Читать книгу Der Pontifex - Karla Weigand - Страница 36

„Der Herr behütet dich; der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand.“ (Psalm 121, 5)

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‚Das katholische Fußvolk hat sowieso fraglos zu gehorchen und der Teil der hohen Geistlichkeit, der mir eventuell gefährlich werden könnte, ist – zum mindesten in der Öffentlichkeit – zum Kuschen verdammt’, mag Papst Pius der Neunte sich seinerzeit gedacht haben, als er sich den schlauen Coup mit der päpstlichen Unfehlbarkeit hat einfallen lassen, nachdem er sich einige Jahrzehnte zuvor schon die Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens ausgedacht hatte.

Eine vollkommen sinnfreie Behauptung, die nicht das Geringste zum christlichen Glaubensverständnis, so wie Jesus es möglicherweise verstanden haben mag, beitragen kann. Man könnte ja eigentlich vermuten, diese dicke Kröte („Glaubenswahrheiten, in alle Ewigkeit wahr und unveränderbar“), die es natürlich auch heute noch für Gläubige zu schlucken gilt, stamme aus dem Mittelalter oder aus noch früherer Zeit, aber keinesfalls aus dem 19. Jahrhundert …

„Welche Chuzpe muss dieser Papst besessen haben, seinen aufgeklärten Zeitgenossen die Anmaßung, er sei quasi ein Übermensch, der in Glaubensdingen nicht irren könne, als unumstößliches Faktum vor die Nase zu setzen?“, murmelt der Heilige Vater kopfschüttelnd vor sich hin.

Ach ja, das Mittelalter! Leo Africanus unterdrückt ein weiteres ironisches Grinsen. ‚Eine oft verkannte Zeitspanne, die durchaus nicht so ‚finster’, rückschrittlich und betriebsblind gewesen ist, wie man sie heute gerne darstellt’, denkt er.

Er erhebt sich von seinem Schreibtischsessel um an eines der Fenster zu treten, dessen Vorhänge nicht geschlossen sind und ihm einen Blick nach draußen in die tiefe Nacht erlauben, die immer noch von den zahlreichen Lichtern der niemals ruhenden Weltstadt Rom erhellt wird.

‚Die effektivsten Scheuklappen verpasste man den Leuten in Wahrheit erst viel später und die dicksten Bretter, die man den Gläubigen vors Hirn knallte, wurden auch erst in späteren Jahrhunderten gesägt’, geht dem sich plötzlich vereinsamt fühlenden Mann aus einem, im geographischen Sinne, nicht allzu fernen Kontinent durch den Sinn: Afrika liegt bekanntlich nicht sehr weit weg von Europa …

„Diese Fremdheit liegt in meinem eigenen Wesen und meiner eigenen Sozialisation“, murmelt er unwillkürlich. Auf einmal sehnt er sich nach Monique, seiner vernachlässigten Geliebten. Sie bedeutet für ihn immer noch die afrikanische Heimat, das Geborgensein inmitten seiner eigenen Kultur. Er liebt sie nach wie vor – aber hat er sie dies in letzter Zeit auch fühlen lassen? Wann hat er sie das letzte Mal als Geliebte im Arm gehalten, ihren Duft verspürt und ihre Leidenschaft genossen? Gut erinnern kann sich Leo nur an ein einziges Mal, gleich nach seiner Wahl zum Papst.

Auf einmal ergreift ihn ein mächtiges Verlangen nach Monique und er überlegt ernsthaft, sie zu sich zu rufen. Aber dann verwirft Leo Africanus doch den Impuls, sie zu so später Stunde noch zu wecken. Am nächsten Tag wird er sich ihr wieder nähern …

Stattdessen sinniert er weiter.

In der Tat! Im Mittelalter hätte kein vernünftiger Mensch an so eine Absurdität – eine Blasphemie im Grunde! – gedacht, ein Mensch – und sei er auch das weltliche Oberhaupt der Kirche – könne unfehlbar sein. Zum Wenigsten hätte er es nicht gewagt, diese dreiste Anmaßung auch noch laut auszusprechen.

