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ROLLENTAUSCH

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„Fürchtest du nicht, dem Zeitgeist zu sehr zu huldigen?“

Sermones, quos inter nos habitos esse finxisti, mihi, ut probarem, proposuisti. At dubium mihi est, num electio ista et compositio probanda sit. Nonne hoc libello homines tui temporis ad philosophiam adhortari tibi propositum est?

Du hast mir die scheinbar zwischen uns geführten Gespräche zur Prüfung vorgelegt. Ich bin aber im Zweifel, ob deine Auswahl und Zusammenstellung gutzuheißen sind. Geht es dir denn nicht darum, mit dem Büchlein die Menschen deiner Zeit zur Philosophie zu ermuntern?

Wenn sich der eine oder die andere intensiver mit philosophischen Fragen beschäftigen will, wird er manche Anknüpfungspunkte in Ihren Ausführungen finden. Es werden ja auch viele überzeitliche Fragen und allgemeinmenschliche Probleme angesprochen. Aber eine Anleitung oder gar Anstiftung zu Ihrer – der stoischen – Philosophie soll unser Interviewband nicht sein.

In quas res praeter philosophiam vis ingredi? Num quaedam, quae sermonibus tantummodo perstricta atque attacta sunt, in vulgus edere proponis?

Welche Themen willst du, abgesehen von der Philosophie, behandeln? Hast du etwa vor, manches gesprächsweise nur Angetippte oder kurz Gestreifte zu veröffentlichen?

In gewisser Weise schon. Es soll ein Potpourri von Themen sein, eine breite Palette von Gegenständen. Man erfährt im Gespräch mit Ihnen ja auch vieles kulturgeschichtlich Interessante und Amüsante. Sie geben sehr dezidierte Urteile zu historischen Persönlichkeiten ab; vor allem aber nehmen Sie zu ganz aktuellen Fragen unserer modernen Zeit in, wie wir finden, erfreulich erhellender Weise und mit „klarer Kante“ Stellung. Man muss nicht immer Ihrer Meinung sein, aber Sie anzuhören lohnt sich immer.

Nonne vereris, ne hoc modo nimis aetatis ingenio assentiaris eaque, quae duobus fere milibus annorum ante sensa sunt, ad tuorum temporum mores accomodes?

Fürchtest du nicht, auf diese Weise dem Zeitgeist zu sehr zu huldigen und Gedanken, die fast zweitausend Jahre alt sind, der Moderne überzustülpen?

Keine Sorge! Wenn man sich von diesem methodischen Bedenken gegen die Aktualisierung „historischer“ Aussagen allzu sehr leiten ließe, hieße das ja, dass Denker wie Sie uns nichts mehr zu sagen hätten. Tatsächlich aber stellen wir erfreut fest, dass durchaus Bedarf an orientierenden Ratschlägen und gedanklichen Wegweisern der Geistesgeschichte besteht. Ihre Werke werden doch sogar noch im modernen Lateinunterricht gelesen – auch da übrigens keineswegs nur, weil man sich in der eigenen Meinung bestätigen will, sondern auch, weil Sie mit Ihren manchmal sehr unzeitgemäßen Ansichten kräftig anecken – und damit zur Auseinandersetzung und zum Nachdenken provozieren.

Nisi fallor, aliquot sermones ita composuisti, ut e variis fontibus, ut ita dicam, hauseris sententiasque meas nonnumquam a perpetuitate sermonis divulseris. Quod mihi a ratione ac via eorum, qui profitentur philologiam, longe abhorrere videtur.

Wenn ich mich nicht täusche, hast du etliche Gespräche so zusammengestellt, dass du gewissermaßen aus verschiedenen Quellen schöpfst und meine Gedanken aus dem Kontext löst. Das scheint mir von methodisch sauberem philologischem Vorgehen weit entfernt zu sein.

Merkwürdig, dass gerade Sie uns bei der philologischen Ehre packen wollen, der Sie doch selten ein gutes Wort für die Philologen übrig haben! Die drohen ja Ihrer Meinung nach die Philosophie sprachlich zu zerrupfen. Aber gut, in der Sache haben Sie nicht unrecht: Wir haben tatsächlich thematisch Zusammengehöriges vielfach kompiliert und hin und wieder auch Passagen gekürzt. Trotzdem haben wir kein so ganz schlechtes Gewissen dabei.

Fac promas, si quid habes, quo te purges! Equidem totus auris sum.

Nur heraus damit, wenn du etwas zu deiner Rechtfertigung vorzutragen hast! Ich jedenfalls bin ganz Ohr.

Es gibt eine Reihe von Seneca-Anthologien, die nur Ihre starken Sprüche – oder sagen wir vornehmer: Ihre Bonmots und Sentenzen – abdrucken, und zwar meist ohne jeden Kontext. Von denen soll sich unser Interview-Band deutlich abheben, indem er Ihnen auch Raum gibt, Ihre Argumentationsgänge zu entfalten, die Sie am Ende mit Ihren berühmten Sentenzen krönen.

Id studens nonne satius esse putas omnes meas sententias integras reddere? Attamen multa in crustula, ut ita dicam, scidisti.

An vero voces inanes me fudisse existimas, quae ad brevitatem concisam tibi potissimum sint redigendae?

