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Einleitung – Ach, so ist das gemeint

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Was passiert eigentlich beim Lesen? Wie kommt es zu Aha-Erlebnissen? Und was ist das Besondere am Bibellesen? Warum lesen manche sie immer und immer wieder, lernen Sätze auswendig, sinnieren über Worten und Geschichten?

Dafür gibt es im Französischen einen Begriff, es heißt „relecture“ (sprich Rellektür). Im Deutschen gibt es dafür kein Wort. Es ließe sich übersetzen mit „erneutes Lesen“. Gemeint ist: Ich lese einen altbekannten Text von Neuem. Dabei habe ich ein Aha-Erlebnis. Ich entdecke etwas, das ich bisher nicht gesehen habe. Ich stelle fest: Im Text verbergen sich Aspekte, die ich vorher nicht wahrgenommen habe. Im äußersten Fall muss ich bekennen: Der Text sagt das Gegenteil von dem, was ich bisher verstanden habe. Ich war im Irrtum.

Wohl für kein Buch der Weltliteratur ist „relecture“ von so großer Bedeutung wie für die Bibel: Sie will immer wieder neu gelesen werden. Das hängt mit ihrem Charakter zusammen. Sie ist geschrieben für Menschen einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Situation. Aber ihre Botschaft gilt allen Generationen und Zeitaltern. Sie will von jeder Generation neu gelesen, neu verstanden und angeeignet werden.

Dabei beginnt keine Generation am Nullpunkt. Wir lesen die Bibel zunächst so, wie unsere Vorfahren sie gelesen haben. Wir lesen sie mit den Augen unserer Lehrer. Wir stehen in einer Tradition. Wenn wir einer kreativen Generation angehören, werden wir beim Lesen neue Einsichten haben und neue Erkenntnisse gewinnen, die wir an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Dann geschieht, wofür der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi betet, nämlich, „dass eure Liebe immer reicher an Einsicht und Verständnis wird, damit ihr beurteilen könnt, worauf es ankommt.“ (Phil 1,9f, EÜ)

Aber die Erkenntnisse werden nicht nur von Generation zu Generation weitergegeben und vertieft, es schleichen sich auch Fehler ein. Irgendjemand versteht ein Wort der Bibel nicht ganz richtig und bildet sich seinen Reim. Den Nachkommen erscheint diese Deutung plausibel, so dass sie sie übernehmen und weitergeben. Dann wird „relecture“, erneutes Lesen, wichtig. Der Irrtum kann entdeckt und ein neues Verständnis überliefert werden.

Es gibt drei Hauptgründe dafür, dass der Sinn einer biblischen Aussage missverstanden wird. Sprache verändert sich im Lauf der Zeit, und Worte erhalten einen neuen Sinn. Ein Beispiel aus der deutschen Sprache: Wer heute eine Frau als „Weib“ bezeichnet, will sie verächtlich machen. Früher diente dieses Wort dazu, einer Frau Ehrerbietung entgegenzubringen. Eine ähnliche Wandlung machte das griechische Wort für „Welt“ durch, das im Neuen Testament häufig erwähnt wird: In der Sprache der alten Griechen meint Kosmos die Schönheit und Ordnung der Schöpfung. Es ist ein positiver Begriff. In der späteren hellenistischen Zeit steht Kosmos plötzlich für die Welt, die von dämonischen Strukturen verdorben ist. Was für ein Wandel! Ein weiteres Beispiel: Wenn der Apostel Paulus von Menschen spricht, die „fleischlich gesinnt sind“ (Röm 8,5), meint er etwas vollkommen anderes, als das, was ein Mensch unserer Zeit unter diesen Worten versteht. Paulus denkt in dem Zusammenhang nicht vor allem an sexuelle Begierden. Ihm stehen Menschen vor Augen, die sich um sich selbst drehen und nicht offen sind für Gott und für andere. Auf jeden Fall ist bei Paulus damit keinerlei Abwertung der körperlichen Seite des Menschen verbunden (Näheres in Kapitel II,5). Wer nicht mit einem möglichen Bedeutungswandel eines Wortes rechnet, wird einen Text leicht missverstehen.

