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ZEITVERSCHWENDUNG

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„Indem es aufgeschoben wird, läuft das Leben sozusagen durch …“

„Keine Zeit!“ Das hört man ein paar Mal am Tag, und zwar von Menschen unterschiedlichster Stellung und jeden Alters. Ist unsere Lebenszeit zu knapp bemessen?

Non accipimus brevem vitam, sed fecimus, nec inopes eius, sed prodigi sumus. (brev. vit. 1, 4)

Wir erhalten kein kurzes Leben, sondern wir haben es dazu gemacht. Wir sind nicht arm an Lebenszeit, sondern gehen verschwenderisch mit ihr um.

Inwiefern?

Quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura, quae per neglegentiam fit. Et, si volueris attendere, maxima pars vitae elabitur male agentibus, magna nihil agentibus, tota vita aliud agentibus. (ep. 1, 1)

Ein Teil der Zeit wird uns entrissen, ein anderer uns heimlich entwendet, ein dritter verrinnt einfach. Am schändlichsten ist indes der Zeitverlust, der durch eigene Nachlässigkeit entsteht. Schau nur genau hin: Der größte Teil des Lebens entgleitet uns mit schlechten Taten, ein großer Teil durch Nichtstun, das ganze Leben damit, dass wir etwas anderes tun, als wir eigentlich tun sollten.

Das klingt hübsch zugespitzt-sententiös, ist uns aber zu wenig konkret. Womit verplempern wir unsere Lebenszeit nach Ihrer Meinung?

Vita, si uti scias, longa est. Alium insatiabilis tenet avaritia, alium in supervacuis laboribus operosa sedulitas; alius vino madet, alius inertia torpet; alium defetigat ex alienis iudiciis suspensa semper ambitio, alium mercandi praeceps cupiditas circa omnis terras, omnia maria spe lucri ducit; multos aut affectatio alienae formae aut suae cura detinuit, plerosque nihil certum sequentis vaga et inconstans et sibi displicens levitas per nova consilia iactavit; quibusdam nihil, quo cursum derigant, placet, sed marcentis oscitantisque fata deprendunt. (brev. vit. 2, 1f.)

Wenn du dein Leben zu nutzen verstehst, ist es lang. Aber den einen hält unersättliche Habgier gefangen, den anderen eine anstrengende Betriebsamkeit bei überflüssigen Mühen, der eine versumpft im Weingenuss, der andere erstarrt im Nichtstun; den einen macht ständiger Ehrgeiz fertig, der ja vom Urteil anderer abhängt, den anderen führt rastlose Gier, Geschäfte zu machen, in der Hoffnung auf Profit durch Länder und Meere; viele nehmen die Liebe zu fremder Schönheit und die Sorge um die eigene in Beschlag, die meisten, die kein klares Ziel verfolgen, jagt eine unstete, unbeständige, sich selbst misstrauende Haltlosigkeit durch immer neue Pläne; manchen passt nichts, worauf sie den Kurs ihres Lebens ausrichten könnten, sondern das Schicksal packt sie in ihrer Schlaffheit und ihrem ständigen Gähnen.

Könnte man sagen: Es mangelt vielen am Zeit-Bewusstsein?

Exigua pars est vitae, qua vivimus. Ceterum quidem omne spatium non vita, sed tempus est. (brev. vit. 2, 2)

Es ist nur ein kleiner Teil des Lebens, in dem wir bewusst leben. Die übrige Spanne ist ja nicht wirklich Leben, sondern einfach nur Zeit.

Also eine Zeitverschwendung, die die meisten Menschen gar nicht wahrnehmen?

Dum differtur vita, transcurrit. Omnia aliena sunt, tempus tantum nostrum est: in huius rei fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex quo expellit, quicumque vult. (ep. 1, 2f.)

Indem es aufgeschoben wird, läuft das Leben sozusagen durch. Alles andere ist fremdes Eigentum, nur die Zeit gehört uns. Die Natur hat uns in den Besitz dieser flüchtigen und schlüpfrigen Sache eingesetzt, aus dem uns jeder x-Beliebige vertreibt.

Wie kommt das?

Re omnium pretiosissima luditur. Fallit autem illos, quia res incorporalis est, quia sub oculos non venit ideoque vilissima aestimatur, immo paene nullum eius pretium est. Annua, congiaria homines carissime accipiunt et illis aut laborem aut operam aut diligentiam suam locant; nemo aestimat tempus; utuntur illo laxius quasi gratuito. (brev. vit. 8, 1f.)

