Читать книгу Der Pontifex - Karla Weigand - Страница 14

Оглавление

DEMÜTIGE KNIEBEUGE

„Wenn der Gerechte ruft, so hört ihn der Herr.“

(Psalm 34, 18)

Seine Heiligkeit, seit seiner Jugend unter Schlaflosigkeit leidend, vermag auch in den ersten Tagen nach seiner Wahl zum Pontifex in den Nächten keine Ruhe zu finden. Ruhelos und innerlich aufgewühlt wandert er in seinem Schlafzimmer umher, einem Raum, der ihm keineswegs zusagt. Die Größe mag ja noch angehen, aber das Mobiliar? Da wird er schleunigst für eine ihm genehme Ausstattung sorgen.

„Warum nicht mein afrikanisches Erbe betonen?“, fragt er sich laut, während er schon zum zehnten Mal die Strecke von der Tür bis zu den bodenlangen Fenstern durchmisst. Er hat es schon immer gemocht, laut mit sich selbst zu sprechen und gedenkt nicht, dies noch zu ändern. Außerdem ist er allein; abgesehen von Paddy, seinem Leibdiener. Aber der gehört ja gewissermaßen zum Inventar.

„Das ist das Angenehme daran: Vor ihm brauche ich mich nicht zu verstellen und muss mir keinerlei Hemmungen auferlegen.“

Leo XIV. klatscht in die Hände vor Vergnügen, als er überlegt, dass es nun an ihm liegt, das über Generationen gepflegte Gelübde, das alle jeweils ältesten Söhne der Obembe-Familie seit den „Tagen des Elends“ abgelegt haben, zu erfüllen: Vergeltung zu üben für die Schmach, die die Kolonialmacht Deutschland ihnen zugefügt hatte.

Wie hatte es Elisa, die Frau seines Ururgroßvaters, Mkwa Obembe, und Mutter des kleinen Maurice, seines Urgroßvaters, kurz vor ihrem Entweichen aus dem Sklavenquartier ihres weißen Bwanas ausgedrückt? Der Heilige Vater fühlt sich zeitlich zurückversetzt, ganz so, als wäre er selbst jener Knabe. Er kann das so oft Gelesene frei aus dem Gedächtnis heraus zitieren:

„Die Weißen haben uns alles genommen: unsere Freiheit, unser fruchtbares Land, unser Vieh, unsere Leute, sogar unsere Religion – und letztlich auch unseren Stolz!

Und was haben sie uns stattdessen „großzügig“ gebracht? Karge Wüsten­landschaften, in denen nichts wächst, demütigende Almosen, ihre Gier nach dem Fleisch junger schwarzer Frauen und das Gefühl tiefster Erniedrigung – sowie ihren angeblichen „Sohn Gottes“, diesen Jesus, der sich selbst nicht retten konnte und elendiglich, an ein Kreuz genagelt, krepieren musste. Fluch und Schande über sie! Vergiss das niemals, mein Sohn, und traue unter keinen Umständen einem Weißen!“

Eindringlich hatte Elisa dabei ihren Ältesten, der damals erst sechs Jahre alt war, angesehen und fest umarmt, ehe sie weitersprach.

„Irgendwann wird der Tag der Abrechnung kommen. Versäume ihn nicht! Falls du dennoch aus irgendeinem Grund nicht in der Lage sein solltest, ihn wahrzunehmen, schwöre mir bei deiner Seele, dass du mein Vermächtnis genauso an deinen Erstgeborenen weitergeben wirst, damit er an deiner statt Rache üben kann.“

Dem kleinen Jungen war seine Mutter wie eine große Prophetin erschienen, noch viel mächtiger als Setuba, die uralte Seherin ihres Volkes, die dem Dolchstoß eines deutschen Offiziers beim Angriff auf ihr Dorf zum Opfer gefallen war. Weil sie ihn lauthals verflucht hatte, hatte der Eindringling die weise alte Frau niedergestochen …

„Irgendwann in der Zukunft wird die Unterdrückung unseres Volkes ein Ende haben und einer aus dem Volk der Wahehe und unserer Familie der Obembes wird die unsägliche Erniedrigung tilgen, die die weißen Teufel über uns gebracht haben!“

Zwar hatte der sechsjährige Maurice nicht alles verstanden; aber den feierlichen Ernst, mit dem Elisa ihn ermahnt hatte, sowie das brennende Feuer in ihren schwarzen Augen vermochte er niemals zu vergessen.

