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PHYSIK STUDIEREN!

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„Es macht Freude, inmitten der Gestirne selbst zu wandeln …“

Man weiß von Ihnen, dass Sie auf die Geschichtsschreibung nicht besonders gut zu sprechen sind – was uns als Angehörigen dieser Profession schon ein bisschen wehtut. Was haben Sie gegen Historiker?

Consumpsere se quidam, dum acta regum externorum componunt quaeque passi invicem ausique sunt populi. Quanto satius est sua mala extinguere quam aliena posteris tradere! Quanto potius deorum opera celebrare quam Philippi aut Alexandri latrocinia ceterorumque, qui exitio gentium clari non minores fuere pestes mortalium quam inundatio, qua planum omne perfusum est, quam conflagratio, qua magna pars animantium exaruit? (NQ III pr. 5)

Manche haben sich damit aufgerieben, die Taten fremder Potentaten und all das darzustellen, was die Völker erlitten und sich gegenseitig zugefügt haben. Um wie viel besser ist es, seine eigenen Übel auszulöschen, als fremde der Nachwelt zu überliefern! Um wie viel besser ist es, die Werke der Götter zu rühmen als die Raubzüge eines Philipp oder eines Alexander und anderer, die ihren Ruhm auf Völkermord gegründet haben und die keine geringeren Seuchen für die Menschen gewesen sind als eine Überschwemmung, die alles ebene Land überflutet, oder als eine Brandkatastrophe, die einen großen Teil der Lebewesen dahinrafft!

Es gibt, das werden Sie einräumen, auch andere Themen und Felder, die die Geschichtsschreibung behandelt. Aber bleiben wir bei den von Ihnen angeführten Beispielen. Lehrt da die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht auch, dass selbst große Machtgebilde dem launischen Schicksal unterworfen sind, dessen Unbeständigkeit wir Menschen uns doch Ihrer Meinung nach immer wieder klarmachen sollen?

Regna ex infimo coorta supra imperantes constiterunt, vetera imperia in ipso flore ceciderunt. Iniri non potest numerus, quam multa ab aliis fracta sint. Magna ista, quia parvi sumus, credimus; multis rebus non ex natura, sed ex humilitate nostra magnitudo est. (NQ III pr. 9f.)

Dynastien von ganz unbedeutender Herkunft haben sich über ihre einstigen Herren erhoben, alte Reiche sind mitten in ihrer Blütezeit zusammengebrochen. Unmöglich, die Zahl derer zu ermitteln, die von anderen in ihrer Macht gebrochen worden sind! Wir halten solche Herrschaftsgebilde für groß, weil wir so klein sind; viele Dinge erhalten ihre Größe nicht aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit, sondern nur aus der Perspektive unserer Winzigkeit.

Eine Erkenntnis, die wir neben vielem anderem Erhellendem der Philosophie verdanken?

Lucescere, si velimus, potest. Uno autem modo potest, si quis hanc humanorum divinorumque notitiam scientia acceperit, si illa se non perfuderit, sed infecerit, si quaesierit, quae sint bona, quae mala. Nec intra haec humani ingenii sagacitas sistitur; prospicere et ultra mundum libet, quo feratur, unde surrexerit, in quem exitum tanta rerum velocitas properet. (ep. 110, 8)

Wenn wir wollen, kann es hell werden. Das ist aber nur auf eine einzige Weise möglich: Wenn jemand diese Kenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge durch wissenschaftliches Fragen erfasst hat, wenn er sich mit der Wissenschaft nicht nur übergossen, sondern wenn er sie in sich aufgenommen hat, wenn er erforscht hat, was gut und was schlecht ist. Der Scharfsinn des menschlichen Verstandes macht nicht in diesem Rahmen halt. Er will sogar über die Welt hinaus blicken, wohin ihr Lauf führt, von wo sie kommt und zu welchem Ausgang die Dinge mit so großer Schnelligkeit streben.

Sie sprechen von der Erforschung der Natur, der Physik im ursprünglichen Sinne. Heute will jeder immer wissen, was das eine oder andere ihm „bringt“. Also fragen wir Sie in modischer Diktion: Was bringt mir das?