Mit der wertvollsten Sache von allen spielt man herum. Die Leute lassen sich täuschen, weil die Zeit ein unkörperliches Ding ist, weil sie uns nicht unter die Augen kommt und sie deshalb als überaus wohlfeil gilt. Ja, eigentlich hat sie fast überhaupt keinen Wert. Jahresgehälter und Geldgeschenke nehmen die Menschen mit größter Dankbarkeit an, und dafür wenden sie Arbeit, Mühe oder Sorgfalt auf. Aber keiner misst der Zeit einen Wert bei; man nutzt sie ziemlich entspannt – als wäre sie umsonst.

Was sie Ihrer Meinung nach nicht ist. Wie stellt sich für Sie das Verhältnis zwischen Lebenszeit und Tod dar?

Quem mihi dabis, qui aliquod pretium tempori ponat, qui diem aestimet, qui intelligat se cotidie mori? In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeteriit. Quicquid aetatis retro est, mors tenet. (ep. 1, 2)

Wen kannst du mir zeigen, der der Zeit überhaupt einen bestimmten Wert beimisst? Der den einzelnen Tag zu schätzen weiß, der erkennt, dass er tagtäglich stirbt? In dem Punkte irren wir uns ja, dass wir den Tod vor uns sehen: Ein großer Teil von ihm ist schon vorbei. Alles, was an Zeit hinter uns liegt, besitzt der Tod.

Ein Perspektivenwechsel, der aufrütteln könnte oder sollte! Sie nehmen sehr eindringlich gegen die übliche, von Verdrängungsmechanismen begünstigte Zeitverschwendung Stellung. Dürfen wir fragen, wie Sie es persönlich mit Ihrem Zeitmanagement halten? Führen Sie ein Zeit-Sparbuch?

Fatebor ingenue: quod apud luxuriosum, sed diligentem evenit – ratio mihi constat impensae. Non possum dicere nihil perdere, sed quid perdam et quare et quemadmodum, dicam: causas paupertatis meae reddam. (ep. 1, 4)

Ich beichte es freimütig. Es ist so, wie es bei einem sehr wohlhabenden, aber wenigstens sorgfältigen Menschen üblich ist: Die Buchführung stimmt mit den Ausgaben überein. Ich kann nicht behaupten, dass ich nichts verliere, aber was ich verliere und warum und unter welchen Umständen – das kann ich dir darlegen. Ich kann über die Ursachen meiner Zeitarmut Rechenschaft ablegen.

Das heißt: Sie erfüllen zumindest Ihre eigene Forderung, sich die Zeit in ihrem Ablauf bewusst zu machen. Hat diese Sensibilität im Alter zugenommen?

Non solebat mihi tam velox tempus videri; nunc incredibilis cursus apparet, sive quia admoveri lineas sentio, sive quia adtendere coepi et computare damnum meum. Eo magis itaque indignor aliquos ex hoc tempore, quod sufficere ne ad necessaria quidem potest, etiam si custoditum diligentissime fuerit, in supervacua maiorem partem erogare. (ep. 49, 4f.)

Früher schien mir die Zeit nicht so geschwind zu enteilen. Jetzt erscheint mir ihr Lauf unglaublich schnell, sei es, weil ich die Grenzlinie nahen spüre, sei es, weil ich angefangen habe, mein Augenmerk auf meinen Verlust zu richten und ihn zusammenzurechnen. Umso mehr empöre ich mich daher über Leute, die von dieser Zeit, die nicht einmal für die notwendigen Dinge ausreichen kann, auch wenn sie besonders sorgfältig gehütet wird, den größeren Teil auf Überflüssiges verwenden.

Ganz so überzeugt, dass wir auch bei größerem Zeitbewusstsein genügend Lebenszeit zur Verfügung haben, hört sich das nicht mehr an. Aber gut. Geben Sie uns am Schluss einen konkreten Rat, wie wir das Viel oder Wenig unserer Lebenszeit möglichst ohne die übliche Verschwendung sinnvoll und bewusst nutzen können?

Maxima vitae iactura dilatio est. Illa primum quemque extrahit diem, illa eripit praesentia, dum ulteriora promittit. Maximum vivendi impedimentum est exspectatio, quae pendet ex crastino, perdit hodiernum. Quo spectas? Quo te extendis? Omnia, quae ventura sunt, in incerto iacent: Protinus vive! (brev. vit. 9, 1)

Der größte Verlust an Lebenszeit ist der Aufschub. Er entzieht uns gerade die nächsten Tage, er entreißt uns das Gegenwärtige, indem er das in der Zukunft Liegende verspricht. Das größte Hindernis auf dem Weg zum bewussten Leben ist die Erwartung. Sie macht sich vom Morgen abhängig und verschwendet das Heute. Wohin blickst du? Wonach streckst du dich aus? Alles, was kommen wird, liegt im Ungewissen: Lebe jetzt!

Auf einen Wein mit Seneca

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