Zeitlebens hatte Elisa es den deutschen Okkupanten nicht verziehen, ihr den Mann und ihren Kindern den Vater genommen zu haben. Sie hatten Mkwa nach der letzten von drei kriegerischen Auseinandersetzungen, nachdem es ihnen endlich aufgrund ihrer hundertfach überlegenen Bewaffnung gelungen war, ihn zu besiegen, wie einen tollwütigen Hund erschlagen. Er hatte es nämlich geschafft, sich der unwürdigen Bestrafung durch Hängen im allerletzten Augenblick durch Flucht zu entziehen …

Der Heilige Vater weiß, wie es weitergeht im Tagebuch seines Vorfahren Maurice, jenes Jungen, der als Erwachsener seine Erlebnisse schriftlich festgehalten hatte:

„Drei Tage lang hatten sie meinen Vater durch den Busch verfolgt und wie ein Tier gehetzt, ehe sie den verletzten und halb verhungerten Häuptling unter Zuhilfenahme von schwarzen Askaris, die Bluthunde mit sich führten, stellten und auf der Stelle erschlugen, aus Angst, der noch erstaunlich kräftige Krieger könnte ihnen erneut entwischen.“

„Um seine Leiche für immer verschwinden zu lassen, mein Sohn“, hatte ihm Elisa noch eindringlich vor Augen geführt, „und seinen Anhängern damit die Möglichkeit zu rauben, ihn ehrenvoll zu bestatten und sein Grab zu einer Gedenkstätte werden zu lassen, haben sie anschließend seinen zerschundenen Körper ihren halbwilden Hunden zum Fraß vorgeworfen.“

Das Wissen um diese Gräueltat hatte in Maurice, dessen Namen – nomen est omen? – der neue Papst im zivilen Leben trägt, das lodernde Feuer der Rachsucht entflammt. Allerdings sollte sich ihm die Gelegenheit, die Feinde für diese ruchlose Tat und ihre anderen Verbrechen gegen sein Volk büßen zu lassen, niemals bieten.

Schweratmend unterbricht der Heilige Vater seine Wanderung durch das Zimmer.

„Aber er hat Elisas Auftrag getreulich erfüllt und an seinen Sohn Charles, meinen Großvater, weitergegeben. Der wiederum sah sich gleichfalls außerstande, Rache zu nehmen und übergab folglich die Verpflichtung dazu meinem Vater Patrice. Der seinerseits hat die Last aus politischem Kalkül auf meinen Schultern abgeladen, als ich gerade einmal zwölf Jahre alt gewesen bin. So ist schließlich nach etlichen Generationen der Vergeltungsschwur bis zu meiner Person gelangt.“

Leo muss lachen. „Ausgerechnet zu mir, dem höchsten Mann der Kirche! Einer Person, der man am allerwenigsten die Befriedigung von Rachegelüsten zutrauen wird …

Auf wie vieles habe ich verzichtet“, sinniert der Heilige Vater zum wohl hundertsten Mal, „zuvorderst auf eine Lebensaufgabe, die mir wirklich zugesagt hätte! Priester bin ich nicht etwa geworden aus Berufung, sondern um meine ganz persönliche Vergeltung zu üben, die längst überfällig ist!“

In der Tat hat er sich bis zum heutigen Tag peu à peu ein paar potente Mitstreiter gesucht und soweit es ihm möglich war, diplomatische, kirchliche Kanäle genutzt, um insgeheim in aller Stille jahrzehntelang stetig und mit allen Mitteln, auch denen der Heuchelei, Bestechung und Erpressung, auf diesen einen großen, erhebenden Augenblick einer für ihn günstig ausgehenden Papstwahl hinzuarbeiten.

Und beileibe nicht nur er allein: Hinter ihm steht ein kleines, aber recht solides Netzwerk: eine nicht ganz einflusslose Gruppierung, die die Anonymität über alles schätzt und die keinen Wert darauf legt, öffentlich in Erscheinung zu treten. Der erste Schritt ist getan: Maurice Obembe ist Papst!

* * *

„Ausgerechnet diesen starken und durchsetzungsfreudigen Papst Leo XIII. möchte der ‚Neue’ nachahmen!“, spötteln viele altgediente Prälaten in Rom und anderswo. Es ist deutlich herauszuhören, dass sie förmlich danach gieren, das Scheitern dieses Mannes aus Schwarzafrika mitzuerleben.

Wer würde denn schon hinter ihm stehen und ihn unterstützen? Der Ausgewogenheit stehen in erster Linie Egoismus und Habgier der Besitzenden entgegen, die keineswegs bereit sind, freiwillig auch nur auf ein Jota ihres angeblichen „Rechts“ auf Anhäufung geradezu grotesk anmutender Reichtümer auf Kosten der weniger Privilegierten oder gar der Besitzlosen, zu verzichten (bestes Beispiel bietet die Kirche selbst!).

Die Last der Verantwortung, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen, wird schwer auf den Schultern des Papstes ruhen.

Der Pontifex

Подняться наверх