Wenn du darauf zielst, glaubst du nicht, es ist besser, alle meine Gedanken ungekürzt wiederzugeben? Stattdessen hast du vieles sozusagen in Zuckerhäppchen zerschnitten.

Oder meinst du etwa, dass ich leere Reden führe, die ausgerechnet du auf gedrungene Kürze trimmen musst?

Um Gottes willen, das wollen wir nicht andeuten! Was bei anderen vielleicht hier und da als Langatmigkeit erscheint, ist bei Ihnen doch stets angemessene Länge, die ja auch in Ihrer wunderbaren prägnanten brevitas („Kürze“) ein stilistisches Widerlager hat. Aber mit den Zuckerstückchen, da haben Sie recht. Wir bekennen uns schuldig im Sinne der Häppchen-Anklage. Aber wissen Sie, wie man das ansprechender – und lateinischer! – benennen kann?

Ne tenuissima quidem dubitatio me tenet, quin tu et ista, ut quidem tibi videtur, probare valeas.

Ich hege nicht den leisesten Zweifel daran, dass du auch das schmackhaft machen kannst – jedenfalls scheint es dir so.

Da schwingt ein spitzer Unterton mit … Aber wir wollen ja nicht wechselseitig Empfindlichkeiten austragen. Der bessere Begriff ist „Appetizer“. Wir wollen einen Vorgeschmack auf den ganzen Seneca geben, Lust machen darauf, zu Ihren Werken auch im Ganzen zu greifen, uns dafür einsetzen, dass die Leser das „anstreben“. Im „Appetizer“ und im „Appetit“ steckt ja, Ihnen brauchen wir das eigentlich nicht in Erinnerung zu rufen, appetere, „nach etwas greifen“, „etwas anstreben“.

Re vera philologus acutior callidiorque esse videris. Sed dic, quare sermones nostros in sermonem barbarum converteris. An id agis, ut linguae Latinae illam et vim et pulchritudinem et claritatem deroges, qua per tot saecula omnium iudicio gloriam sibi peperit linguarum reginae?

Tatsächlich, du scheint ein ziemlich spitzfindiger und cleverer Philologe zu sein. Aber sag mal: Warum hast du unsere Gespräche ins Barbarische übersetzt? Geht es dir etwa darum, der lateinischen Sprache jene Ausdruckskraft, Schönheit und Klarheit streitig zu machen, dank deren sie sich so viele Jahrhunderte hindurch nach dem Urteil aller den Ruhm einer Königin der Sprachen erworben hat?

Im Gegenteil, verehrter Seneca! Sehen Sie es als Hommage an diese Königin, vor allem aber an Ihre eigene stilistische Brillanz, Ihre pointierte, dem Kenner genussvolle Ausdrucksweise und sprachlich-gedankliche Meisterschaft an, dass wir Sie im Original zu Wort kommen lassen! Wenn wir Sie darüber hinaus auch im barbarischen Idiom wiedergeben, so ist das der Zeit geschuldet. Nicht alle, die es verdienen, mit Ihren Gedanken vertraut zu werden, sind der Königin der Sprachen mächtig!

O tempora, o mores!

Welche Zeiten, welche Sitten!

Wem sagen Sie das?! Aber es hat keinen Zweck, darüber zu jammern. Der Untergang des Abendlandes steht, finden wir, trotzdem nicht bevor – jedenfalls nicht aus dieser Richtung. Ihre Muttersprache ist im Übrigen in unseren Schulen immer noch beziehungsweise wieder sehr gut im Geschäft, wenn wir das so flapsig formulieren dürfen. Aber wissen Sie, was auch gegen Bildungsfrust manchmal ganz hilfreich ist? Raten Sie mal: Wir verdanken auch das den Römern!

O te adulatorem vel potius corruptorem! Certe inscriptionem libri significas, qua sermones nostros falsam speciem atque imaginem Senecae cuiusdam vinolenti fingens complexus es.

Du Schmeichler oder eher Verführer! Sicher spielst du auf den Titel des Buches an, unter dem du unsere Gespräche zusammenfasst – und dabei den falschen Eindruck einer Art von weinseligem Seneca erweckst.

Aber bester Seneca! Es macht Sie doch, zumal Sie bei manch einem im Verdacht der – sit venia verbo – Spaßbremse stehen, nur sympathischer, wenn Sie und wir uns bei den angeregten Gesprächen mit Ihnen ein Gläschen Wein genehmigen oder auch zwei! Und außerdem dürfen wir ausnahmsweise mit einem Zitat argumentieren: animus aliquando in exsultationem libertatemque extrahendus tristisque sobrietas removenda paulisper; „manchmal muss man die Seele zu größerer Ausgelassenheit und Freiheit ermuntern und die mürrische Nüchternheit eine Zeit lang aufgeben“ (tr. an. 17, 9). Sie ahnen sicher, wen wir da zitieren?

O me miserum! Quid est homo? Imbecillum corpus et fragile, nudum, suapte natura inerme, alienae opis indigens, ad omnes fortunae contumelias proiectum (cons. Marc. 11, 3). Age, praebe poculum!

Ich Ärmster! Was ist der Mensch? Ein schwacher, zerbrechlicher Körper, nackt und von Natur unbewaffnet, fremder Hilfe bedürftig, allen Misshandlungen des Schicksals ausgeliefert. Los, reich mir einen Becher!

Auf einen Wein mit Seneca

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