Читать книгу Villa Ludmilla - Karsten Flohr - Страница 9
Оглавление5. Meine Zeigezehen sind zu lang!
Da wird uns schon was einfallen, sagt Gudrun, und Bruno ist gespannt, was das sein wird
Bruno hatte nie Probleme mit seinem Körper, er hat ihn immer so akzeptiert, wie er ist. Er fand es immer sonderbar, wenn seine Freunde – damals, als man noch im Wachstum begriffen war – den Wunsch äußerten, breitere Schultern zu haben, längerer Beine, Haare auf der Brust oder einen größeren Penis. Einmal allerdings konnte er einen Klassenkameraden verstehen, der unter seinen abstehenden Ohren litt, da sie manche Kinder dazu verleiteten, sie zu packen und daran zu ziehen. Aber sonst empfindet Bruno die Beschäftigung mit dem eigenen Körper als unnötige Gedankenvergeudung.
Das einzige, was ihn an seinem Körper manchmal zu denken gibt, ist die Tatsache, dass die zweiten Zehen seiner Füße länger sind als die, die man gemeinhin die „großen Zehen“ nennt. Jetzt im Schuhgeschäft beschäftigt ihn diese Normabweichung seiner Zehen nach langer Zeit wieder einmal, denn das einzige Paar Schuhe, das ihm wirklich gut gefällt, drückt an den Enden der zweiten Zehen. Der „große Zeh“ ist nicht das Problem, wenn man ihn zum Maßstab nähme, hätte der Schuh die richtige Größe. Bruno geht einige Male im Laden auf und ab, wippt auf den Zehen, dreht sich um die eigene Achse, in der Hoffnung, solcherlei Bewegung würde das Problem verschwinden lassen oder zumindest verringern. Aber dem ist nicht so, die Zehen sind eindeutig zu lang für diese Schuhe, die es nur in Größe 43 gibt. In den nach Größen geordneten Regalen stehen überall die gleichen Schuhe – bis auf diese, die nur im Regal der Größe 43 stehen.
Es ist klar, dass er sie trotzdem haben will, sie sind aus weichem, rotem Leder und haben eine flache Sohle, die nach hinten abfällt statt wie üblich einen Absatz zu haben. Bruno betrachtet sich abschließend im Spiegel und ist sicher, dass die Zeit das Problem lösen wird. Er winkt der Verkäuferin und deutet auf die roten Schuhe, diese sollen es sein! Nein, sie soll sie nicht einpacken, er will sie gleich anbehalten. Wuasts Turnschuhe, die Bruno angezogen hat, als er sich zum Schuhkauf aufmachte, lässt er stattdessen in den Pappkarton legen. Er zahlt bar: 300 Euro, so viel hat er gerade noch.
Wuast sitzt barfuß am Küchentisch und isst Würstchen aus der Dose, als Bruno zurückkehrt. Er will ihn eben fragen, ob er seine Schuhe gesehen hat, als Bruno den Karton vor ihm abstellt und den Deckel lüftet. „Aah!“, sagt Wuast und lädt ihn auf eine Hareico ein, die Bruno sogleich in einem Stück vertilgt, denn er hat noch nicht gefrühstückt. Dann bemerkt Wuast die roten Schuhe. „Hab mich schon gewundert, warum du so rumeierst“, sagt er. „Musst sie erst einlaufen?“
Bruno nickt, kaut, schluckt die Wurst herunter und sagt: „Ich kann hier nicht länger bleiben, sonst hast du bald die Russen am Hals.“ Und er erzählt ihm von dem Malheur mit dem Hundehaufen.
Wuast nimmt noch eine Hareico, hält sie wie eine Zigarre in die Höhe und pflichtet bei: „Ja, da kennen die keinen Spaß. Ich ruf Gudrun an, die hat Platz.“
Bruno wehrt ab, verweist darauf, dass er erstklassig im Waschsalon nächtigen kann, sein Ex-Schwager freut sich über Gesellschaft. „Nein, nein“, sagt Wuast, „zu gefährlich. Da haben die Russen auch ihre Finger drin, weißt du doch.“
Das stimmt allerdings, Bernd hat es mehrfach erwähnt. Bruno hat seine Zweifel, ob er wirklich Schutzgeld an die Russen abführen muss oder ob das eine Schutzbehauptung ist und er das Geld für sich behält. Aber egal, sicher ist sicher.
Dann fällt ihm ein: „Aber sie weiß doch noch, wer ich bin! Deine Schwester kann sich an mich erinnern – damals mit dem schmierigen Typ.“
„Macht nichts“, sagt Wuast.
Gudrun kann sich durchaus an Bruno erinnern, sie erinnert sich sogar ziemlich gut an ihn, und sie ist ihm auf ewig dankbar, sagt sie, als Wuast ihn bei ihr abliefert. Sie zeigt ihm das kleine Zimmer, in dem bis letzte Woche eine Schwesternschülerin aus Polen zur Untermiete wohnte. Als er es in Augenschein nimmt – er ist gerührt über den Stoffhund mit einem heraushängenden Auge, der auf dem Schlafsofa sitzt – beobachtet Gudrun ihn genau. „Was ist mit deinen Füßen?“ fragt sie. „Hast du Blasen?“
Bruno blickt auf seine neuen Schuhe. „Meine Zeigezehen sind zu lang“, sagt er.
„Da wird uns schon was einfallen!“, sagt Gudrun im aufmunternden Krankenschwester-Tonfall.
