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3. Er tanzt wie ein Mehlsack

Und trotzdem nimmt Sue die Schuld auf sich, als sie beim Abtanzball nur den zweiten Platz belegen

Bruno betritt den Waschsalon um eine Minute vor vier. Seine Eltern bestehen auf Pünktlichkeit. Aber nicht deshalb macht er es, er liebt es, auf die Sekunde genau zu einer Verabredung einzutreffen. Und wenn dann einer sagt ‚Pünktlich wie ein Maurer!‘, weiß Bruno, dass man ihn knicken kann. Denn wer sowas sagt, ist ein Dünnmann. „Mal ehrlich“, hat Bruno erst vor kurzem Heinzi, dem Zapfgott, erklärt, „es gibt keinen blöderen Spruch! Oder kennst du einen?“

„Wir sehen uns!“

„Was?“

„Ich mein’, wenn einer sagt: Wir sehen uns!“

„Ach so, ja. Total daneben! Aber nicht so, wie der mit dem Maurer, das ist … ich weiß nicht.“

Heinzi nickte. „Wo du Recht hast … Noch ’n Rade?“

Der Waschsalon gehört Brunos Eltern. 17 Stück haben sie aufgemacht, überall in Ostdeutschland. Der hier in Leipzig war der erste gewesen. So sieht er auch aus, abgenutzt und mit welligem Linoleum. Hier haben sie ihr Büro, von wo aus sie ihr Imperium verwalten, hinten zum Hof raus, mit einer feuerfesten Eisentür, ein Eisengitter vor dem Fenster, ein Tresor in der Wand mit Zahlenschloss. Sie sind aber fast nie da, Bernd schmeißt den Laden, ihr Schwiegersohn, der Mann von Brunos Schwester. Die ist zwar in den Westen gezogen, hat einen neuen Mann, aber die Eltern haben Bernd den Job gelassen. Das hat Bruno imponiert.

„Er hat seine Sache bisher gut gemacht, also warum sollen wir ihn dafür bestrafen, dass Helga ihn verlassen hat?“, sagte Brunos Vater.

Völlig richtig, dachte Bruno, Helga ist ein Aas. Bernd vergöttert sie, warum ihm jetzt noch den Job wegnehmen? Auf die Idee, Bruno die Leitung der Waschsalons anzubieten, sind sie nie gekommen. Er selbst auch nicht.

Bernd ist in Ordnung, auch wenn Bruno ziemlich sicher ist, dass er die Alten bescheißt, ein bisschen zumindest. Aber da sie immer noch genügend Kohle rausziehen, um sich elf Monate im Jahr Urlaub leisten zu können, gibt’s keinen Grund, ihm Vorwürfe zu machen. Und es ist nicht nur einfach Urlaub! Highway Number one, Ayers Rock, chinesische Mauer, Chichen Itza–alles schon gesehen, alles schon im Fotoalbum. Und es gibt noch so viel zu sehen! „Bruno, wenn du wüsstest! Mach endlich deinen Doktor, mach eine Klinik auf und lass die anderen für dich arbeiten! Dann kannst du das auch alles sehen.“

Einmal im Jahr wollen sie Bruno sehen, wenn auch nur kurz in ihrem Büro hinterm Waschsalon. Dann sagen sie ihm solche Sachen. Sie mögen ihn und sie trauen ihm viel zu. Sicher, er ist labil und etwas komisch – dieser Quatsch mit den Zeitmaschinen –, aber er hat was auf dem Kasten. Ihr Junge hat Grips! Im Gegensatz zu Helga, die immer nur shoppen wollte und nie mit ihrem Taschengeld auskam. Bruno dagegen hat nie um Geld gefragt.

Sie sind ok, trotzdem strengen sie ihn an. Genauer: Die Vorstellung, die er ihnen stets geben muss, strengt ihn an. Die Promotion ist bald abgeschlossen, der Doktorvater ist sehr happy mit den Zwischenergebnissen, er wird ihn sofort als Stationsarzt einstellen, wenn alles fertig ist, erzählt er. Die Eltern strahlen. Ob er Geld braucht, fragen sie. Bruno winkt ab. Wenn er sie schon anlügt, will er sie nicht auch noch abzocken. Eigentlich bräuchte er nicht zu lügen, warum tut er es? Darum: Er kann es einfach nicht ertragen, in ihre traurigen Augen zu blicken. Und sie können ungeheuer traurig gucken, wenn sie enttäuscht sind! Vor allem, wenn sie von Bruno enttäuscht sind.

