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DER SEX, DIE FRAU, DIE UNMORAL

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„Schamhaftes Verhalten ist ein Indiz für Hässlichkeit …“

Es gab mal lange nach Ihrer Zeit ein auflagenstarkes Buch mit dem Titel „Joy of sex“. Das ist ja im Grunde Latein, nur im anglobarbarischen Idiom: gaudium sexus. Gehen wir recht in der Annahme, dass Sie dieses Buch nicht erworben hätten?

Libido, qua necesse est, fluat. (tr. an. 9, 2)

Dem Sexualtrieb gebe man so viel nach, wie es nötig ist.

Hört sich ziemlich lustfeindlich an. Was heißt denn „nötig“?

Si cogitas libidinem non voluptatis causa homini datum, sed propagandi generis … (cons. Helv. 13, 3)

Wenn du bedenkst, dass der Sexualtrieb dem Menschen nicht gegeben worden ist, damit er Lust hat, sondern damit er seine Art fortpflanzt …

… dann liegst du auf Senecas Linie – richtig? Und ärgerst dich über all die, die das anders sehen und praktizieren.

Maximum saeculi malum: impudicitia. Invenit impudicitia novam contumeliam sibi. (cons. Helv. 16, 3; NQ VII 31, 1)

Das größte Übel unserer Zeit: Schamlose Unzucht. Sie findet immer neue Wege, sich selbst zu schänden.

Und daran sind Ihrer Ansicht nach die Frauen nicht unschuldig, vermuten wir, weil pudicitia im römischen Wertsystem als spezifisch weibliche Tugend gilt?

Numquid iam ulla repudio erubescit, postquam illustres quaedam ac nobiles feminae non consulum numero, sed maritorum annos suos computant et exeunt matrimonii causa, nubunt repudii? Numquid iam ullus adulterii pudor est, postquam eo ventum est, ut nulla virum habeat, nisi ut adulterum inritet? Argumentum est deformitatis pudicitia. Quam invenies tam miseram, tam sordidam, ut illi satis sit unum adulterorum par, nisi singulis divisit horas? (ben. III 16, 2f.)

Errötet etwa noch irgendeine Frau über ihre Scheidung, seit manche bekannte Dame von edler Abstammung ihre Jahre nicht mehr nach der Anzahl der Konsuln, sondern nach der ihrer Ehemänner misst und seit die Frauen das Haus verlassen, um zu heiraten, und heiraten, um sich wieder scheiden zu lassen? Gibt es etwa noch irgendeine Scham vor Ehebruch, nachdem es so weit gekommen ist, dass keine Frau mehr einen Mann hat, außer um einen Ehebrecher damit anzustacheln? Schamhaftes Verhalten ist ein Indiz für Hässlichkeit. Welche Frau wirst du finden, die so arm, so knauserig ist, dass ihr ein Paar Ehebrecher genügt und sie nicht einzelnen Ehebrechern die Stunden zuweist?

Oh je, da scheinen wir einen wunden Punkt bei Ihnen berührt zu haben. Sie explodieren ja förmlich vor Polemik. Immerhin, Sie weisen ja selbst darauf hin: Manche Damen aus bestem Hause geben nicht gerade das beste Beispiel – Stichwort Julia.

Divus Augustus filiam ultra impudicitiae maledictum impudicam relegavit et flagitia principalis domus in publicum emisit: admissos gregatim adulteros, pererratam nocturnis comissationibus civitatem, forum ipsum ac rostra, ex quibus pater legem de adulteriis tulerat, filiae in stupra placuisse, cum ex adultera in quaestuariam versa ius omnis licentiae sub ignoto adultero peteret. (ben. VI 32, 1)

Der vergöttlichte Augustus verbannte seine Tochter, die sich über die Nachrede mangelnder Züchtigkeit hinaus unzüchtig verhielt, und ließ die Schandtaten, die sich im Kaiserpalast abspielten, öffentlich werden: Dass scharenweise Ehebrechern der Zutritt gestattet worden sei, dass sie in nächtlichen Saufzügen durch die ganze Gemeinde geirrt sei, dass die Tochter selbst das Forum und die Rednertribüne, von der aus ihr Vater das Gesetz über Ehebruch eingebracht hatte, für ihre Sexabenteuer ausgewählt habe, nachdem sie sich von einer Ehebrecherin zur Hure gewandelt und das Recht zu jeglicher Zügellosigkeit unter einem ihr unbekannten Ehebrecher verlangt habe.

Sie hätten es richtiger gefunden, wenn Augustus das alles im Interesse der öffentlichen Moral unter den Teppich gekehrt hätte?

