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Behindertenspott – Eine ethische Herausforderung
ОглавлениеLiebe macht blind, sagt man. Das war im Altertum nicht anders, und die Römer hatten eine hübsche sprachliche „Formel“ dafür: amans amens, „wer liebt, ist verrückt“ (a-mens, „ohne Verstand“). Zur Blindheitsmetapher steuert Martial ein originelles Spottgedicht bei:
Thaida Quintus amat. „Quam Thaida?“ – „Thaidam luscam.“ Unum oculum Thais non habet, ille duos. (III 8)
Quintus liebt Thais. „Welche Thais?“ – „Die einäugige Thais“.
Ein Auge fehlt der Thais, ihm fehlen beide.
Ein Kurzdialog steht am Beginn. Er folgt auf die schlichte Feststellung, dass ein gewisser Quintus eine gewisse Thais liebe. Eine banale Feststellung, die im Folgenden eine Präzisierung erhält: Thais ist einäugig. Was vordergründig dazu dient, das Mädchen unter den vielen anderen Thaides zu identifizieren, wird im zweiten Vers zur Basis eines hämisch-abfälligen Kommentars zur Liebe des Quintus. Ihr fehlt ein Auge, ihm aber gleich zwei – erneut wird die Pointe bis zum letzten Wort hinausgezögert. Die Antithese unum – duos wird durch die Stellung der beiden Zahlwörter ganz am Anfang und ganz am Ende des Verses verschärft. Und es ist zugleich eine Antithese zwischen der realen und der übertragenen Bedeutung einer Sehbehinderung. Thais ist durch ihre Einäugigkeit physisch behindert, Quintus ist emotional durch seine Liebe blockiert: Er nimmt die mangelnde Attraktivität einer einäugigen Geliebten nicht wahr, er ist blind vor Liebe.
Der Zweizeiler ist in literarisch-künstlerischer Hinsicht ein Juwel. Das macht ihn, finden viele, aber noch „gefährlicher“ und giftiger. Kein Zweifel, das ist Spott über Behinderte. Beide, Thais wie Quintus, werden mitleidlos instrumentalisiert, um einen Lacher zu produzieren. Darf man das? Wir sehen das heute viel kritischer, als die Antike es sah. Oder ist deren offener Umgang mit Behinderungen vielleicht sogar ehrlicher? Wem nützt das schamhafte Verschweigen und (scheinbare) Ignorieren offensichtlicher körperlicher Auffälligkeiten? Ist nicht das scheinbare Verdrängen dessen, was jeder sieht (und insgeheim bewertet!) diskriminierender, als die Dinge beim Namen zu nennen? Die Römer scheuten sich ja auch nicht, wenig schmeichelhafte körperliche und geistige Merkmale sogar zu offiziellen Beinamen (cognomina) aufzuwerten: Strabo, der „Schielende“, Brutus, der „Dummkopf“, Calvus, der „Kahlköpfige“ usw. Gibt es auch in dieser Hinsicht das Phänomen des befreienden Lachens? Und vor allem: Hätten auch Thais und Quintus darüber lachen können? Und könnten sie heute darüber lachen?
Wir belassen es bei den Fragen. Sie lassen, was den Schulunterricht angeht, ein didaktisches Potenzial erkennen, über das diskutiert werden kann und muss: Sollte einem bei solchen Epigrammen das Lachen im Halse stecken bleiben? Oder übertreiben wir es mit der politischen Korrektheit? Jedenfalls zeigt sich hier das, was die Didaktiker eine „Alteritätserfahrung“ nennen. Das Alte Rom war in mancher Hinsicht anders (alter ist „der andere“), und dieses Anderssein stellt sich mitunter als regelrechte Provokation dar, zumindest aber als ebenso willkommene wie notwendige Anregung zum Nachdenken und zum überlegten Urteilen.