Quo nullum maius est: nosse naturam. Neque enim quicquam habet in se huius materiae tractatio pulchrius, cum multa habeat futura usui, quam quod hominem magnificentia sui detinet nec mercede, sed miraculo colitur. (NQ VI 4, 2)

Das Größte überhaupt: die Kenntnis der Natur. Denn das Studium dieses Themas hat, obgleich es auch viele praktische Vorteile für die Zukunft in sich birgt, nichts Schöneres, als dass es den Menschen durch seine Großartigkeit in Beschlag nimmt und es nicht um des materiellen Gewinns wegen, sondern um des Staunens und Bewunderns willen betrieben wird.

Ist die Physik wichtiger als die Ethik?

Quantum inter philosophiam interest et ceteras artes, tantum interesse existimo in ipsa philosophia inter illam partem, quae ad homines, et hanc, quae ad deos pertinet. Altera docet, quid in terris agendum sit, altera, quid agatur in caelo. Altera errores nostros discutit et lumen admovet, quo discernantur ambigua vitae; altera multum supra hanc, in qua volutamur, caliginem excedit et e tenebris ereptos perducit illo, unde lucet. (NQ I pr. 1f.)

So groß, wie der Unterschied zwischen der Philosophie und den anderen Wissenschaften ist, so groß ist der Abstand, meine ich, innerhalb der Philosophie selbst zwischen dem Teil, der sich auf die Menschen bezieht, und dem anderen, der sich mit den Göttern beschäftigt. Der eine lehrt uns, wie wir uns auf der Erde zu verhalten haben, der andere, was im Himmel geschieht. Der eine widerlegt und vertreibt unsere Irrtümer und bringt Licht, mit dessen Hilfe sich die Ungewissheiten des Lebens voneinander trennen lassen, der andere ragt weit über die Dunkelheit, in der wir uns herumwälzen, hinaus, entreißt uns der Finsternis und führt uns dorthin, woher das Licht kommt.

Kann man sagen: Dieser physikalische Forscherdrang weitet unser Bewusstsein?

Equidem tunc rerum naturae gratias ago, cum illam non ab hac parte video, qua publica est, sed cum secretiora eius intravi, cum disco, quae universi materia sit, quis auctor aut custos, quid sit deus, totus in se tendat an et ad nos aliquando respiciat, faciat cotidie aliquid an semel fecerit, pars mundi sit an mundus. (NQ I pr. 3)

Ich danke besonders dann der Natur, wenn ich sie nicht nur von der Seite aus sehe, auf der sie jedermann zugänglich ist, sondern wenn ich in die Welt ihrer Geheimnisse eingetreten bin, wenn ich lerne, worin der Stoff der Welt besteht, wer ihr Schöpfer oder Hüter ist, was Gott ist, ob er sich ganz auf sich selbst konzentriert oder manchmal auch zu uns schaut, ob er täglich wirkend eingreift oder nur ein einziges Mal gewirkt hat, ob er Teil des Weltalls ist oder das Weltall selbst.

Für Sie ist ebendieses Fragen Ausdruck und Verpflichtung der menschlichen Ratio?

O quam contempta res est homo, nisi supra humana surrexerit! Nisi ad haec admitterer, non tanti fuerat nasci. Quid enim erat, cur in numero viventium me positum esse gauderem? An ut cibos et potiones percolarem? Ut hoc corpus causarium ac fluidum periturumque nisi subinde impletur, farcirem et viverem aegri minister? Ut mortem timerem, cur uni nascimur? (NQ I pr. 5 und 4)

Ach, was für eine verachtenswerte Sache ist der Mensch, der sich über die menschlichen Dinge nicht erhebt! Wenn ich nicht zur Schau dieser Dinge zugelassen würde, wäre es der Mühe nicht wert gewesen, geboren zu werden. Denn warum sollte ich mich dann darüber freuen, zur Zahl der Lebenden gerechnet zu werden? Etwa deshalb, um Speisen und Getränke durch mich hindurchsickern zu lassen? Etwa deshalb, um diesen kränklichen, hinfälligen Körper, der zugrunde geht, wenn er nicht von Zeit zu Zeit aufgefüllt wird, vollzustopfen und als mein eigener Krankendiener zu vegetieren? Etwa deshalb, um den Tod zu fürchten, für den allein wir geboren werden?

