Читать книгу Villa Ludmilla - Karsten Flohr - Страница 8
Оглавление4. Er hat unser Auto versaut!
Das haben sie nun davon, wenn sie Bruno zum Einsteigen zwingen, obwohl er Hundekacke unterm Schuh hat
Mit einem bunten Strauß grüner, blauer und brauner Scheine in der Jacke verlässt Bruno um fünf den Salon, da sind die Eltern schon weg mit ihrem Chrysler. Er muss als erstes zu Heinzi, der kriegt Geld von ihm, und dann der unangenehmere Teil: Er muss den Russen einen Besuch abstatten, denn die kriegen auch Geld. Aber immerhin bekommen sie ihr Geld, da werden sie ihm schon nicht die Nase abschneiden. Neulich haben sie das mit einem gemacht, der nicht zahlte, als Zahltag war. Bruno kennt den sogar, er studiert ebenfalls Medizin und ist ein guter Billardspieler, aber immer wenn er etwas gewonnen hat, geht er lieber ins Amphore statt seine Schulden zu begleichen. Da braucht man sich dann nicht zu wundern.
Die Hirschquelle hat noch geschlossen, Heinzi macht erst um sechs auf, jetzt ist es zwanzig vor. Manchmal macht er sogar noch später auf, er spielt gern ungestört eine Runde Pool, bevor die Gäste sich über die Tische hermachen. Und das kann manchmal etwas länger dauern, er spielt gegen sich selbst, und wenn er gut in Form ist, dauert es, bis der Gewinner feststeht. Dafür haben alle Verständnis und warten gern. Es ist nicht so, dass sie dann an die Tür hämmern und nach ihm rufen oder so. Sie gehen mit ihren Queues rüber in den Park und warten, bis Heinzi fertig ist.
Bruno allerdings klopft, und Heinzi öffnet ihm umgehend, als hätte er hinter der Tür gewartet. Hat er aber nicht, er schleppt nur gerade den Staubsauger in die Abstellkammer neben der Eingangstür, deshalb ist er so schnell da. Vielleicht auch deshalb, weil er das Geld braucht, das Bruno ihm bringt: Heinzi muss nämlich das Bier bezahlen, das die Brauerei heute Nachmittag geliefert hat. Sie haben ihm Frist bis morgen gegeben.
„Dreihundert kriegst du“, sagt Bruno, „zweihundertachtzig hast du mir geliehen, zwanzig sind obendrauf, weil ich mich immer auf dich verlassen kann.“
„Nee“, sagt Heinzi, „das machen wir nicht, damit fangen wir gar nicht erst an! Bei mir zahlst du keine Zinsen. Dass du pünktlich bist, genügt.“
Er nimmt sich zweihundertachtzig aus dem Stapel der Scheine, die Bruno auf den Tresen gelegt hat wie einen Fächer. Dann nimmt er ein Glas und will es unter den Zapfhahn stellen, Bruno hebt abwehrend die Hand. „Noch nicht“, sagt er. „Ich muss taufrisch sein. Nachher treff’ ich die Russen, die kriegen fünfhundert von mir, plus Zinsen.“
„Wieviel?“
„20 Prozent.“
„Boah!“, macht Heinzi. „Also sechshundert. Für wie lange?“
„Vor drei Wochen haben sie’s mir geliehen, war für den Plattenspieler, den Lenco. Weißt schon.“
„Ja.“
Es klopft.
„Zu!“, ruft Heinzi laut. „Ist noch zu!“
Aber es klopft wieder.
Heinzi nimmt den Wischlappen, der schon bessere Tage gesehen hat, und poliert den Zapfhahn. „Jetzt kannst du dir einen neuen leisten“, sagt Bruno und deutet auf das Geld, das noch auf dem Tresen liegt.
„Hab’ schon einen“, gibt Heinzi zurück. „Hatte ich nur vergessen.“ Er wirft den alten Lappen in den Eimer mit der Tretmechanik, die kaputt ist, weshalb er ständig offen steht und nicht so gut riecht, und holt einen neuen aus der Schublade hervor. „Hier!“ Er hält ihn hoch, damit Bruno ihn sehen kann. Es ist ein nagelneues Schwammtuch, noch in Plastikfolie, original verpackt, lachsrot. „Super!“, sagt Bruno. Da klopft es wieder.
