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MASSEN-PANIK?

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„Du irrst, wenn du den Mienen der Entgegenkommenden traust …“

Sie betonen stets, dass der Mensch ein auf Gemeinschaft angelegtes Wesen sei, und Sie halten die Fahne der Gemeinschaft stiftenden Werte hoch. Aber zu der Masse Mensch gehen Sie auf Distanz. Warum?

Quid tibi vitandum praecipue existimem, quaeris: turbam. Ego certe confitebor imbecillitatem meam: numquam mores, quos extuli, refero. Aliquid ex eo, quod composui, turbatur, aliquid ex iis, quae fugavi, redit. Quod aegris evenit, quos longa imbecillitas usque adeo adfecit, ut nusquam sine offensa proferantur, hoc accidit nobis, quorum animi ex longo morbo reficiuntur. (ep. 7, 1)

Du fragst, was du nach meiner Meinung am meisten meiden solltest: die Masse. Ich jedenfalls gebe meine Schwäche freimütig zu: Niemals bringe ich den Charakter unbeschädigt zurück, mit dem ich mein Haus verlassen habe. Irgendetwas von dem, was ich schon geordnet hatte, wird wieder aufgewühlt, irgendeine von den Unarten, die ich schon fortgescheucht hatte, kehrt wieder zurück. Wie es Kranken ergeht, die lange Schwächung so angegriffen hat, dass sie sich ohne Rückfall nirgends nach draußen wagen, so ergeht es auch uns, deren Seele sich von langer Krankheit erholt.

Sie befürchten gewissermaßen Ansteckungsgefahr für Ihren Charakter, wenn Sie sich in große Menschenansammlungen begeben?

Inimica est multorum conversatio, nemo non aliquid nobis vitium aut commendat aut imprimit aut nescientibus adlinit. Utique quo maior est populus, cui miscemur, hoc periculi plus est. (ep. 7, 2)

Der Umgang mit vielen ist unheilvoll. Es gibt niemanden, der uns nicht irgendeine Fehlhaltung empfiehlt oder aufdrängt oder uns anhängt, ohne dass wir es merken. Je größer jedenfalls die Volksmenge ist, unter die wir uns mischen, umso mehr Gefahr lauert dort.

Was heißt das konkret?

Avarior redeo, ambitiosior, luxuriosior, immo vero crudelior et inhumanior, quia inter homines fui. (ep. 7, 3)

Ich kehre habgieriger zurück, ehrgeiziger, genusssüchtiger, ja sogar grausamer und unmenschlicher – weil ich unter Menschen war.

Die Pointe sitzt. Aber was Sie da sprachlich so hübsch zuspitzen, ist ja wohl inhaltlich nicht ganz so ernst gemeint?

Tempestas minatur, antequam surgat, crepant aedificia, antequam corruant, praenuntiat fumus incendium – subita est ex homine pernicies et eo diligentius tegitur, quo propius accedit. Erras, si istorum tibi, qui occurrunt, vultibus credis: hominum effigiem habent, animos ferarum, nisi quod illarum perniciosus est primus incursus; quos transiere, non quaerunt. (ep. 103, 2)

Sturm droht, bevor er tatsächlich losbricht, Gebäude knarren, bevor sie zusammenfallen, Rauch kündigt ein Feuer zuvor an – das Unheil aber, das von Menschen droht, kommt plötzlich und tarnt sich umso umsichtiger, je näher es kommt. Du irrst, wenn du den Mienen derer, die dir entgegenkommen, traust: Sie haben das Aussehen von Menschen, aber das Wesen wilder Tiere – außer dass deren erster Angriff Verderben bringt. An denen sie vorbeigegangen sind, die greifen sie nicht an.

Sie schockieren uns mit diesem Menschenbild. Wenn Sie so negativ über Ihre Mitmenschen – jedenfalls soweit sie Teil einer amorphen Masse sind – urteilen, dann zielt Ihre Kritik vermutlich nicht so sehr auf die Individuen als auf die unüberschaubare Zahl der „vitium-Träger“. Haben Sie wirklich Sorge, sich „anzustecken“, wenn Sie durch Rom schlendern?

Cum videris forum multitudine refertum et saepta concursu omnis frequentiae plena et illum circum, in quo maximam sui partem populus ostendit, hoc scito istic tantundem esse vitiorum quantum hominum. Inter istos, quos togatos vides, nulla pax est; alter in alterius exitium levi compendio ducitur; nulli nisi ex alterius iniuria quaestus est. Non alia quam in ludo gladiatorio vita est cum isdem viventium pugnantiumque. Ferarum iste conventus est, nisi quod illae inter se placidae sunt morsuque similium abstinent, hi mutua laceratione satiantur. (ira II 8, 1–3)

Wenn du das Forum von der Menschenmasse verstopft siehst und den Versammlungsplatz für Wahlen voll vom Zusammenströmen der vielen Leute und den Circus, in dem das Volk eine gewaltige Teilmenge von sich präsentiert, dann wisse, dass es dort ebenso viele Laster wie Menschen gibt. Zwischen denen, die du da in der Toga, dem Friedenskleid, siehst, herrscht kein Frieden; ein jeder lässt sich um eines kleinen Vorteils willen zum Verderben des anderen verleiten, jeder sucht seinen Lebensunterhalt, indem er den anderen übers Ohr haut. Das Leben dort spielt sich nicht anders ab als in einer Gladiatorenkaserne: Sie leben und kämpfen mit denselben Menschen. Das da ist eine Ansammlung wilder Tiere. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die wilden Tiere untereinander friedfertig sind und auf ihre Artgenossen nicht mit Bissen losgehen, die Menschen sich dagegen an gegenseitiger Zerfleischung sättigen.