Die Voraussetzung für diesen Höhenflug des Menschen ist aber schon ein sittlich gutes Leben? Oder haben wir Sie da falsch verstanden?

Tunc consummatum habet plenumque bonum sortis humanae, cum calcato omni malo petit altum et in interiorem naturae sinum venit. Tunc iuvat inter ipsa sidera vagantem divitum pavimenta ridere et totam cum auro suo terram. (NQ I pr. 7)

Dann ist er im Besitz des vollkommenen und ungeschmälerten Gutes unserer menschlichen Möglichkeiten, wenn er jedes Übel zertrampelt hat, in die Höhe strebt und in den inneren Schoß der Natur gelangt. Dann macht es Freude, inmitten der Gestirne selbst zu wandeln, über die Mosaikfußböden der Reichen zu lachen und über die ganze Erde mit all ihrem Gold.

Aus dieser sublimen Perspektive stellen sich die Dinge anders dar?

O quam ridiculi sunt mortalium termini! Ultra Istrum Dacos nostrum arceat imperium, Rhenus Germaniae modum faciat. Si quis formicis det intellectum hominis, nonne et illae unam aream in multas provincias divident? Punctum est istud, in quo navigatis, in quo bellatis, in quo regna disponitis minima, etiam cum illis utrimque Oceanus occurrit. Sursum ingentia spatia sunt, in quorum possessionem animus admittitur. Cum illa tetigit, alitur, crescit ac velut vinculis liberatus in originem redit. Illic demum discit, quod diu quaesiit; illic incipit deum nosse. (NQ I pr. 9–13)

Ach, wie lächerlich sind die Grenzen, die die Menschen ziehen! Jenseits der Donau soll unser Reich die Daker abwehren, der Rhein soll den Germanen ihre Grenze aufzeigen. Angenommen, jemand gibt Ameisen den Verstand der Menschen – werden nicht auch sie die eine Fläche in viele Provinzen aufteilen? Es ist nur ein Punkt, auf dem ihr zur See fahrt, auf dem ihr Krieg führt, auf dem ihr einzelne Königreiche absteckt, Mini-Reiche, auch wenn sie auf beiden Seiten der Ozean begrenzt. Darüber sind ungeheuer weite Räume; sie in Besitz zu nehmen, erhält die Seele die Erlaubnis. Wenn sie diese Räume berührt, erhält sie Nahrung, wächst sie und kehrt, wie von Fesseln befreit, zu ihrem Ursprung zurück. Dort erfährt sie schließlich, wonach sie lange gesucht hat; dort beginnt sie Gott zu erkennen.

Und das alles dank der Physik! Wir sind beeindruckt. Trotzdem: Glauben Sie, dass Sie bei der Erforschung der Phänomene der Natur schon ziemlich am Ende der Erkenntnis angelangt sind?

Veniet tempus, quo ista, quae nunc latent, in lucem dies extrahat et longioris aevi diligentia. Ad inquisitionem tantorum aetas una non sufficit. Itaque per successiones ista longas explicabuntur. Veniet tempus, quo posteri nostri tam aperta nos nescisse mirentur. (NQ VII 25, 4f.)

Es wird die Zeit kommen, da bringt der helle Tag all das ans Licht, was jetzt noch verborgen ist – und die gewissenhafte Forschung eines längeren Zeitraums. Um so Bedeutendes zu erforschen, reicht ein Leben nicht aus. Deshalb werden die offenen Fragen in der langen Folge vieler Generationen gelöst werden. Es wird die Zeit kommen, da werden sich unsere Nachfahren darüber wundern, dass wir so Offenkundiges nicht gewusst haben.

Auf einen Wein mit Seneca

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