„Mach mal auf“, seufzt Heinzi, „vielleicht muss einer mal ganz doll oder so.“
Es ist eine der Vietnamesinnen aus dem Club Amphore.
Sie steht vor Bruno und reicht ihm bis zur Brust. Und Bruno ist kein Riese, normal groß ist er, man kann sich also vorstellen, wie klein sie ist. „Kann kommen?“, fragt sie.
„Ja, komm!“, ruft Heinzi.
Sie stolziert an Bruno vorbei, hat ziemliche O-Beine. Mit ihrem Minirock sieht sie aus wie eine Erstklässlerin, denkt Bruno, zumindest von hinten. Von vorne erinnert sie an eine der Buddha-Figuren, die jetzt überall billig zu haben sind – das runde Gesicht mit den hochgesteckten Haaren und den übergroßen Ohrläppchen.
Als sie einen Barhocker erklimmt und über die Kante des Tresens blickt, hält Heinzi mit dem Polieren inne und sagt erstaunt: „Oh, die Chefin!“
„Nicht mehr lange“, sagt sie, „wenn Pech kommt, vielleicht.“
„Warum sollte Pech kommen?“
„Weil die Russen kommen. Wollen Geld. Gestern schon da, sind wieder gegangen, weil nix da. Wollen heute wieder kommen.“
„Und wenn du dann immer noch kein Geld hast?“
„Nase. Das machen sie jetzt so.“
„Ernste Sache“, sagt Bruno, der hinter die Vietnamesin getreten ist. „Wo ist dein Chef?“
„Ich Chef.“
„Ja, aber ich meine den, dem der Laden gehört, also wirklich gehört.“
„Lange nicht gesehen, verreist.“
„An ihn müssen sich die Russen halten, er ist der Hauptmieter.“
„Ist aber weg.“
Bruno nickt. „Wieviel?“
„Fünfhundert.“
Bruno wühlt in seiner Brusttasche, dann legt er einen Haufen zerknüllter Geldscheine auf den Tisch. „Zähl mal nach, müsste reichen.“
„Sie wird es dir wiedergeben, ganz sicher. Nams machen keine Schulden, außer es geht um ihre Nase“, sagt Heinzi, als die Chefin wieder raus stolziert ist, nachdem sie sich das Geld in die Bluse gestopft hat.
Bruno nickte. „Und die ist schon klein genug, die Nase. Aber sie steht ihr, oder wie siehst du das?“
„Find ich auch. Wenn man in so ’n Gesicht guckt, denkt man manchmal, da ist gar keine Nase, nur zwei Löcher zum Atmen. Weißt, was ich mein’?“
Bruno nickt.
„Aber dann sag ich mir: Wo Nasenlöcher sind, muss auch eine Nase sein. Und wenn ich ganz genau hinsehe, dann entdeck’ ich sie auch. Aber wie du schon sagst: verdammt klein.“
Bruno hat ihm aufmerksam gelauscht, nickt zustimmend. „Ich muss dann mal jetzt“, sagt er.
„Pass auf dich auf, bis später.“
Aufpassen braucht er zunächst nicht. Bei Jorge ist er gern gesehen, gerade letzte Woche hat er ihm vor Ablauf der Frist sein Geld zurückgezahlt, mit Zinsen. Jorge ist Kassierer im Peepshow-Kino gegenüber dem Bahnhof. Es ist keine echte Peep-Show, das ist längst untersagt, aber es sind die Kabinen von früher, mit Filmen drin. Und zweitens: Jorge ist kein Portugiese, er sieht nur so aus. Er trägt einen hüftlangen, pechschwarzen Pferdeschwanz, schwarze Stiefel mit hohen Absätzen, hautenge schwarze Hosen und weiße Hemden ohne Kragen, die er bis zum Bauchnabel aufknöpft. Er wäre der perfekte Fado-Star, nur dass er weder singen noch tanzen kann. Alle nennen ihn Jorge, denn so heißen die heißen Männer in Portugal. Und dass Jorge der heißeste der Gegend ist, steht außer Frage.
Er ist sofort bereit, Bruno einen Tausender zu leihen, sagt ihm sogar, er kann sich Zeit lassen. „Echt – du bist der perfekte Darlehensnehmer! Gibt keinen besseren. Willst noch reingucken?“ Er deutet auf eine der Peepshow-Kabinen.
