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FRAGWÜRDIGE WEIN-SELIGKEIT

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„Der Rausch verursacht keine Charakterschwäche, er bringt sie ans Licht …“

Sie leben in einer Gesellschaft, in der die Zivilisationsdroge Wein gleichsam zum guten Ton gehört. Sie wird von Dichtern gerühmt, und selbst Kinder führt man schon behutsam an den Weingenuss heran. Sie zeigen in Ihren Schriften den Weg zur Weisheit auf. Weisheit und Wein – geht das nach Ihrer Meinung zusammen?

Satius est aperte accusare ebrietatem et vitia eius exponere, quae etiam tolerabilis homo vitaverit, nedum perfectus ac sapiens. Cui satis est sitim extinguere. Qui etiam si quando hortata est hilaritas aliena causa producta longius, tamen citra ebrietatem resistit. (ep. 83, 17)

Es ist richtiger, sich offen gegen die Trunkenheit auszusprechen und ihre Laster darzulegen, die ja sogar der Durchschnittsmensch meidet, von einem sittlich vollkommenen und weisen Menschen gar nicht zu reden. Dem reicht es aus, den Durst zu löschen. Er macht, auch wenn mal eine fröhliche, aus anderem Grunde länger ausgedehnte Runde dazu verlockt, trotzdem vor der Schwelle zum Betrunkensein Schluss.

Man munkelt aber, dass auch, wenn wir so sagen dürfen, die stoische Ikone Cato, die Sie ja bei vielen Gelegenheiten als Leitbild propagieren, nicht selten ziemlich tief ins Glas geschaut habe.

Aspice M. Catonem sacro illi pectori purissimas manus admoventem et vulnera parum alte demissa laxantem! Cum aliquis tormenta fortiter patitur, omnibus virtutibus utitur. (ep, 67, 13 und 10)

Sieh, wie Marcus Cato seine reinen, unbefleckten Hände an seine heilige Brust legt und die Wunde, die noch nicht tief genug ist, weiter aufreißt! Wenn jemand solche Folter tapfer erträgt, dann ist er im Besitz der sittlichen Vollkommenheit.

Wir haben von Ihnen, mit Verlaub, schon präzisere Antworten erhalten. Selbst Cicero berichtet ja von Catos nächtlichen Zwiesprachen mit Philosophen und Wein.

Marcum Catonem utrumque et Laelium Sapientem et Socraten cum Platone et Zenonem Cleathenque in animum meum sine dignatione summa recipiam? Ego vero illos veneror et tantis nominibus semper adsurgo. (ep. 64, 10)

Soll ich einen Marcus Cato, den Älteren wie den Jüngeren, einen Mann

wie den weisen Laelius, einen Sokrates zusammen mit Platon, einen Zenon und einen Kleanthes nicht mit höchster Verehrung in meine Seele aufnehmen? Nein, diese Männer verehre ich, und ich erhebe mich stets vor solch großen Namen.

Wer auf Granit beißt, sollte anderswo weitermachen. Also zurück zur Trunksucht. Ihr Schulgründer Zenon lehnt übermäßigen Alkoholgenuss mit folgender Gleichung ab: Einem Betrunkenen vertraut niemand ein Geheimnis an, einem sittlich Guten dagegen schon. Also darf ein sittlich guter Mensch nicht betrunken sein. Einverstanden?

Quemadmodum opposita interrogatione simili derideatur, attende: Dormienti nemo secretum sermonem committit, viro autem bono committit; vir bonus ergo non dormit. (ep. 83, 9)

Hör zu, wie man ihn mit einer ähnlichen Schlussfolgerung lächerlich machen kann: Einem Schlafenden vertraut niemand ein Geheimnis an, einem sittlich Guten aber schon. Also schläft der sittlich Gute nicht.

Eine bemerkenswerte Distanzierung! Für Sie ist der Alkoholiker also nicht per se ein Sicherheitsrisiko in Sachen Vertraulichkeit, auch im Suff niemand sozusagen mit eingebauter Plaudergarantie?

Falsum est ei, qui soleat ebrius fieri, non committi sermonem secretum. Cogita enim, quam multis militibus non semper sobriis et imperator et tribunus et centurio tacenda mandaverint. De illa C. Caesaris caede tam creditum est Tillio Cimbrio quam C. Cassio. Cassius tota vita aquam bibit, Tillius Cimber et nimius erat in vino et scordalus. In hanc rem iocatus est ipse: „Ego“, inquit, „quemquam feram, qui vinum ferre non possum?“ (ep. 83, 12)

Es ist falsch, dass man einem, der gewohnheitsmäßig trinkt, kein Geheimnis anvertrauen dürfte. Denk doch daran, wie vielen nicht immer nüchternen Soldaten Feldherren, Offiziere und Unteroffiziere Geheimzuhaltendes anvertraut haben! Beim Attentat damals auf Gaius Caesar war Tillius Cimber ebenso eingeweiht wie Gaius Cassius. Cassius hat sein ganzes Leben lang Wasser getrunken, Tillius Cimber dagegen war ein notorischer Säufer und ein Streithammel obendrein. Zu der ganzen Angelegenheit hat er sich mal selbstironisch so geäußert: „Ich soll irgendjemand als Herrn ertragen, der ich nicht einmal den Wein vertrage?“

Mit dem Argument zu geringer Diskretion ist also kein Stich gegen die Trunksucht zu machen. Wir haben Sie vorhin aber nicht so verstanden, dass Sie übermäßigen Weingenuss richtig fänden. Wie kann man einem Gefährdeten klarmachen, dass Alkohol keine „Lösung“ ist?

