Читать книгу Villa Ludmilla - Karsten Flohr - Страница 13
Оглавление9. Schatten und Abbilder
Nach über zehn Jahren, in denen nie einer aufgewacht ist, passiert das Unmögliche
Als Bruno ihm begegnet, schläft Kurt. Es ist später Nachmittag und Kurt sitzt zusammengesunken auf einer Bank vorm Bahnhof, die Schaffnermütze ist ihm über die Augen gerutscht, auf dem Schoß hält er einen Pappkarton. Bruno ist auf dem Weg zur Hirschquelle, und als er drei Stunden später zurückkehrt, sitzt der Mann immer noch da. Bruno nimmt neben ihm Platz und betrachtet ihn. Der Karton ist zu Boden gefallen, einige Fotos schwimmen auf einer Pfütze. Als Bruno sich bückt, um sie aufzuheben, erwacht Kurt und reibt sich die Augen. „Du sitzt schon lange hier“, sagt Bruno. „Zug verpasst?“
„Nee, gefeuert.“
„Oh!“
„Wegen denen da.“ Kurt deutet auf die Bilder.
Bruno nickt verständnisvoll. „Wo willst du jetzt hin?“
Kurt zuckt mit den Schultern.
„Probleme?“, fragt Bruno.
„Kann nachts nicht schlafen.“
„Das kenn’ ich.“
Die Kiste ist schwer, sie tragen sie abwechselnd auf dem Weg zur Villa Ludmilla. Kurt wird gesprächig. „Fristlos“, fängt er irgendwann an. „Sie haben mich fristlos gefeuert. Einer von denen“ – er deutet auf die Kiste – „ist aufgewacht, als ich ihn gerade knipste. In über zehn Jahren ist das noch kein einziges Mal passiert!“
„Welcher war es?“, fragt Bruno. Sie sitzen jetzt auf dem Holzfußboden des Musiksalons – Tante Elfriede hatte ein Cembalo besessen und in diesem Raum musikalische Soiréen für ihre Freundinnen veranstaltet, zu denen Musikstudenten für ein überschaubares Entgelt als Ausübende eingeladen wurden – und haben die Fotos um sich herum ausgebreitet. Es sind 3.308, die von der Pfütze beschädigten mitgerechnet.
„Der da“, sagt Kurt und deutet auf ein Bild direkt zu seinen Füßen. Bruno, der einige Meter entfernt sitzt, balanciert auf Zehenspitzen über die Fotos hinweg und beugt sich über das Bild. Ein Doppelkinn, eine klobige Nase mit haarigen Löchern, darauf eine verrutschte Brille, der kleine Mund mit schmalen Lippen steht offen. „Er ist von seinem eigenen Schnarchen aufgewacht“, erklärt Kurt.
„Hast du das auch fotografiert?“
„Da drüben.“ Obwohl das Foto einige Meter entfernt liegt, erkennt Bruno es sofort. Es ist das einzige, auf denen der Portraitierte die Augen weit aufgerissen hat. Er hat den Kopf und einen Arm gehoben, gleich wird er aufspringen und auf Kurt losgehen. „Er schlug mir die Kamera aus der Hand und drängte mich aus dem Abteil.“
Über den Tumult, der dann einsetzte, möchte Kurt jetzt nicht sprechen. An der nächsten Station kam die Bahnpolizei in den Zug, die Kamera wurde beschlagnahmt, Kurt konnte gerade noch das Bild herausnehmen.
„Darf ich?“, fragt Bruno, kriecht hinüber zu dem Foto und heftet es in die Mitte der mit dunkelblauer Seidentapete bespannten Wand. In den nächsten Stunden befestigen sie die weiteren 3.307, während das Licht der Abendsonne über die Wand wandert und ein Bild nach dem anderen ausleuchtet. Als sie fertig sind, ist es fast dunkel. „Ein Lebenswerk!“, flüstert Bruno und schreitet ehrfürchtig vor der Galerie auf und ab. Kurt sitzt auf dem Boden und hält sich die Hände vors Gesicht.
Am nächsten Morgen erscheint Gudrun in der Villa, sie kommt vom Nachtdienst aus dem Krankenhaus. Sie will Bruno und Ray, den zugelaufenen Hund, zum Tierarzt begleiten und hat Brötchen mitgebracht. Sie findet Bruno in der riesigen Küche auf dem Klappstuhl vor dem Campingtisch sitzen, den bislang einzigen Möbeln im Haus – abgesehen von Brunos Feldbett. Wir sehen die wahre Gestalt der Dinge nicht wirklich, sondern nur deren Schatten und Abbilder, hört er gerade Giordano Bruno sagen und wiederholt diese Erkenntnis murmelnd im Halbschlaf.
„Die wahre Gestalt der Dinge ist, dass du völlig übermüdet aussiehst“, sagt Gudrun. „Ich koch’ uns einen Kaffee.“
„Schatten und Abbilder“, murmelt Bruno, „komm, sieh sie dir an.“
Er führt Gudrun durch die Eingangshalle, den Speisesalon und die Bibliothek und bleibt dann vor einer hohen Doppeltür stehen. „Sieh sie dir an“, wiederholt er und drückt die Klinke herunter. Langsam schwingen die Türflügel zum Musiksalon auf. Zuerst sieht Gudrun einen schlafenden Mann in Schaffner-Uniform am Boden liegen, dann fällt ihr Blick auf die Wand. „Die geheime Galerie der Schlafenden“, flüstert Bruno und deutet auf Kurt. „Und das ist ihr Schöpfer. Er hütet ihren Schlaf.“
Der Tierarzt bestätigt die Vermutung: Ray ist blind. Er schätzt sein Alter auf 13 bis 14. „Die linke Hüfte ist mehrfach gebrochen, muss ein Autounfall gewesen sein. Hat er noch Appetit? Kackt er auf den Teppich? Wenn er nicht mehr ordentlich frisst und sich häufig erbricht, sollten sie ihn hier lassen.“
„Wozu?“
„In dieser Verfassung ist sein Leben ziemlich qualvoll. Da ist es dann eine Erlösung für so ein Tier, wenn …“
„Wir haben keinen Teppich“, sagt Bruno.
Als sie wieder draußen sind, erleichtert sich Ray auf der Fußmatte der Tierarztpraxis, anschließend läuft er gegen einen Laternenpfahl. „Wohnt er bei dir?“, fragt Gudrun.
„Natürlich, er ist mir ja zugelaufen.“
„Ich meine den Schaffner.“
„Ich denke schon. Wo soll er sonst seine schlafenden Schützlinge hüten?“