Jorge sitzt hinter der Panzerglasscheibe in seinem neonbeleuchteten Kassenraum und spricht durch eine Stelle in der Scheibe, in die Löcher gebohrt sind. Er legt die Scheine auf seiner Seite in eine Mulde, dann dreht er eine Scheibe, und die Mulde mit dem Geld erscheint auf Brunos Seite.
„Nee“, sagt Bruno, „muss was abliefern. Aber nett von dir.“
„Wieso? Vielleicht ist es gar nicht nett gemeint, vielleicht will ich dich ins Unglück stoßen, in den Abgrund von Laster und Verderben. Wo das ewige Höllenfeuer schon geschürt wird für die Sünder und Unverbesserlichen, die Ehebrecher und Lüsternen, für die die Welt nur aus Schenkeln, Brüsten und Lippen besteht, die nie genug bekommen …“
Aber Bruno ist schon auf der anderen Straßenseite, er lacht, und dann muss er plötzlich an Giordano Bruno denken. Für viele lodert das Höllenfeuer bereits auf Erden, da hat Jorge Recht. Die Hohepriester der Hoffahrt tilgen diejenigen aus, die ihnen die Masken der Demut vom Gesicht reißen. So wie Giordano es getan hat.
Wir richten niemals, wir stellen lediglich fest, wer sich schon selbst gerichtet hat, hatten sie ihm höhnisch gesagt, als die Verhöre begannen. Hatte Giordano das – hat er sich selbst gerichtet?
Natürlich hat er das, als er ihnen unter der Folter entgegenschleuderte: Mir werft ihr Ketzerei vor, nur weil ich eure wahnhafte Selbstverliebtheit und eitle Anmaßung infrage stelle! Oh, ihr bigotten Schwätzer hohler Geheimnisse!
Es ist wieder der kleine Schrei aus seinem eigenen Mund, das Quieken, das Bruno aus seinem Traum reißt, nur dass er diesmal nicht von der Bank fällt. Er sitzt auf der Rückbank des Busses, fest in die Ecke geklemmt. Als er einschlief, waren noch alle Plätze besetzt, jetzt ist er der Letzte im Bus. Endstation
„Ey Kumpel, aussteigen“, sagt der Fahrer. Seine Stimme schwankt zwischen energischer Aufforderung – schließlich ist er eine Amtsperson – und Verständnis, denn er weiß, wie Müdigkeit sich anfühlt. Bruno reißt die Augen auf. „Danke!“, sagt er dann, rappelt sich auf, stolpert durch den Gang bis zur Mitteltür und springt die Stufe hinunter ins Freie, mitten in einen Hundehaufen.
Er hat Glück, dass er nicht ausrutscht, gerade noch kann er sich am Laternenpfahl festhalten. „Wann fahren Sie zurück?“, ruft er in den Bus und schaut auf seine Schuhsohlen. Eklig, einfach eklig!
„Jetzt.“
Bruno steigt wieder ein und setzt sich auf seinen Platz. „Wann kommt Heimgarten?“
„Drei Stationen“, ruft der Fahrer und lässt den Motor an, ein Rütteln geht durch den Bus, als hätte er Parkinson.
Bruno schafft es diesmal wach zu bleiben, nach drei Stationen steigt er aus. Es ist die richtige Haltestelle, gleich auf der anderen Straßenseite ist der Imbiss, wo die Russen ihre Geschäfte machen. Als er die Straße überquert, sieht er drei von ihnen am Stehtisch. Sie tragen graue Anzüge, die Haare millimeterkurz rasiert, weiße Oberhemden ohne Krawatte, trinken Tafelwasser ohne Kohlensäure. Hinter ihnen parkt ein schwarzer Audi A8 mit abgedunkelten Scheiben.
Sie sehen Bruno gleichmütig entgegen, als er sich ihnen nähert. Einer reinigt seine Fingernägel mit einem silbernen Zahnstocher. „Da abgeben“, sagt er zu Bruno und deutet mit dem Kopf zum Wagen.
Als Bruno vor der Beifahrertür steht, öffnet sich diese wie von Geisterhand einen Spalt. „Du bist zu spät, ’ne halbe Stunde“, sagt eine Stimme.
Bruno erkennt die Umrisse einer weiteren Person, die im Fond hinter dem Fahrer sitzt. „Gib schon her“, sagt die Person. „Steig ein!“
Bruno zückt die sechs Hunderter und reicht sie in den Innenraum des Wagens. „Reinkommen, sagte ich“, schnarrt die Stimme.
