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„Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.“ (Matthäus, 11, 28–30)

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Es ist kein Geheimnis: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Mitgliederschwund der katholischen Kirche geradezu beängstigend. Und er hält noch immer an, ja, er scheint derzeit noch an Popularität zu gewinnen.

Die „Vernünftigen“, jene Leute, die sich dafür halten und nicht bereit sind, sich „intellektuell gängeln“ zu lassen, ja, die es sich verbitten, wie Kleinkinder behandelt zu werden, indem man sie mit Märchen von „vaterloser Zeugung“, Jungfrauengeburt, Auferstehung von den Toten, dubiosen „Himmelfahrten“, der „Dreifaltigkeit(?) Gottes“ und fragwürdigen „Wundertaten“ abspeisen möchte, treten in Scharen aus der kirchlichen Gemeinschaft aus, wollen diesen Schritt demnächst vollziehen – oder werden erst gar nicht Mitglied.

„Dazu kommt, dass ‚der moderne Mensch’ es heute nicht mehr hinnimmt, in seiner ganz privaten Lebensführung eingeengt und bevormundet zu werden, indem man ihm beispielsweise außereheliche sexuelle Beziehungen verbietet, ihm aber gleichzeitig Scheidung und spätere Wiederverheiratung als ‚schwere Sünde’ ankreiden will und ihn obendrein ‚zur Strafe’ von allen Sakramenten ausschließt“, moniert sogar ein als erzkonservativ angesehener Erzbischof aus Palermo, von dem gleichzeitig bekannt ist, dass er beste Beziehungen zur Mafia, der „Ehrenwerten Gesellschaft“, unterhält …

„Irren ist menschlich! Das weitere Zusammenleben mit einem im Verlauf der Ehe sich als unpassend erweisenden Partner sowie der Verzicht auf eine Verbindung mit einem anderen geliebten Menschen, darf nicht verlangt werden, weil es die Betreffenden nur unglücklich macht. Und“, doziert Vincente Camilleri mit erhobenem, von der Gicht verkrümmtem Zeigefinger, „es gilt vor allem, das Unglücklichsein während der begrenzten Lebenszeit zu vermeiden!“

Damit bestätigt der hohe geistliche Herr die Maxime der säkular eingestellten Menschheit: „Jeder hat das Recht, glücklich zu sein!“ Sogar vom letzten Dalai Lama ist überliefert, er glaube, „der einzige Sinn des Menschen auf Erden ist, glücklich zu sein!“

Das Gleiche behaupten mittlerweile selbst viele katholische Geistliche – allerdings vornehmlich die aus den unteren Rängen. Die aus den oberen tragen im Allgemeinen ganz selbstverständlich selbst Sorge für ihr eigenes Wohlergehen und ihre persönliche Zufriedenheit.

Ein weiterer Gemeinplatz lautet: Für die Kirche ist es, profan ausgedrückt, „fünf Minuten vor zwölf“. Dem lässt sich mit gutem Gewissen zustimmen.

Weil dies kein Geheimnis ist, kennt auch jeder kirchliche Würdenträger, selbst die hohe Geistlichkeit im Vatikan, das Dilemma. Ein wirksames Gegenmittel gegen den beängstigenden Mitgliederschwund hat allerdings noch niemand gefunden.

Von den Vielen, die zwar nicht austreten, sich aber innerlich längst von Mutter Kirche abgewandt haben, die sogenannten „Taufscheinkatholiken“, möchte man gar nicht erst reden.

