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6. Alles krumm und schief und völlig überwuchert

Wie Tante Ludmilla über Brunos Leben hereinbricht und das nicht zu seinem Nachteil ist

„Pünktlich wie ein Maurer!“, sagt der Anwalt, nachdem seine Sekretärin, die seine Mutter hätte sein können und Bruno ständig verschwörerisch zuzwinkert, ihn ins Büro geführt hat.

Sie setzen sich auf zwei Ledersofas gegenüber und der Anwalt mustert Bruno aufmerksam. „Schöne Schuhe“, sagt er, „von Möller&Hackbarth?“

„Ja“, sagt Bruno und schiebt den Brief ein Stückchen über den Tisch.

Der Anwalt lächelt wie eine Sphinx, dann lehnt er sich zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf, holt tief Luft und sagt: „Sie sind ja nun ein gemachter Mann!“

Und dann erklärt er ihm einen komplizierten Sachverhalt, der von Brunos Großtante Ludmilla handelt, von seinen Eltern und auch von ihm, und der am Ende darauf hinausläuft, dass Bruno die Villa von Tante Ludmilla geerbt hat, plus 400.000 Euro. „Sie war ja ziemlich verkracht mit Ihren Eltern, die alte Dame“, sagt der Anwalt. „Aber sie scheint Sie gemocht zu haben. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“

„Weiß nicht“, erwidert Bruno, „zu ihrem neunzigsten? Sie hat ja auf Mallorca gewohnt, wegen dem Rheuma.“

„Vierundneunzig ist sie geworden“, sagt der Anwalt. „Die Villa ist noch ein bisschen älter, ihre Eltern haben sie gebaut.“

„Meine Eltern?“

„Die Eltern Ihrer Großtante! Baujahr 1888. Hat die letzten 20 Jahre leer gestanden. Es gibt empörte Nachbarn, weil niemand das Grundstück pflegt. Sieht dort aus wie auf dem jüdischen Friedhof – alles krumm und schief und völlig überwuchert. Aber egal, jetzt kommt ja ein kräftiger junger Mann und bringt Schwung in die alte Bude. Oder wollen Sie sie verkaufen? Ich wüsste einen Makler, der Ihnen einen guten Preis macht – die Lage ist 1A und das Grundstück riesengroß, 4.000 Quadratmeter, das größte in dem Viertel!“

Er blättert in Flur-Karten. „Kann man parzellieren, dreistöckige Bebauung ist da erlaubt – mein Gott, da können Sie ein Vermögen machen!“

Als Bruno die Kanzlei verlässt, zwinkert ihm die alte Dame weiter unablässig zu, als wollte sie sagen: Hab ich nicht Recht gehabt? Aber wahrscheinlich sind es nur nervöse Zuckungen.

Bruno ist zu müde, um zu Fuß zu Gudruns Wohnung zu gehen. Er nimmt den Bus, und kaum hat er Platz genommen, fallen ihm die Augen zu. Gott benötigt euch nicht, um mit den Menschen zu reden, hört er beim Wegdösen die vertraute Stimme zu ihren Peinigern sagen. Wenn er mit den Blumen reden will, lässt er die Sonne scheinen, wenn er mit den Wolken reden will, lässt er die Winde wehen. Ein jedes Ding hat seine eigene Sprache, in der Gott mit ihm redet. Gott offenbart sich ständig und überall, seine ganze Schöpfung ist eine einzige Offenbarung. Alles aber, was den Menschen daran hindert, so zu leben, wie es ihm entspricht, verdunkelt die Offenbarung Gottes.

Erst kurz vor der Endstation wacht Bruno auf. Der Russen-Imbiss hat noch geschlossen, vom schwarzen Audi ist nichts zu sehen. Er steigt aus, nimmt den Bus in die Gegenrichtung und fährt zu Gudrun. Sie soll als erste erfahren, dass er jetzt ein gemachter Mann ist. Aber er wird es ihr erst sagen, wenn sie aufwacht, sie braucht ihren Schlaf. Also wird er es wohl zuerst Edu mitteilen.

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