Bruno setzt sich, legt die Scheine auf die Mittelkonsole.
„Wer hat dir erlaubt, das Auto zu berühren?“, sagt der Mann hinten und schlägt Bruno auf den Kopf. Nicht hart, aber spürbar.
Dann hält er seine geöffnete Hand über den Ledersitz. „Hier rein!“
Bruno legt die Scheine in die Hand. Als er seine zurückziehen will, packt ihn die Person am Unterarm. „Erstmal nachzählen, nicht wahr?“
Das geht schnell, nach einigen Sekunden lässt die Person Bruno los, lehnt sich zurück. „Stimmt.“
„Was ist das denn?“, lässt sich der andere vernehmen und atmet hörbar ein.
„Was?“
„Riech mal!“
„Was denn?“
„Der Typ!“
Jetzt riecht Bruno es auch. Scheiße!
„Also dann“, sagt er und springt aus dem Auto.
„Du bist tot!“, schreit der Fahrer hinter ihm her, öffnet seine Tür und wuchtet sich heraus. Im gleichen Moment reißt die Person hinten ihre Tür ebenfalls auf, knallt sie dem Fahrer ins Kreuz. Das gibt Bruno einen Atemzug Vorsprung. „Er hat unser Auto versaut!“, ruft der Fahrer, „alles voll Kacke!“
Vor sich sieht Bruno die Rücklichter des Busses, der an der Haltestellte wartet. Er rennt um sein Leben. Die Türen sind offen, Bruno springt hinein, vorne beim Fahrer, und hält ihm seinen Studentenausweis hin. „Zum Hauptbahnhof“, keucht er. „Jetzt, bitte!“
„Ich fahre nach Plan“, kommt die Antwort. Bruno sieht genauer hin, es ist eine Busfahrerin. Jung, brünett, das graue Dienstkostüm steht ihr ausgezeichnet. Sie hat ein Piercing am linken Nasenflügel und schwarz lackierte Fingernägel.
„Sie sehen toll aus!“, bringt Bruno atemlos hervor und läuft durch den leeren Bus zur Rückbank.
Sie startet den Motor, der Bus rüttelt, aber sie lässt die Türen offen. „In vier Minuten“, sagt sie und greift nach der Zeitung, die vor ihr auf der Ablage liegt.
Bruno starrt zur Tür, der Bus ist hell erleuchtet, draußen sieht es dunkel aus, obwohl es in diesem Hochsommertagen fast bis Mitternacht hell bleibt. „Ist es dunkel draußen?“, ruft er. Sie antwortet nicht.
Er starrt und starrt. Kein Russe kommt. Plötzlich ein Zischen – die Türen gehen zu. Bruno lässt sich erleichtert ins zerschlissene Plastikpolster sinken.
Menschen steigen ein, der Bus füllt sich. Sie meiden Bruno. Es sind nur noch zwei Stationen bis zum Hauptbahnhof, da hupt es neben ihm. Bruno starrt ins Dunkel, dann erkennt er den Audi. Eine Hand streckt sich ihm mit erhobenem Mittelfinger aus dem Fenster entgegen. ‚Na klar!‘, denkt Bruno. ‚Sie brauchen gar nicht einzusteigen, sie kriegen mich auch so. Sie brauchen nur hinterherzufahren und zu warten, bis ich aussteige.‘
Zum Glück wollen viele raus am Hauptbahnhof, sie drängeln sich vor beiden Türen. Bruno mittendrin, was nicht einfach ist, denn sie weichen vor seinem Kackegeruch zurück. Aber er schafft es: In einem Pulk steigt er aus dem Bus, sieht aus den Augenwinkeln den Audi, da springt er auch schon die Stufen zur U-Bahn hinunter. Er dreht sich nicht mehr um.
Als er in die Bahn steigt, hat er keine Schuhe mehr an den Füßen, er hat sie vorsichtshalber abgestreift. Aber das macht nichts, er braucht sowieso neue. Gleich morgen wird er Schuhe kaufen, nimmt er sich vor, als er etwas später in Wuasts Abstellkammer auf das Feldbett sinkt. Während er die Augen schließt, hört er Giordanos vertraute Stimme: Alle Dinge, die uns umgeben, sind nichts als Zustände in uns.
Das sieht Bruno auch so und findet seinen derzeitigen Zustand ziemlich gut, immerhin hat er noch seine Nase.