„Jahrelang hat man gerätselt, woran es liegt, hat aufwändige Analysen erstellt und kluge theologische Bücher darüber verfasst, was die Gründe dafür sein könnten, dass offenbar die ‚modernen’ Menschen die Angst vor dem Teufel und den Höllenstrafen verloren haben“, bedauert ein anderer hoher Kirchenmann. „Verbunden damit ist die große Skepsis gegenüber einer ‚Belohnung im Himmel’ und dem sogenannten ‚Ewigen Leben’, im Sinne eines Bewusstseins nach dem körperlichen Tod, wo man doch weiß, dass mit dem Absterben der Gehirnzellen auch das Bewusstsein, und damit die sogenannte ‚Seele’, unwiderruflich dahin ist …“

„Wie leicht war es früher, die Gutgläubigen im Beichtstuhl zur Räson zu bringen und es für alle am Sonntag durch die Predigt von der Kanzel herab ein bisschen Schwefel regnen zu lassen, quasi als Vorgeschmack auf die gute alte Hölle!“, überlegt ein weiterer älterer Kleriker, ebenfalls Teilnehmer am kürzlich zu Ende gegangenen Konklave. Daran mag sich manch einer der älteren Seelenhirten mit Bedauern erinnern.

Im Avvenire, dem Hausblatt der Italienischen Bischofskonferenz, liest sich das folgendermaßen:

„Eine ständig sich ausbreitende Enttäuschung über die ‚unzeitgemäße Lehre’ der Kirche sei an der Abkehr von ihr schuld, meinen viele ‚moderne’ Theologen, weil die Kirche ganz offensichtlich nichts bewirkt, was zur Verbesserung der Lebensumstände der gesamten Erdbevölkerung beiträgt und auch keineswegs erreicht, dass das einzelne Individuum sich wohler, besser oder geborgener fühlen könne.“

Papst Leo äußert sich da schon wesentlich unverblümter – allerdings nur unter ein paar sehr guten Freunden in seinen privaten Gemächern: „Wo ist er denn, der gütige, barmherzige und vor allem der gerechte Gott? So es ihn jemals gegeben haben sollte, weiß er sich seit langem aufs Geschickteste zu verstecken …“

Der Heilige Vater vertritt die Meinung, mit der Verheißung auf ein jenseitiges Leben in Frieden und immerwährender Freude als Belohnung für kindlichen Glauben, „anständige“ Lebensführung im Sinne kirchlicher Sexualmoral, vor allem aber für gottergebenes Erdulden von Ungerechtigkeiten, locke man heute keine Anhänger mehr hinter dem Ofen hervor.

„Das himmlische Jenseits, geliebte Brüder, hat längst aufgehört, salopp gesprochen, als ‚Jackpot’ betrachtet zu werden, den es unter allen Umständen zu gewinnen gilt! Wichtig ist den Leuten vor allem das irdische Hier und Heute. Daran knüpfen sich die Erwartungen der aufgeklärten und vorwiegend materialistisch eingestellten Menschheit“, äußert Leo sich im intimen Kreis seiner Anhänger.

Sein Beichtvater, Monsignore Pierre Katanga, schlägt während eines kleinen, intimen Imbisses in der päpstlichen Wohnung „unter Gleichgesinnten“ in dieselbe Kerbe: „Die heutigen ‚Aristokraten’ gehören dem ‚Geldadel’ an und anscheinend sind sie, wie die früher herrschende Adelsschicht, der irrigen Meinung, das ‚Volk’ werde sich andauernden Betrug und Benachteiligung für ewige Zeiten wie dumme Schafe gefallen lassen.“

„Viele Herrschende auf sämtlichen Kontinenten gebärden sich am liebsten immer noch so, als habe es etwa eine Französische Revolution niemals gegeben, und das folgenschwere Jahr 1917 in Russland hat man anscheinend auch längst vergessen!“, bemängelt Papst Leo XIV.

Ob sich einigen Zuhörern dabei vielleicht die berechtigte Frage stellt, warum der Heilige Vater, wenn er schon so gut Bescheid weiß, in seiner Antrittspredigt darüber nichts hat verlauten lassen, dass die soziale Schere nicht weiter auseinanderklaffen dürfe, wenn man soziale Unruhen, ja blutige Bürgerkriege, vermeiden wolle?