Dic, quam turpe sit plus sibi ingerere quam capiat et stomachi sui non nosse mensuram, quam multa ebrii faciant, quibus sobrii erubescant, nihil aliud esse ebrietatem quam voluntariam insaniam. Extende in plures dies illum ebrii habitum: numquid de furore dubitabis? (ep. 83, 18)

Sag ihm einfach, wie abstoßend es ist, mehr in sich hineinzuschütten, als er vertragen kann, und das Fassungsvermögen seines Magens nicht zu kennen, wie viele Dinge die Leute im Suff tun, deren sie sich in nüchternem Zustand schämen, und dass Betrunkensein nichts anderes ist als freiwilliger Wahnsinn. Stell dir das Verhalten eines Betrunkenen auf mehrere Tage ausgedehnt vor: Wirst du irgendeinen Zweifel hegen, dass da einer wahnsinnig ist?

Als potenziell gefährlich gilt die rauschtypische Enthemmung.

Omne vitium ebrietas et incendit et detegit, obstantem malis conatibus verecundiam removet. Plures enim pudore peccandi quam bona voluntate prohibitis abstinent. (ep. 83, 19)

Trunkenheit macht jede charakterliche Schwäche akut und deckt sie gleichzeitig auf; sie nimmt uns die natürliche Scheu, die üblen Taten entgegensteht. Es lassen sich ja mehr Menschen aus Scham, sich etwas zuschulden kommen zu lassen, von Verbotenem abhalten als von gutem Willen.

Sie unterstützen also die Enthemmungs-These? Ist der Wein böse oder sind wir es?

Ubi possedit animum nimia vis vini, quicquid mali latebat, emergit. Non facit ebrietas vitia, sed protrahit. (ep. 83, 20)

Sobald die Allgewalt des Weines von uns Besitz genommen hat, kommt jede Charakterschwäche zum Vorschein, die vorher verborgen war. Der Rausch verursacht keine Charakterschwächen, sondern er bringt sie ans Licht.

Was sagen Sie jugendlichen Komasäufern und älteren Kampftrinkern?

Quae gloria est capere multum? Cum penes te palma fuerit et propinationes tuas strati somno ac vomitantes recusaverint, cum superstes toti convivio fueris, cum omnes viceris virtute magnifica et nemo vini tam capax fuerit, vinceris a dolio. (ep. 83, 24)

Was ist das für ein Ruhm, viel zu vertragen? Wenn du die Siegespalme in Händen hältst und deine Saufkumpane, im Schlaf hingestreckt und kotzend, auf dein Zuprosten nicht mehr reagieren, wenn du allein vom ganzen Gelage übrig bist, wenn du alle mit großartiger Leistungsfähigkeit unter den Tisch getrunken hast und keiner so viel Wein in sich hineinkippen konnte wie du – dann wirst du besiegt, und zwar vom Weinfass.

Hat es Sinn, Menschen durch Vorhaltungen oder „fiese Sprüche“ von der Sauferei abzuhalten?

Deformitatem rei et importunitatem ostende rebus, non verbis! Adice illam ignorationem sui, dubia et parum explanata verba, incertos oculos, gradum errantem, vertiginem capitis, stomachi tormenta, cum effervescit merum ac viscera ipsa distendit. (ep. 83, 27 und 21)

Wie scheußlich und widerlich die ganze Sache ist, zeige ihnen an Tatsachen auf, nicht mit Worten! Nimm die erhebliche Trübung des Bewusstseins hinzu, die lallende, unartikulierte Sprache, die stieren Blicke, den schwankenden Gang, den Schwindel und die Qualen des überladenen Magens, wenn der Wein aufschäumt und selbst die Eingeweide auseinanderzieht!

Ihr Wort in Bacchus’ Ohr! Sie setzen kompromisslos auf Vernunft. Hoffentlich wirkt’s!

Quod facillimum est, proba istas, quae voluptates vocantur, ubi transcenderint modum, poenas esse. (ep. 83, 27)

Überhaupt kein Problem! Mach ihnen einfach klar, dass alles, was unter der Bezeichnung Genuss läuft, sobald es ein bestimmtes Maß überschreitet, zur Strafe wird.

Auf einen Wein mit Seneca

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