott wahrgenommen und bleibt in seinem Gedächtnis: „Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“

In der „relecture“ werden zwei Dinge deutlich: In der allgemein üblichen Lesart des Texts zeigt sich das tiefe Vorurteil, das das Bild Gottes im Alten Testament prägt. Viele sehen in ihm den grausamen Gott der Rache. In unserer Geschichte lesen wir aber das genaue Gegenteil. Wie der Prophet Ezechiel klar sagt: „Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tod des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?“ (Ez 18,23)

Zum andern wird hier wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Todesstrafe infrage gestellt. Infrage gestellt wird sie nicht von den Menschen, nicht einmal von Kain, der selbst davon betroffen ist. In Frage gestellt wird sie von Gott. Die alte Erzählung ist nicht nur ihrer Zeit weit voraus, sondern auch unserer, wird doch selbst heute noch die Todesstrafe in vielen Ländern wie selbstverständlich vollzogen. Dazu gehören Staaten wie China, Nordkorea, Indien und sogar die USA.

Und es zeigt sich die tiefe Einheit von Altem und Neuem Testament. In den Evangelien findet sich als Entsprechung die Geschichte von der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin (Joh 8,1-11). Alle Männer sind wie selbstverständlich bereit, die Todesstrafe an dieser Frau zu vollziehen. Jesus allein stellt ihr Tun provokant infrage: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie!“

Die 31 beliebtesten Irrtümer der Bibelauslegung

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