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ОглавлениеLESUNG AUS DEM ALTEN TESTAMENT
„Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst Deine Hand über mir.“
(nach Psalm 139)
„Meine Zeit steht in Deinen Händen.“
(Psalm 31, 16)
Es ist lange nach Mitternacht, aber in den päpstlichen Gemächern brennt wie gewöhnlich noch Licht. Nachdem er seine üblichen Fitnessübungen absolviert hat, ist Seine Heiligkeit, Papst Leo XIV., immer noch an seinem Schreibtisch beschäftigt. Das Tagebuch seines Vorfahren und die Geschichtsbücher über Afrika hat er längst beiseitegelegt und brütet jetzt über einem Stapel von Papieren.
Seit jeher misstraut er der Sicherheit des Internets und würde niemals wirklich Relevantes und Brisantes elektronischen Medien oder gar einer Cloud anvertrauen: Alles kann von Böswilligen gehackt werden, durch einen Fehler im System auf immer verloren gehen oder in Hände geraten, für die es keineswegs bestimmt ist …
Erst als vertrauenswürdige – natürlich schwarze – Fachleute ihm mehrfach versichert haben, sein persönlicher Internet- und Telefonanschluss im Vatikan sei absolut und zweifelsfrei ebenso abhörsicher wie das „Weiße Telefon“ in Washington und das „Rote“ in Moskau, führt der Heilige Vater hin und wieder direkte Gespräche mit bedeutenden Personen und Politikern in aller Welt.
Dennoch: Was ihm persönlich wichtig erscheint, verfasst er nach wie vor handschriftlich und zwar in einer nur ihm und seinem vertrauten Sekretär, Monsignore Jean-Baptiste Sékuré, geläufigen Geheimschrift.
Seine Korrespondenzen, seine Notizen und Abschriften sind derart zahlreich, dass sich leicht erklären lässt, wozu der eingangs einigen Geistlichen befremdlich erschienene Riesensafe dient, dessen Inhalt allein einer einzigen Person bekannt ist: Papst Leo.
Der Heilige Vater hat es sich längst „bequem gemacht“ und sitzt in einer beigefarbenen, blau gestreiften arabischen Djellabah vor den vor ihm ausgebreiteten Schriftstücken. In Material und Machart ist dies ein nahezu identisches Kleidungsstück, wie er es einst als Knabe und Heranwachsender in seiner ostafrikanischen Heimat getragen hat.
Diese Art Hemd, meist knöchellang und kragenlos, mit langen Ärmeln, tragen heute noch die meisten Männer bei ihm zuhause. Vor allem in der Freizeit sind Djellabahs bequemer als Jeans. Sie sind luftig, kneifen nicht, engen „unten“ nicht ein (!) und schützen gleichzeitig vor Hitze und Insekten.
Leo XIV. liebt diese stillen Nachtstunden, in denen er sich ganz allein und ungestört jenen Dingen widmen kann, die ihm wirklich am Herzen liegen. Dass dazu immer seltener die Gesellschaft von Monique gehört, betrachtet er nicht wirklich als sein Problem. Er ist der Meinung, sie fühle sich wohl. Aber im Grunde denkt er kaum über seine Geliebte und ihre Gefühlslage nach.
Tagsüber ist es im Vatikan oftmals sehr hektisch; aber niemals fiele es ihm ein, seine alltäglichen Pflichten zu vernachlässigen. Seine Heiligkeit hat sich in kürzester Zeit zu Recht den Ruf erworben, ungeheuer schaffensfroh, unternehmungslustig und fleißig zu sein.
Dazu gehören nicht nur Empfänge von Staatsoberhäuptern, die allesamt von ihm und seinem Charme, gepaart mit Intelligenz und Humor, schwärmen, und von Abordnungen einfacher Gläubiger, die ihn hinterher wegen seines ausgesprochen liebenswürdigen Wesens nicht minder in den Himmel heben, weil er es versteht, jedem Einzelnen die Illusion zu vermitteln, er würde sich ganz explizit nur für ihn und seine Probleme interessieren …
Diese ganz spezielle Art, mit anderen Menschen umzugehen, sie zu betören und einzuwickeln, hat er bereits als ganz junger Mann zur Kunstform erhoben. Damit schafft der Heilige Vater es, auch Leute, die keine Sympathie für ihn empfinden, ja, die ihm eigentlich feindselig gegenüberstehen, am Ende doch noch für sich einzunehmen.
Zu den Dingen, die er sich selbst auferlegt, gehört auch das Absolvieren zahlreicher Reisen rund um den Globus. Etwas, das ihn weit über die Hälfte seiner Zeit vom Kirchenstaat fernhält.
Eine Tatsache, die dem Heiligen Vater nicht unlieb ist; wohl fühlt er sich nämlich im Kirchenstaat keineswegs, obwohl er „die Schlangengrube von den schlimmsten Ottern und Vipern gesäubert“ hat, wie er seiner zunehmend frustrierten Geliebten Monique in ruhigen Augenblicken gerne mal verrät. Es will ihr einfach nicht gelingen, Maurice’ Aufmerksamkeit auf ihre Person zu lenken; banal ausgedrückt möchte sie, dass er endlich wieder einmal mit ihr zu schlafen geruht.
Die Einladungen in sämtliche Winkel der Erde stapeln sich geradezu. Und Leo Africanus ziert sich nicht; er ist Reisender aus Leidenschaft. Angst vor Attentaten empfindet er keine.
Daraufhin angesprochen zitiert er oft und gerne den schönen Satz: „Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand. (Weisheiten 3, 1).“
Eine beinah kindlich zu nennende Neugier auf Orte des Erdballs, die ihm bislang unbekannt gewesen sind, treibt ihn in immer kürzeren Abständen dazu an, ein Flugzeug zu besteigen. Er plant bereits eine neue Pastoralreise, oder „Missionstour“, wie er es nennt.