Das klingt ja fast, als ob Sie bei dem Gedanken, sich in der Masse „anzustecken“, Panik erfasste. Nehmen wir an, die Masse ist so, wie Sie sie beschreiben. Warum wird sie einem zur Einhaltung ethischer Prinzipien Entschlossenen so gefährlich – zumal angesichts Ihrer massiven Warnungen, die man doch im Kopf haben kann?

Subducendus populo est tener animus et parum tenax recti. Facile transitur ad plures. Socrati et Catoni et Laelio excutere morem suum dissimilis multitudo potuisset; adeo nemo nostrum ferre impetum vitiorum tam magno comitatu venientium potest. Unum exemplum luxuriae aut avaritiae multum mali facit. Quid tu accidere his moribus credis, in quos publice factus est impetus? (ep. 7, 6f.)

Man muss eine noch zarte und nicht zäh genug am Richtigen festhaltende Seele dem Einfluss der Masse entziehen: Leicht läuft man zur Mehrheit über. Selbst einem Sokrates, einem Cato, einem Laelius hätte eine so wesensfremde Menge ihren gefestigten Charakter erschüttern können; erst recht vermag niemand von uns dem Ansturm von Lastern, der in so großer Begleitung daherkommt, standzuhalten. Schon ein einziges Beispiel von Verschwendungssucht oder Habgier richtet großen Schaden an. Was, meinst du, passiert mit einem Charakter, der in aller Öffentlichkeit angegriffen wird?

Sie meinen: Er „infiziert“ sich, er orientiert sich an schlechten Vorbildern?

Necesse est aut imiteris aut oderis. Utrumque autem devitandum est: neve similis malis fias, quia multi sunt, neve inimicus multis, quia dissimiles sunt. (ep. 7, 8)

Es kann nicht ausbleiben, dass du sie entweder nachahmst oder hasst. Beides aber ist unbedingt zu vermeiden: Weder sollst du den Schlechten ähnlich werden, nur weil sie viele sind, noch sollst du zum Feind der Vielen werden, weil sie anders sind als du.

Und das bedeutet: geordneter Rückzug in den Kreis Gleichgesinnter?

Recede in te ipse, quantum potes; cum his versare, qui te meliorem facturi sunt, illos admitte, quos tu potes facere meliores. Mutuo ista fiunt, et homines, dum docent, discunt. (ep. 7, 8)

Ziehe dich, soweit es geht, auf dich selbst zurück. Pflege Umgang mit denen, die dich besser machen, lass diejenigen in dein Haus, die du selbst besser machen kannst. Beides geschieht wechselseitig. Die Menschen lernen, indem sie lehren.

Welche Konsequenzen hat Ihre Einstellung zur Masse auf Ihre eigene Akzeptanz bei den Menschen?

Honores iniuriaeque vulgi in promiscuo habendae; nec his dolendum nec illis gaudendum. Non est, quod te gloria publicandi ingenii producat in medium, ut recitare istis velis aut disputare. Ista condenda in animum sunt, ut contemnas voluptatem ex plurium adsentione venientem. Multi te laudant: ecquid habes, cur placeas tibi, si is es, quem intellegant multi? Introrsus bona tua spectent. (const. sap. 19, 2; ep. 7, 9; 7, 12)

Ehrungen und Beleidigungen seitens der Masse darf man keinerlei Bedeutung beimessen; weder darf man über das eine betrübt sein noch sich an dem anderen freuen. Es gibt keinen Grund, warum dich Ehrgeiz, dein Talent vielen bekannt zu machen, in die Öffentlichkeit treiben sollte – dergestalt, dass du solchen Leuten deine Gedanken vortragen oder mit ihnen diskutieren wolltest. Dies solltest du stets beherzigen: Schätze den Genuss, der aus der Anerkennung der Vielen kommt, gering. Viele loben dich: Hast du Grund, mit dir zufrieden zu sein, wenn du zu denen gehörst, die von vielen verstanden werden? Deine Werte sollen sich nach innen richten.

Haben Sie keine Sorge, dass das als intellektuelle Arroganz gedeutet wird?

Philosophiam non debebis iactare; multis fuit periculis insolenter tractata et contumaciter. Tibi vitia detrahat, non aliis exprobret; licet sapere sine pompa, sine invidia. (ep. 103, 5)

Man darf sich mit der Philosophie nicht brüsten. Überheblich und rücksichtslos betrieben, ist sie schon immer mit vielen Gefahren verbunden gewesen. Sie soll dir die Fehler austreiben und sie nicht anderen zum Vorwurf machen. Man kann weise sein, ohne damit anzugeben und ohne sich damit den Hass der Menschen zuzuziehen.

Auf einen Wein mit Seneca

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