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vicus: „der Kiez“ – Prominente, Götter und Monumente als Namenspatrone

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Das Gros der Straßen aber war unter dem Terminus vicus subsumierbar. Vicus ist das „Quartier“, das „Viertel“. Die Einwohner eines solchen „Kiezes“ sind die vicini – ein Wort, das gewöhnlich mit „Nachbarn“ übersetzt wird. Das ist sicher keine ganz falsche Vorstellung, aber doch eine, die die Zusammengehörigkeit der Menschen unter dem Blickwinkel eines administrativen und kultischen Gliederungsprinzips zu wenig berücksichtigt (Näheres dazu s. S. 27 ff.).6

Die vici waren also im Prinzip keine Straßen, wohl aber wurde die wichtigste Verkehrsader, die durch eine „Nachbarschaft“ führte, häufig mit dem vicus gleichgesetzt und erhielt damit auch die Bedeutung „Straße“. Im alten Rom gab es mehrere Hundert vici. Vergil spricht von 300, Ovid gar von 500.7 Die moderne Forschung hält dies für „poetische“ Annäherungszahlen und orientiert sich eher an den 265 compita, „Wegkreuzungen“, die der Ältere Plinius wohl als Synonym zu vici verzeichnet.8 Diese Zahl muss nicht statisch gewesen sein; einschneidende Ereignisse wie z. B. die verheerende Feuersbrunst des Jahres 64 können zu einer Neuorganisation geführt haben. Nimmt man die Zahl 265 als Bezugsgröße und geht von einer Bevölkerungszahl von rund einer Million Einwohnern aus, so entfielen statistisch rund 3800 Menschen auf jeden vicus Roms.9

Sämtliche vici dürften einen Namen getragen haben; von rund 120 ist er bekannt.10 Die Bezeichnungen lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen. Die größte Gruppe war nach Personen benannt: Prominente Bauherren und berühmte Bewohner waren als Namenspatrone auch in der Antike beliebt, sei es – überwiegend – in Form des Familiennamens (nomen gentile; z. B.: Vicus Corvi, Vicus Saufei), sei es in Form eines stärker individualisierten Beinamens (cognomen; z. B.: Vicus Caesaris, Vicus Quadrati). Weibliche Namensgeber finden sich in dieser Kategorie nicht. Im Vordergrund steht stets der lokale Bezug. Literaten, Philosophen, Ärzte oder Wissenschaftler, nach denen man heutzutage gern Straßen benennt, erhielten in Rom keine solche Ehrung – nicht einmal ein Homer, ein Vergil, ein Platon oder ein Romulus. Zelebritäten ohne eine ausdrückliche Beziehung zum vicus hatten keine Chance, sich auf diese Weise verewigen zu lassen. Schon gar nicht über Straßen- oder Quartierschilder – die gab es einfach nicht.

Die zweite Gruppe der Namensgeber überrascht nicht. Das waren Gottheiten, und zwar männliche wie weibliche: Vicus Apollinis, Vicus Bellonae – das war die Göttin des Krieges –, Vicus Dianae, Vicus Fortunae Dubiae – bei der „Glücksgöttin“ war es „ungewiss“, in welche Richtung sie die Geschicke lenkte –, Vicus Salutis oder Vicus Vestae. In der Regel wurde der „Kiez“ vom Heiligtum der entsprechenden Gottheit dominiert. Etwas skurril mutet der Vicus Mercurii sobrii an. Der „nüchterne Merkur“ hieß so, weil er kein Wein-, sondern ein Milch-Opfer bekam.11 Gab es auch das Pendant des Vicus Mercurii ebrii, des „trunkenen Merkur“? Das ist wohl eher eine moderne Wunschvorstellung: Rodolfo Lanciani ergänzte einen lückenhaften ägyptischen Papyrus entsprechend mit der Begründung, es müsse doch einen Gegenpart zum Mercurius sobrius geben. Die wissenschaftliche Topographik ist indes eher skeptisch, „ob man ein nach einem besoffenen Götterboten benanntes altrömisches Viertel braucht“.12

An dritter Stelle der vicus-Bezeichnungen stehen Gebäude, Denkmäler und andere topographische Besonderheiten, wie beim Vicus Columnae ligneae, der eine „Holzsäule“ zum Wahrzeichen hat, beim Vicus Portae Viminalis, der am Stadttor nahe dem Viminal-Hügel lag, oder beim Vicus Laci Fundani, der nach dem Wasserbecken des Fundanus benannt ist. Er ist nicht der einzige, der seinen Namen einem großen Schöpfbecken (lacus) verdankt. Der Genitiv auf -i bei einem Wort der u-Deklination mag bei grammatisch sattelfesten Lateinern Stirnrunzeln hervorrufen, was indes die vicus-Bezeichnung angeht, ist er pure Normalität.