‚Diese Eigenschaft gebührt nach christlichem Verständnis allein Gott, dem Herrn! Darum auch der Dreh, dass Pius IX. die „Dritte göttliche Person“ (auch so ein Aberwitz; im Grunde reinstes Heidentum), den Heiligen Geist, für sein dreistes Konstrukt bemüht hat!’

Leo gestattet sich jetzt ein dröhnendes, befreiendes Lachen.

Genau diese „Dritte göttliche Person“ hat er als Thema ausgewählt für sein Dogma! Dass er damit den sogenannten „Schutzengel“, der angeblich ein Auge auf jedes fromme Schäflein hat, „entmachtet“, stört den Heiligen Vater nicht.

Von nun an ist es nach Leos XIV. Willen „der Heilige Geist“, der dieses spezielle Wächteramt übernimmt. Ist dieser doch „die Liebe, die vom Vater und vom Sohne ausgeht“ und damit ist er auch zur Liebe zu den Gläubigen verpflichtet und dafür verantwortlich, dass keinem ein Leid geschieht.“

Noch einmal blättert er die Papiere durch, prägt sich gewisse Passagen dieser speziellen Rede ganz besonders ein, ehe er die Blätter sorgfältig zusammenschiebt, aufsteht und sie dann, penibel Kante auf Kante gelegt, in seinem Tresor verwahrt, zu dem allein er den Schlüssel verwahrt. Er weiß noch nicht genau, wann er diese bedeutsame Predigt halten wird.

Einen Augenblick verweilt der Papst kerzengerade mitten im Raum; er streckt sich dabei und nimmt beide Arme nach oben, um das vom langen Sitzen gestresste Rückgrat zu entspannen. Selbst nach so langer Zeit europäischer Sitz-Gepflogenheiten, bereitet ihm das ungesunde, stundenlange Ausharren auf Stühlen hin und wieder immer noch Schwierigkeiten …

Wie stets vor dem Schlafengehen wird Seine Heiligkeit noch einmal ein paar seiner sich selbst auferlegten gymnastischen Übungen absolvieren. Er möchte unbedingt jugendlich und gelenkig bleiben.

Sein Vater Patrice mit seinen gut dreiundsiebzig Jahren hält dies ganz genauso – und der alte Herr ist in der Tat noch topfit.

„Sollte ich mal dauerhaft den Rollstuhl brauchen, werde ich mir die Kugel geben“, hat er seinen hochwürdigen Sohn kürzlich wissen lassen. Dass Selbstmord eine Todsünde ist, interessiert den alten Schwerenöter, der kürzlich noch eine kleine Tochter mit einer seiner jugendlichen Konkubinen gezeugt hat, keineswegs.

„Ich weiß, mein lieber Papa“, hat Leo ihm milde geantwortet. „Falls es nach dir ginge, würdest du am liebsten noch zu Fuß zu deiner eigenen Beerdigung marschieren!“

Aber der schlaue Fuchs kennt die Bibel ganz gut und wusste zu kontern:

„Haltet mich nicht auf, denn der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben. Lasst mich, dass ich zu meinem Herrn ziehe.“ Zu lesen, mein lieber Sohn, im ersten Buch Mose, Kapitel 24, Vers 56.“

Über das bemerkenswert glatte Gesicht des Präsidenten hatte sich ein breites Grinsen gelegt. „Und ich kann dir noch jemanden zitieren, nämlich den heiligen Augustinus: „Ihr, die ihr mich so sehr geliebt habt, seht nicht auf das Leben, das ich beendet habe, sondern auf das Leben, welches ich beginne.“ Und im Psalm 36, Vers 10 heißt es: „Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens und in Deinem Licht sehen wir das Licht.““

Patrice Obembe hatte sich anschließend vorgeneigt, als wolle er dem Papst leise ins Ohr flüstern: „Was allerdings keineswegs heißen soll, dass ich an ein Leben nach dem Tod glaube, mein lieber Maurice.“

Der Pontifex

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