Eine zweite mögliche Fehlerquelle hängt damit zusammen, dass eine Aussage der Bibel nie isoliert dasteht, sondern Teil eines Textes ist, ein Faden in einem größeren Gewebe. Ein Wort erhält seinen Sinn durch den Satz, in dem es steht. Die Bedeutung eines Satzes erschließt sich, wenn wir ihn im Zusammenhang der Geschichte sehen, die uns erzählt wird. Eine einzelne Geschichte verstehen wir besser, wenn wir wissen, wovon das biblische Buch handelt, in dem sie steht. Jedes Buch wiederum ist zu interpretieren im Zusammenhang aller Bücher der Bibel. Heute erkennen wir deutlicher als frühere Generationen: Das Neue Testament verstehen wir nur in Zusammenhang mit dem Alten Testament, wie sich umgekehrt das Alte Testament erst im Licht des Neuen Testaments erschließt. Wer eine Aussage der Bibel für sich nimmt und nicht den Zusammenhang mitdenkt, gerät leicht in Gefahr, den Sinn dieser Aussage zu verfehlen.

Eine dritte Fehlerquelle ergibt sich daraus, dass niemand von uns einen Text unvoreingenommen liest. Wir alle gehen, oft ohne uns dessen bewusst zu sein, mit einem Vorverständnis an einen Text heran. Wir haben schon ein Urteil, mit dem wir das Gelesene betrachten. Wir tragen unsere eigenen Ideen, Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte beim Lesen in den Text ein. Wissenschaftlich formuliert: Wir treiben nicht Exegese (Auslegung/Deutung), sondern Eisegese (Hineinlegung/Unterstellung). Letzteres bedeutet: Wir lesen aus dem Text nicht heraus, was er selbst zum Ausdruck bringen will. Vielmehr tragen wir unbewusst vieles in ihn ein, was uns selbstverständlich erscheint. Das kann gar nicht anders sein. Daher ist es wichtig, dass wir uns bei jeder Lektüre selbstkritisch fragen, ob wir die Aussage eines Textes würdigen und ihn zu uns sprechen lassen oder ob wir ihn in unserem Sinn verstehen. Das lässt sich leicht prüfen, indem wir die Bibel nicht nur ganz allein lesen, sondern unsere Einsichten auch mit anderen austauschen.

Machen wir uns also an die „relecture“. Wir wenden uns bekannten Bibelstellen zu, die anstößig sind oder ärgerlich, einseitig verstanden wurden oder eine wichtige Rolle für Glaubende spielen. Dabei können wir nicht sicher sein, ob nicht auch unsere Augen an manchen Stellen blind sind und vieles übersehen, was späteren Generationen in die Augen springt.

Eines darf uns deutlich werden, und das ist ein schöner Gedanke: Auch wenn ich die Bibel in meinem stillen Kämmerlein lese, bin ich nicht allein und isoliert. Ich stehe vielmehr in einer Tradition. Ich bin ein Glied in einer langen Kette. Indem ich mit offenen Augen an die Texte herangehe und etwas Neues entdecke, trage ich dazu bei, dass das Verstehen der Heiligen Schrift immer mehr angereichert wird. So können wir uns der ganzen Fülle der biblischen Botschaft immer mehr annähern.

Gerade das Betrachten einzelner Verse im Alten und Neuen Testament, die oft missverstanden wurden, bringt uns dabei vielleicht weiter, als es zunächst den Anschein hat. Denn oft handelt es sich um Irrtümer, die nicht zufällig entstanden sind. Häufig kommen sie aus einem grundsätzlichen Missverstehen von Aspekten der biblischen Botschaft. So können diese Einzelfälle uns helfen, die Bibel insgesamt besser zu verstehen.

Die 31 beliebtesten Irrtümer der Bibelauslegung

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