Die nächste Gruppe ist uns besonders aus mittelalterlichen Städten vertraut, wo Handwerksbetriebe einer bestimmten Spezifikation in größerer Zahl nebeneinanderlagen und der Straße ihren Namen gaben. Solche „Zunftmeilen“ hat es im alten Rom zwar ebenso wenig gegeben wie „Zünfte“ oder vergleichbare berufsständische Organisationen, doch gelegentlich gab es offensichtlich durchaus Konzentrationen bestimmter Handwerksbetriebe. So erklären sich der Vicus Materiarius, der nach Zimmerleuten benannt ist, der Vicus Unguentarius, wo Salben und Parfüms (unguenta) hergestellt und verkauft wurden, oder ein Schuhmacher-Viertel, Vicus Sandalarius, und im Vicus Turarius wurde man bei tur, „Weihrauch“, und anderen Spezereien schnell fündig. Schwieriger zu erklären sind der Vicus Caprarius und der Vicus Bublarius. Wahrscheinlich waren dort Händler stark vertreten, die sich auf Ziegen (caprae) bzw. Rinder (boves) verlegt hatten, während im Vicus Frumentarius die Getreidehändler (frumentum) dominierten. Dabei ist übrigens völlig unklar, auf welche Zeit sich diese Charakteristiken beziehen. Römer waren Traditionalisten. Es ist also gut möglich, dass in augusteischer Zeit kein einziger Ziegenhändler mehr im Vicus Caprarius „residierte“ …

Einige vici bewahrten explizit die Erinnerung an frühere Zeiten. Im Vicus Tuscus, dem „etruskischen Viertel“ im Südwesten des Forum Romanum, haben möglicherweise die einstigen Gründer und Herren über Rom, etruskische Adelsgeschlechter, gelebt.13 Vielleicht deutet der Name aber auch nur auf die Hauptroute hin, die einst das römische Forum mit dem rechten, etruskischen Ufer des Tibers verband. Dagegen ist der Hintergrund des Vicus Africus bedeutend klarer: In diesem Viertel am Esquilin waren im 3. Jahrhundert v. Chr. Geiseln aus Afrika untergebracht, die im Zusammenhang mit den Punischen Kriegen gestellt worden waren.14 Manche vici-Bezeichnungen wie curvus, „gekrümmt“, oder longus, „lang“, erklären sich aus ihrer Topographie. Die Bewohner des Vicus Sceleratus mögen mit manchem Spott übergossen worden sein, weil sie im „Verbrechensviertel“ lebten. Der Name soll auf ein aufsehenerregendes „Verbrechen“ (scelus) in der Königszeit zurückgehen, als eine gewisse „Tullia völlig von Sinnen und von den Rachegeistern ihrer Schwester und ihres Mannes gehetzt, mit dem Wagen über den Leichnam ihres Vaters gefahren sein soll“.15

Deutlich angenehmer war es da, im Vicus Cuprius zu Hause zu sein. Er hielt die Erinnerung an den frühen Zusammenschluss von Latinern und Sabinern wach: cuprius ist das sabinische Wort für „gut“.16 Ob das den Menschen des „guten Viertels“ später noch bewusst war? Zweifel daran sind angebracht. Wer kann heute schon den Namen der Straße, in der er wohnt, erklären, wer interessiert sich dafür? Die Mentalität der meisten Römer dürfte sich in diesem Punkt kaum von der heutigen unterschieden haben. Wohl aber war jemand, der eine „Adresse“ suchte, sehr viel stärker auf persönliche Kontakte und kommunikative Akte angewiesen. Selbst wenn er im richtigen vicus war, musste er sich bei vicini, auf die er traf, erkundigen, in welchem Gässchen und Haus ein gewisser Gaius oder Lucius denn wohl wohne. Auch ein hochmodernes GPS-System hätte ihm diese Nachfrage bei echten Mitmenschen nicht erspart. Denn Hausnummern gab es ja nicht, und keineswegs trugen alle Seitenstraßen und Sackgassen einen Namen. Auch deshalb war es im alten Rom, von allem anderen abgesehen, ganz gut, wenn man ein bisschen Latein konnte.

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