Er wird es nie vergessen, damals auf dem Abtanzball. Seine Partnerin im Leistungskurs war hochbegabt, eindeutig die Beste. Warum sie sich ihn ausgeguckt hat, weiß er bis heute nicht. Er ist nicht hochbegabt, Rhythmusgefühl ist ihm ein Rätsel. Aber immerhin: Er hat sich alles beibringen lassen, alle Schritte, alle Drehungen einstudiert. Er wollte ihr gefallen, klar. Denn sie hatte ihn auserwählt – die Queen der Tanzschule.

Und dann wurden sie nur Zweite beim Tanzturnier des Abtanzballs, es lag an ihm, ganz klar. Es gab eine Flasche Rotkäppchen als Hauptpreis, er gewann die Flasche nicht. Und seine Eltern haben ihn so traurig angeblickt, so todtraurig. Sue – so ließ seine Partnerin Susanne sich nennen – tröstete die Eltern. „Ich war heute nicht in Form“, erklärte sie, „hab die Kurve nicht gekriegt, irgendwie fehlte der Schwung.“

Aber der Blick der Eltern blieb, sie wussten, dass es nicht Sues Schuld war, sondern seine. Bruno tanzte wie ein Mehlsack, und er hat nie erfahren, warum Sue ausgerechnet ihn als Partner wollte.

Egal, er will jedenfalls nie wieder in diese traurigen Augen blicken. Und jetzt strahlen sie, als sie hören, dass ihr Hirnchirurg bald am Ziel ihrer Träume ist.

„Und wenn ich dann später mal einen Tumor hab’ oder sowas, machst du ihn mir weg!“, sagt sein Vater und grölt vor Lachen. Fasziniert beobachtet Bruno, wie die Zigarre ihm trotzdem nicht aus dem Mund fällt, sie hängt an seiner Unterlippe als wäre sie dort festgetackert.

Aber im Blick seiner Mutter liegt noch etwas anderes, Sorge nämlich. „Die Zeitmaschinen“, fragt sie, „bist du da immer noch am Basteln?“ Sie war es gewesen, die ihn zur Therapie geschleift hatte, als er von Giordano Bruno besessen gewesen war – so hatte sie es formuliert –, und sie war es auch gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass er das Abitur nachmachen durfte, als die Therapien ihn monatelang von der Schule fernhielten. Sie wird ständig von Restzweifeln geplagt, ob wirklich alles gut ist mit ihrem Jungen.

„Ja, ich war schon zweimal bei Pharao Ramses“, antwortet Bruno, „und als ich ins vierte Jahrtausend flog, bin ich beinahe in ein schwarzes Loch gefallen. Das Spaghettimonster hat mich gerettet.“

Sein Vater fällt vom Stuhl vor Lachen. Schwager Bernd, der wie immer die ganze Zeit dabei steht, fängt den Vater auf und verhindert einen erneuten Steißbeinbruch. Das ist seine wunde Stelle, immer fällt er auf sein Steißbein. Viermal hat er es sich schon gebrochen. ‚Sehr schmerzhaft, Junge, kannst mir glauben‘, sagt er dann immer.

Ob er wirklich kein Geld bräuchte, fragt er Bruno erneut, nachdem er wieder richtig am Schreibtisch sitzt. Bruno verneint: „Alles paletti, ich jobbe in der Intensivstation, die Kohle reicht.“

„Wir haben es auch aus eigener Kraft geschafft“, sagt der Vater und bläst eine bläuliche Wolke zur Decke empor, „nur so geht’s!“ Er ist zufrieden, morgen geht es nach Ägypten.

Später fragt Bernd: „Wieviel brauchst du?“ Er kennt Brunos System. Die meisten anderen kennen es nicht, die wundern sich nur, wie Bruno stets seine Schulden begleicht und leihen ihm gerne weiter Geld, denn er zahlt mit Zinsen zurück, pünktlich. Dabei ist es ganz einfach: Er leiht sich immer ein bisschen mehr, als er zurückzahlen muss. So bleibt ihm immer was zum Leben übrig.

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