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1. Auge um Auge, Zahn um Zahn

Wir beginnen mit einem Wort, das geradezu der Klassiker unter den missverstandenen Bibelversen sein könnte. Offenbar kann nicht nur Menschen, sondern auch Worten Unrecht zugefügt werden. Dabei ist es sprichwörtlich geworden: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Dieser Rechtsgrundsatz findet sich bei mehreren Kulturvölkern des Altertums. Er wird ius talionis genannt – Ausgleichsprinzip. Bekannt ist es bei uns dadurch, dass es Eingang gefunden hat in das Alte Testament (2.Mose 21,24; 3.Mose 24,20; 5.Mose 19,21), vor allem aber dadurch, dass Jesus in seiner Bergpredigt dazu Stellung bezieht (Mt 5,38ff).

Welchen Schmähungen war dieses Wort schon ausgesetzt! Man sah darin den „Geist der Rache“ und die „Logik der Vergeltung“. Man behauptete, damit werde eine Gewaltspirale in Gang gesetzt, die nur dadurch an ein Ende komme, dass schließlich alle blind seien und niemand mehr etwas zu beißen habe. Richtig schlimm wurden diese Behauptungen, wann immer man sie mit antijüdischen Vorurteilen verband: Solche Anleitung zu Rache und Gewalt spiegele angeblich den Volkscharakter der Juden wider. Und wie das Volk, so sein Gott! Jahwe, der Gott des Alten Testaments, sei von niederer Rachegesinnung und habe daher nichts zu tun mit dem barmherzigen Gott der Liebe, den Jesus verkündet.

Relecture

Alle diese Urteile sind falsch. Sie stammen aus Unkenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge. Das ius talionis ist kein Überbleibsel eines barbarischen Rechtsempfindens. Es will dieses gerade überwinden. Es will das Stadium ablösen, in dem Konflikte durch Blutrache gelöst wurden.

Das Alte Testament hat die Erinnerung an die Zeit der Blutrache aufbewahrt im Lied Lamechs: „Ich töte einen Menschen für meine Wunde und einen Jungen, wenn mich jemand schlägt. Ein Mord an Kain verlangt als Rache sieben Menschenleben; für Lamech müssen siebenundsiebzig sterben!“ (1.Mose 4,23f, GN) Gegenüber diesem hemmungslosen Gesetz der Rache besagt das ius talionis, dass zwischen der Tat auf der einen Seite und der Sühne bzw. dem Schadenersatz auf der anderen Seite eine Verhältnismäßigkeit bestehen muss. Wenn man bedenkt, dass noch im Wilden Westen des 19. Jahrhunderts Viehdiebstahl mit dem Tod bestraft wurde und noch heute in manchen Ländern einem Dieb die Hand abgehackt wird, ist deutlich, welch großer Schritt in Richtung auf ein menschenfreundliches Rechtsempfinden sich im ius talionis vollzieht. Der Philosoph Immanuel Kant behauptet sogar, dass das ius talionis zwar modernisiert und verfeinert, aber nicht grundsätzlich überboten werden könne.

Wie anspruchsvoll dieses Prinzip schon im Alten Testament war, zeigt sich, wenn man betrachtet, wie es im Volk Israel angewendet wurde. Dafür ist 2. Mose 21, Vers 24 aufschlussreich. Die Übersetzung Martin Bubers gibt deren Sinn am besten wieder: „Gib Augersatz für Auge, Zahnersatz für Zahn!“ Das heißt zweierlei:

1. Der Text richtet sich gar nicht, wie man zunächst vermuten könnte, an das Opfer. Hier wird nicht das Opfer aufgefordert, Rache zu nehmen oder auch nur sein Recht gerichtlich einzuklagen. Hier wird der Täter verpflichtet, für den Schaden aufzukommen, den er einem anderen zugefügt hat. Es heißt: „Gib Augersatz für Auge!“, und nicht: „Nimm Augersatz für Auge!“ Ziel dieses Rechtsgrundsatzes ist also nicht Rache für Recht zu erklären, sondern den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Es geht auch hier, wie übrigens immer im Alten Testament, um den Schalom: um Heil, Frieden, Ganzheit.

2. Nirgends ist überliefert, dass das ius talionis wörtlich genommen wurde. Von tatsächlicher körperlicher Verstümmelung ist nie die Rede. Vielmehr gibt es finanzielle Entschädigung. Diese kann fünf Formen annehmen: Schadenersatz, Schmerzensgeld. Heilungskosten, Arbeitsausfallersatz, Beschämungsgeld. Besonders schön kommt der Sinn dieses Grundsatzes zum Ausdruck, wie er an anderer Stelle ausgelegt wird: „Wenn einer seinem Sklaven oder seiner Sklavin ein Auge ausschlägt, so soll er ihn für das ausgeschlagene Auge freilassen. Wenn er seinem Sklaven oder seiner Sklavin einen Zahn ausschlägt, soll er ihn für den ausgeschlagenen Zahn freilassen.“ (2.Mose 21,26f, EÜ)

Fazit: Das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ will nicht anstiften, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und so eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang zu setzen. Vielmehr geht es um Ausgleich mit dem Ziel, den Frieden zu erhalten.

Diese Auslegung wird noch übertroffen durch Jesus, der auf dieses Wort in der Bergpredigt (Mt 5,21-48) eingeht. Jesus beginnt mit den Worten: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist …“ Und dann zitiert er die alte göttliche Weisung: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Er fährt fort mit den Worten: „Ich aber sage euch.“ Jesus will den tiefsten und eigentlichen Sinn des Gebots deutlich machen. Dieser ist, den Frieden unter den Menschen herzustellen. So fährt Jesus fort: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf die rechte Backe, dem biete die andere auch dar.“ (Mt 5,39) Solch ein Verhalten fordert großen Mut. Es hat nichts mit Schwäche zu tun, wenn ich dem Übeltäter die andere Backe hinhalte. Es fordert meinen freien Entschluss. Mit dieser Geste zeige ich ihm, dass ich auf Gewalt verzichten kann. Vielleicht kann ich ihn zum Nachdenken und Umdenken bringen. Ich lade ihn ein, unsere Konflikte von nun an auf einer anderen Ebene zu lösen.

Und wieder: Ziel dieser von Jesus vorgeschlagenen Geste ist der Schalom, das friedliche Miteinander der Menschen.

Die 31 beliebtesten Irrtümer der Bibelauslegung

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