Stattdessen hat er sich lang und breit darüber ausgelassen, die Gläubigen sollten gefälligst „für Jesus und die Kirche“ ihr Blut vergießen …

Aber jeder der anwesenden geistlichen Herren ist vorsichtig, und keiner getraut sich, als Gast in den päpstlichen Gemächern im Apostolischen Palast hinter den Kolonnaden an der Piazza di San Pietro, keck als Erster mit Äußerungen vorzupreschen, von denen man noch nicht recht weiß, wie diese vom neuen Heiligen Vater aufgenommen werden …

Seiner Heiligkeit geht es, nach eigener Aussage, in Wahrheit nicht um gerechtere Verteilung „schnöden Mammons“, sondern um etwas ganz anderes.

„Leider ist die Kluft äußerst kontraproduktiv, die sich auftut zwischen dem Anspruch der höheren Geistlichkeit an die Moral der Gläubigen und ihrer eigenen, vielfach verderbten Lebensführung“, behauptet Leo XIV. gerade und alle lauschen wiederum gebannt, wenn auch einige ziemlich unangenehm berührt. Hat da der Papst bei ihnen womöglich einen Nerv getroffen?

Großes Pech sei dabei, meint der Heilige Vater, dass „Privatleben“ in der allerneuesten Zeit so gut wie nicht mehr existiere; dank „sozialer Netzwerke“ und ähnlich indiskretem Schwachsinn sowie der Tatsache, das leidige Hacker-Unwesen nicht ausrotten zu können, wisse man umgehend selbst im unbedeutendsten Nest über jeden kleinen Fehltritt eines hohen Geistlichen Bescheid. Sei es nun dessen Vorliebe für die holde Weiblichkeit oder für kleine Ministranten.

„Im Nu ist solches bis in die letzte Ecke unseres Erdballs ‚getwittert’ und wird damit zum geschmacklosen Thema ausgerechnet der abscheulichen ‚Yellow Press’ sowie einschlägiger Skandalblättchen!

Dazu kommt, dass die niederen Chargen des Klerus, wie schon seit Anbeginn der Kirche, ihren geistlichen Vorgesetzten in ihrem verwerflichen Lebenswandel nacheifern! Die Fehltritte ihrer kleinen Pfarrer und Kapläne bekommen allerdings Tausende mit, während der Ausrutscher eines hohen Geistlichen im Allgemeinen doch eher anonym bleibt oder nur in kleinem Kreis erörtert wird.“

Letzteres mag seinen Gästen als eine reichlich erstaunliche und kühne Aussage Leos erscheinen, angesichts der Anwesenheit Schwester Moniques, einer auffallend attraktiven schwarzen Nonne, die offiziell als „leibliche Schwester“ des Heiligen Vaters ganz selbstverständlich in den päpstlichen Gemächern wohnt und ihrem „Bruder“ kaum von der Seite weicht.

Ein Verwandtschaftsgrad, den die wenigsten Anwesenden für der Wahrheit entsprechend halten, obwohl natürlich niemand auch nur ein einziges Wort darüber fallen lässt … Moniques Ankunft vor ein paar Tagen verlief vollkommen lautlos und unspektakulär: Sie war auf einmal einfach da ist und ist seitdem als „Schwester“ Leos ein Mitglied der „Papstfamilie“.

Die Herren sind diskret und genießen stillschweigend den Anblick der schönen, noch jungen Frau; auch diejenigen höheren Alters, sofern sie nicht zur Gruppe derer gehören, die sich lieber von Jünglingen verwöhnen lassen …

Carlo di Gasparini, einem Kurienkardinal aus der Runde, gefällt anscheinend die Richtung nicht so besonders, die das Gespräch zu nehmen droht. Dauerbewohner des Vatikans kennen sich unterei­nander sehr gut und jeder weiß in aller Regel vom anderen, wie der katholische Glaubensbruder „gepolt“ ist. Eine Mehrheit (wen wundert’s?) lässt sich lieber von attraktiven jungen Herren „begleiten“ … Di Gasparini möchte unbedingt das Thema wechseln.

„Auch und vor allem hapert es gewaltig mit der Gerechtigkeit unter den Menschen! Und mit dem Frieden unter den Völkern ist es auch nicht weit her“, wirft der italienische Kardinal ein.

