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Оглавление8. Die stillen Stunden nach Mitternacht
Der Hüter des Schlafes entdeckt seine Bestimmung, die ihm zum Verhängnis wird
Kurt kann sich nicht erinnern, jemals wie ein normaler Mensch Schlaf gefunden zu haben. Aus den Erzählungen seiner Eltern weiß er, dass er schon als Säugling erst dann einschlief, wenn er mit seinen Kräften am Ende war, aus Erschöpfung sozusagen. Er sei ein friedliches, zufriedenes, mitunter sogar vergnügtes Kind gewesen, hatten sie später den Ärzten berichtet, nur wenn es ans Schlafen ging, wurde er zum Berserker: Sobald man ihn abends in sein Bettchen legte, schwoll sein Kopf knallrot an und er schrie und schrie, manchmal bis zum nächsten Morgen. Und erst wenn er sein letztes Quäntchen Energie aufgebraucht hatte, fiel er in einen todesähnlichen Schlaf.
Beides ängstigte die Eltern. Nachts fanden sie keine Ruhe – aus Sorge, Kurt könne eine schwere Krankheit haben, vielleicht einen Hirnschaden. Tagsüber, wenn er so tief schlief, dass man ihn mit nichts wecken konnte, war ihre Sorge noch größer: Immer wieder legten sie ihre Ohren an seine kleine Brust, um zu hören, ob sein Herz noch schlug.
Die Sache wuchs zu einem unlösbaren Problem an, als Kurt im Kindergartenalter war und später dann der erste Schulbesuch anstand. Was tut man mit einem Kind, das schläft, wenn andere spielen oder lernen, und das hellwach ist, wenn alle schlafen? Medikamente waren letztlich das Mittel der Wahl: Abends Schlaftabletten, morgens Muntermacher. Im Laufe der Zeit mussten immer höhere Dosierungen verschrieben werden, aber immerhin: Es half Kurt, zu einem halbwegs normalen Rhythmus zu finden.
Nach dem frühzeitigen Schulende mit 14 Jahren – die Medikamente senkten sein Auffassungsvermögen auf ein Minimum – fuhr Kurt zur See. Doch die Hoffnung wurde enttäuscht, er gewöhnte sich an, in den frühen Morgenstunden schlafzuwandeln, was ihm an Bord mehrfach Disziplinarstrafen einbrachte und schließlich, nach drei Jahren auf See, die Entlassung.
Die rettende Idee zur Lösung seines Problems kam ihm auf der Rückreise als er mit dem Schlafwagen fuhr, zwar nicht schlafend, sondern hellwach, aber elektrisiert von dem Gedanken, hier vielleicht endlich die ihm angemessene Umgebung finden zu können.
Schon in der nächsten Woche bewarb er sich bei der Bahn als Schlafwagenschaffner. Kurt bekam den Job und fortan stabilisierte sich sein Leben: Tagsüber schlief er in den Eisenbahnerunterkünften, nachts betreute er die Fahrgäste.
Kurts Körpergröße – er maß 2,03 Meter – hatte Vor- und Nachteile. Es bereitete ihm keine Mühe, die Koffer in die Gepäcknetze zu heben, Getränke und Snacks mit seinen langen Armen über mehrere Sitze hinweg zu reichen sowie die Schlafliegen herunter zu klappen, ohne dabei auf eine Leiter steigen zu müssen. Andererseits stieß er sich oft den Kopf, wenn er von einem Waggon in einen anderen ging.
Fünfundzwanzig Jahre lang bereiste er weite Teile des nächtlichen Europas, tagsüber schlief er, und nachts war er hellwach. Die Dunstschleier in seinem Gehirn, die ihm zuvor das Denken, Sehen und Hören und sogar das Sprechen erschwert hatten, lösten sich allmählich auf. „Es war“, so sollte er später Bruno erzählen, „wie im Theater, wenn der Vorhang aufgeht und die erleuchtete Bühne erkennbar wird. Wie im Weihnachtsmärchen.“ Bruno war nie im Weihnachtsmärchen gewesen, aber das sagte er nicht, er verstand auch so, was Kurt meinte. So wie er nachvollziehen konnte, was Kurt getan und was zu seiner Katastrophe geführt hatte.