Bruno ist lange nicht mehr so umsorgt worden, das muss er schon sagen. Und er sagt es Gudrun nach einigen Tagen, als sie sich vom Küchentisch erhebt, um zur Nachtschicht zu gehen. Sie hat gekocht, wie sie es immer tut, bevor ihr Dienst im Krankenhaus um 18 Uhr beginnt, sie ist eine ausgezeichnete Köchin. Bruno erhebt sich ebenfalls und sagt: „Ich habe noch nie so gut gegessen wie bei dir – überhaupt noch nie so gut gelebt. Es ist schön bei dir. Ich freue mich jetzt jeden Abend auf den nächsten Tag. Das war nicht immer so.“
„Und ich“, erwidert sie, „ich freue mich, dass du dich mit Edu angefreundet hast. Es tut ihm gut.“
Edu ist der Stoffhund. Bruno setzt ihn neben sich, wenn er abends fernsieht in Gudruns Stube. „Er ist ja auch ein Netter“, sagt Bruno, „da fällt das nicht schwer.“
Bruno ist häuslich geworden, nicht nur wegen Edu. Wenn Gudrun die Wohnung verlässt – sie macht fast immer Nachtschicht – räumt er auf: Er spült das Geschirr, wischt Staub, feudelt das Klo, gießt den Ficus, bringt den Müll raus und bereitet Gudruns Bett vor. Er geht sonst nie in ihr Schlafzimmer, schon gar nicht, wenn sie da ist. Aber bevor er gegen Mitternacht das Haus verlässt, um in der Hirschquelle nach dem Rechten zu sehen, schlägt er ihre Bettdecke zurück, schüttelt das Kissen auf und lüftet. Manchmal, wenn er später als sie heimkommt – Gudruns Dienst endet morgens um sechs – liegt ein Zettel auf dem Küchentisch, auf dem ‚Danke‘ steht.
Gudrun kümmert sich um Brunos Füße, sie sind eindeutig besser geworden, seit sie sie regelmäßig massiert. Sie hat eine Zusatzausbildung als Ergotherapeutin. Natürlich kann sie seine Zeigezehen nicht kleiner massieren, aber die Verspannung in den Füßen, die vom verkanteten Gehen kommt, lässt nach. Trotzdem schaut Bruno manchmal beim Schuhgeschäft vorbei und fragt nach, ob es die roten Schuhe mittlerweile auch eine Nummer größer gibt. Das wäre schon schön.
Der Tag, an dem Brunos neues Leben beginnt, ist zugleich der, an dem er und Gudrun sich näherkommen. Es ist spät geworden in der Hirschquelle und Bruno trifft zur gleichen Zeit wie Gudrun in der Wohnung ein, nämlich um acht Uhr fünfzehn. Sie ist müde, er ist müde. Aber keiner von beiden hat Lust, schlafen zu gehen, vielmehr haben beide Lust, noch ein wenig Zeit miteinander zu verbringen. Verlegen stehen sie in der Küche, bis Bruno sagt: „Was hältst du davon, den Tisch zu decken und ich besorge ein schönes Frühstück? Ich denke da an Croissants, Lachs, Parmaschinken und ein paar Schweinemedaillons.“
Gudrun ist einverstanden. Als Bruno eine halbe Stunde später zurückkehrt, hat er nicht nur die genannten Leckereien in einer Tüte unter dem Arm, sondern auch eine Flasche Sekt und einen Blumenstrauß mit dabei.
Es ist zweifellos der schönste Frühstückstisch, an dem sie jemals gesessen haben. Die Blumen versperren zwar ein wenig die Sicht aufeinander, da sie die Vase in die Mitte des Tisches gestellt haben, aber wenn sie sich zur Seite beugen, können sie sich in die Augen blicken. Und das tun sie. Nur einmal sieht Bruno zum leeren, dritten Stuhl am Tisch. „Soll ich Edu …?“ fragt er. Gudrun nickt. Bruno erhebt sich, und gleich darauf sitzt Edu mit am Tisch. Bruno schiebt seine Hand zur Tischmitte. Gudrun tut es ihm nach und ihre Fingerspitzen berühren sich.
Zwei Stunden später – sie sind eingeschlafen, ohne ihre Sitzpositionen zu ändern – schrillt die alte Türglocke. Ihre Fingerspitzen weiterhin aneinander haltend erheben sie sich und gehen zur Wohnungstür. Draußen steht Wuast.
„Will nicht stören“, meint er, „aber die Post hier wirkt wichtig.“ Er hält Bruno einen Brief hin. „Von irgendeinem Anwalt“, fügt er hinzu. „Muss jetzt los. Geht’s besser mit den Schuhen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, steigt er die Treppe hinab. „Systemabsturz“, ruft er noch vom Treppenabsatz, „die warten auf mich. Erstmal Neustart …“
Der Termin, zu dem der Anwalt Bruno bittet, ist um 12 Uhr, der Brief hat eine Woche lang bei Wuast gelegen. Also nichts mit Schlaf jetzt. Gudrun brüht noch einen Kaffee auf, dann sitzen sie sich wieder gegenüber, als hätte die Türglocke nie geschellt. Der Brief liegt zwischen ihnen, Bruno versteht ihn nicht. Juristisches Kauderwelsch. Nur dass er um 12 Uhr da sein soll ist klar.
Als er um halb zwölf die Wohnung verlässt, kann Gudrun sich kaum noch auf den Beinen halten vor Müdigkeit. Sie lehnt in der Tür zu ihrem Schlafzimmer am Türpfosten, Bruno steht vor ihr, ihre Fingerspitzen berühren sich. „Ich glaube, das ist was Gutes“, sagt sie und deutet auf den Brief, den Bruno in der Hand hält.