Haec tam vindicanda principi quam tacenda, quia quarundarum rerum turpitudo etiam ad vindicantem redit, parum potens irae publicaverat. Deinde, cum interposito tempore in locum irae subisset verecundia, ingemens, quod non illa silentio pressisset, quae tam diu nescierat, donec loqui turpe esset, saepe exclamavit: „Horum mihi nihil accidisset, si aut Agrippa aut Maecenas vixissent!“ (ben. VI 32, 2)

Dieses Verhalten hätte der Kaiser ebenso bestrafen wie mit Schweigen übergehen müssen, weil die Schande, die von manchen Dingen ausgeht, auch auf den Strafenden zurückfällt. Aber er hatte es, ohnmächtig vor Wut, öffentlich gemacht. Als nach einiger Zeit die Wut der Scham gewichen war, stöhnte er darüber auf, dass er diese Dinge nicht mit Schweigen unterdrückt habe, von denen er so lange nichts gewusst hatte, bis es schimpflich war, darüber zu sprechen, und oft rief er aus: „Nichts davon wäre mir passiert, wenn Agrippa oder Maecenas noch am Leben gewesen wären!“

Julia war sicherlich kein moralisches Ruhmesblatt für das Kaiserhaus und die römische High Society. Aber Ihr Rundumschlag vorhin gegen alle Frauen lässt ja wohl auch jenes Augenmaß vermissen, das Sie sonst stets einfordern. Loben Sie doch mal eine Frau! Mit welchem Verhalten hätte sie Ihre Anerkennung verdient?

Non faciem coloribus ac lenociniis polluisti, numquam tibi placuit vestis, quae nihil amplius nudaret, cum poneretur, unicum tibi ornamentum pulcherrima et nulli obnoxia aetati forma, maximum decus visa est pudicitia. (cons. Helv. 16, 4)

Du hast dein Gesicht nicht mit Schminke und anderen Verführungsmitteln verschmutzt, niemals hat dir Kleidung gefallen, die nichts mehr entblößte, wenn sie abgelegt wurde; einziger Schmuck war dir eine strahlende, keinem Alter unterworfene Schönheit: und als größte Zier erschien dir deine Züchtigkeit.

Lassen wir das einfach so stehen. Uns kommen bei Ihrem Feldzug gegen sexuelle Ausschweifungen, ehrlich gesagt, die Männer zu gut weg. Wie denkt der wahre Weise denn über die in Sachen Sexualmoral?

Miserrimos mortalium iudicet, in quantiscumque opibus refulgebunt, ventri ac libidini deditos. (ben. VII 2, 2)

Diejenigen soll er, in welch großen Schätzen sie auch funkeln mögen, für die unglücklichsten Menschen halten, die dem Bauch und dem Sex ergeben sind.

Warum ist die sinnliche Lust denn eigentlich kein Gut – obwohl sie uns doch zweifellos von der Natur gegeben ist?

Animalia venere non aeque fatigantur, virium illis maior est et aequabilior firmitas. Fruuntur voluptatibus, quas et magis capiunt et ex facili, sine ullo pudoris aut paenitentiae metu. Considera tu itaque, an id bonum vocandum sit, quo deus ab homine vincitur. (ep. 74, 15f.)

Tiere werden durch sexuelle Aktivität nicht so ermüdet, sie haben größere Kräfte und größere Ausdauer. Sie genießen die Lust, zu der sie in stärkerem Maße und mit Leichtigkeit fähig sind, ohne irgendeine Angst vor Scham oder Reue. Überlege du dir nun, ob man das ein Gut nennen darf, in dem Gott von einem Menschen übertroffen wird.

Wir ahnen es: Auch die Sexualität sollte sich der Ratio unterwerfen?

Summum bonum in animo contineamus; obsolecit, si ab optima nostri parte ad pessimam transit et transfertur ad sensus, qui agiliores sunt animalibus mutis. Non est summa felicitatis nostrae in carne ponenda; bona illa sunt vera, quae ratio dat, solida ac sempiterna, quae cadere non possunt, ne decrescere quidem ac minui. (ep. 74, 16)

Das höchste Gut wollen wir in der Seele ansiedeln. Es verliert seinen Glanz, wenn es von unserem besten Teil zum schlechtesten übergeht und auf sinnliche Genüsse übertragen wird, die bei den stummen Tieren lebhafter sind. Man darf den Gipfel des Glücks nicht ins Fleisch verlagern. Das sollen wahre Güter sein, die die Vernunft gibt; sie sind fest und dauerhaft, sie können nicht untergehen und nicht einmal abnehmen oder geringer werden.

Und auf diesen richtigen Weg können Frauen die Männer führen, indem sie auf weibliche Verführungskünste verzichten?

O quam multarum egregia opera in obscuro iacent! (cons. Helv. 19, 5)

Ach, wie vieler Frauen hervorragende Taten liegen im Verborgenen!

Auf einen Wein mit Seneca

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