Kurt liebte besonders die stillen Stunden zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens, wenn alle Fahrgäste schliefen. Er ging dann den schmalen Gang an den Abteilen vorbei und spürte seine Verantwortung: Er war der Hüter des Schlafes dieser Menschen. Wenn er durch die Scheiben in die Abteile blickte, sah er hin und wieder den einen oder anderen mit einer Taschenlampe ein Buch lesen, manchmal traf er auf einen Schlaflosen, der auf dem Gang stand und eine Zigarette rauchte. Wenn er sie fragte, ob er mit irgendetwas behilflich sein könne, antworteten sie: „Nein, nein, ich genieße nur die Ruhe.“ Kurt beneidete sie um die Müdigkeit, die sich ihrer zuverlässig am Abend bemächtigte, den einen früher, den anderen etwas später. Aber spätestens um elf lagen fast alle auf ihren Pritschen und schliefen.
Die Welt der Schlafenden wurde sein Reich, wenngleich sie nicht immer nur friedlich war. Betrunkene Rekruten, die in ihrem hell erleuchteten Abteil Lieder grölten statt das Licht zu löschen, bändigte er, indem er das Fenster öffnete und sie in ihrem Abteil einschloss. Schon nach wenigen Minuten bettelten sie – von der eisigen Winterluft blau gefroren – um Gnade, danach gaben sie endlich Ruhe. Einem in eine lautstarke Auseinandersetzung verwickelten Paar bot er sein Schaffner-Abteil als Austragungsort für ihren Zwist an. Als sie darin Platz genommen hatten, verschloss er auch hier die Tür. „Klopfen sie, wenn Sie fertig sind“, sagte er. Schon nach wenigen Minuten hämmerten sie an die Scheibe und beschimpften ihn, als er sie wieder herausließ. Hand in Hand eilten sie danach empört in ihr Abteil, nunmehr ein Herz und eine Seele.
Aber in der Regel hatte Kurt ab Mitternacht die nötige Muße, um seine Schlafenden zu hüten. Der Frieden, der auf den Gesichtern der Reisenden ruhte, rührte ihn zutiefst. Über welche Gabe verfügten sie, die er nicht besaß? Wieso schienen sie die Nacht und ihre Dunkelheit zu genießen, ja förmlich herbeizusehnen, um dann in diesen Zustand der tiefen Entspannung zu fallen? Stundenlang stand er vor den Abteilen und studierte ihre Gesichter. Sein Wunsch, so zu sein wie sie, wuchs und schmerzte ihn immer mehr. Und dann hatte er eine Idee. Er kaufte sich eine Polaroid.
Wenn alles schlief, öffnete er leise die Türen der Abteile, deren Notbeleuchtung gerade eben genügend Licht bot, und fotografierte seine Schutzbefohlenen. Er wusste natürlich, dass er etwas tat, was er niemals hätte tun dürfen. Im Laufe der Zeit sammelte Kurt eine beträchtliche Anzahl von Bildern schlafender Zugreisender, die er in einem Karton verwahrte, den er stets mit sich trug. Wenn er dann in der Schaffner-Unterkunft auf dem Bett saß und sich für seinen Tag-Schlaf bereit machte, breitete er sie um sich herum aus. Meist überwältigte ihn die Müdigkeit so schnell, dass er die Fotos nicht allzu lange betrachten konnte, das eine oder andere Mal schlief er sogar darüber ein und erwachte am Abend inmitten seiner Bilder. Er nahm sich vor, sie irgendwann alle aufzuhängen: eine große Wand voller schlafender Reisender – vielleicht würde er dann ihrem Geheimnis auf die Spur kommen.