Er ist ein heimlicher Gegner Seiner Heiligkeit, einer der wenigen unter den anwesenden „Freunden“ Leos, die ihm ihre Stimme bei der Papstwahl nicht gegeben haben, sich jetzt allerdings geflissentlich darum bemühen, sich um den Heiligen Vater scharen zu dürfen. Er will unbedingt einer der Planeten sein, die sich um den Mittelpunkt „Sonne“ drehen …

„Selbst die Gegensätze zwischen den christlichen Glaubensrichtungen haben sich, anstatt sich zu nivellieren, weiter verschärft, vor allem zwischen Katholiken und Protestanten; längst sind alle Hoffnungen auf eine Annäherung, die etwa noch zu Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts bestanden haben mögen, wie eine Seifenblase zerplatzt!“

Der Heilige Vater beabsichtigt jedoch keineswegs, sich von di Gasparini die Gesprächsführung aus der Hand nehmen zu lassen.

„Wie wahr!“ fällt er dem Sprecher ins Wort. „Selbst das angestrebte brüderliche Miteinander mit der Ostkirche ist leider weiter denn je in die Ferne gerückt, nachdem zwischen Russland und Europa längst wieder die politische Eiszeit angebrochen ist.“

Die Handvoll Vertrauenswürdiger, die der Heilige Vater zur Diskussion in seine Gemächer geladen hat (bei Carlo di Gasparini haben seine Berater allerdings ordentlich danebengegriffen!), stimmen ihm vorbehaltlos zu.

„Man muss sagen, sowohl die Fronten der verschiedenen Religionen als auch diejenigen der Politik sind im Augenblick stark verhärtet. Die einzelnen Positionen stehen einander feindselig gegenüber und jederzeit ist eine Explosion der Gewalt möglich“, behauptet ein deutscher Kurienkardinal, Dr. Maximilian Werneth, ein gebürtiger Mainzer und einer der „Leo-affinen“ Geistlichen. „Media vita in morte sumus!“ („Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen!“) zitiert er ein wenig affektiert.

Er gibt damit wiederum dem Papst ein Stichwort. Der Heilige Vater kann sich nun weiter in einem Monolog ergehen, so wie er ihn immer bevorzugt.

„Besonders dramatisch steht es um die Beziehungen Roms mit dem Islam, gleichgültig ob schiitischer oder sunnitischer Ausprägung. Wenngleich ernsthafte laute Aufrufe zu irgendwelchen Bekehrungszwängen, womöglich mittels Selbstmordattentaten unseligen Angedenkens, derzeit noch unterbleiben! Wie lange noch?“, fragt der Papst und sieht sich dabei im Kreise seiner Vertrauten um, scheint jedoch keine Antwort darauf zu erwarten.

„Irgendwann werden die islamischen Fanatiker allerdings wieder zuschlagen!“, bricht es jäh aus ihm heraus und es klingt beinah wie eine düstere Prophezeiung. Die Temperatur im Raum scheint auf einmal um etliche Grad gesunken.

Seine Heiligkeit blickt jetzt dankbar und mit unverhohlener Zärtlichkeit hoch zu Schwester Monique, die ihm gerade frischen Espresso eingießt, ehe er, dieses Mal in normalem Tonfall, fortfährt: „Nebenbei bemerkt kommt es in letzter Zeit auch immer wieder zu ärgerlichen „Missverständnissen“ mit der jüdischen Orthodoxie, jener irgendwie bei uns Katholiken ungeliebten Urmutter des Christentums“, meint der Heilige Vater, wobei er zwar lächelt, seinen Gästen aber zugleich ein bekümmertes Gesicht präsentiert.

‚Aha! Längst vorbei die Zeiten des ‚Zweiten Vatikanischen Konzils’, als Papst Johannes XXIII. die Juden noch als unsere älteren Brüder im Glauben bezeichnet hat’, denkt sich Kardinal Carlo di Gasparini ironisch.

Aber er hält sich mit Bemerkungen zurück. Warum sich als Einziger das Maul verbrennen? Lieber lässt er sich von Schwester Monique von dem köstlichen Wein nachschenken, den Seine Heiligkeit zu dem Imbiss so großzügig spendiert.

Der Pontifex

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