Читать книгу Inklusionsorientierter Deutschunterricht - Kathrin Mahlau - Страница 15
Infobox 4: Zum Verhältnis der Begriffe Lesekompetenz, Lesefertigkeit und reading literacy
ОглавлениеLesekompetenz:
Lesekompetenz setzt sich aus der basalen Lesefertigkeit und dem Leseverständnis zusammen und meint die Fähigkeit, Texten relevante Informationen zu entnehmen, Texte zu verstehen, zu bewerten und sie damit zu reflektieren. »Mit Lesekompetenz ist also die generelle Fähigkeit zum Lesen gemeint, die in ihrer Endstufe den eigenständigen Umgang mit unterschiedlichen Textsorten einschließt und dabei in der Regel mehrdimensional konzipiert wird« (Schneider & Tibken, 2018, 72)«.
Lesefertigkeit:
Lesefertigkeit meint die Kompetenz, »Buchstaben in Laute umzusetzen und die entsprechende Wortbedeutung zu entschlüsseln« (Munser-Kirscher & Kirschhock, 2012, 5). Lesefertigkeit ist Bestandteil der Lesekompetenz.
Lesekompetenz und reading literacy:
»Lesekompetenz im Sinne von reading literacy bezieht sich auf die Fähigkeit des Lesers, handschriftliche, gedruckte oder elektronisch dargebotene Texte zu nutzen, um das eigene Wissen und Potential weiterzuentwickeln. Diese Konzeptualisierung impliziert, dass Lesekompetenz sowohl das Verstehen als auch die Nutzung schriftlicher Informationen für praktische Zwecke beinhaltet« (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 2018).
Demnach bedeutet Lesekompetenz also, »geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen« (Garbe, Holl & Jesch, 2010, 21). Damit stehen neben der Lesefertigkeit und dem Leseverständnis die Nutzung des Inhalts des Textes für eigene Ziele und gesellschaftlicher Teilhabe im Fokus des Konstrukts Lesekompetenz. Die emanzipatorische und teilhabeorientierte Dimension des Lesens wird hierbei betont. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist eine zentrale Intention inklusiver Pädagogik und Lesekompetenz hierbei ein wesentliches Element. Auch wenn die Vermittlung von Lesekompetenz über die Vermittlung von Lesefertigkeit und Leseverständnis bzw. von Strategien zur Erfassung des Inhalts eines Textes hinausgeht, sind diese grundlegenden Teilkompetenzen zentrale Ziele des Deutschunterrichts. Zudem ist die Entwicklung von Leseverständnis eng mit der Entwicklung der Lesefertigkeit verbunden. Eine dem lesetechnischen Schwierigkeitsgrad des »Wortmaterials« eines Textes entsprechende Lesefertigkeit ist eine notwendige (aber nicht hinreichende!) Bedingung für das Verständnis eines Lesetextes. Insofern sind Übungen zur Steigerung der Lesefertigkeit ein Beitrag zur Steigerung des Leseverständnisses ( Kap. 1.3, 2 und 3).
Notwendig für das Verständnis eines Textes sind sowohl Prozesse der Worterkennung bzw. des Wortverstehens als auch des Satzverständnisses. Darüber hinaus verlangt das Erfassen des Sinns eines Textes eine Unterscheidung von zentralen und weniger bedeutsamen Inhalten der gelesenen Sätze sowie eine Zusammenschau der wesentlichen Aussagen und deren Beziehung zueinander. Wie oben bereits beschrieben unterscheidet Lenhard (2013) in seinem Situationsmodell des Leseverständnisses hierarchiehohe und hierarchieniedere Prozesse, die beim Lesen ablaufen. Auf der niederen Hierarchieebene sind alle Teilprozesse und entsprechende Teilkompetenzen des Lesens verortet, die sich auf das Verstehen von Wörtern und Sätzen beziehen: Rekodieren, Dekodieren, Propositionsbildung (Erkennen von Bedeutungseinheiten und von Beziehungen zwischen Wörtern im Satz), Erkennen von Kohäsionsmitteln (Nutzung bzw. Erkennen von sprachlichen Bindegliedern, Verbindungen zwischen Satzteilen und
Abb. 3: Teilprozesse im Leseverständnis (Lenhard, W. (2013). Leseverständnis und Lesekompetenz. Grundlagen – Diagnostik – Förderung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 15)
Sätzen). Auf der hohen Hierarchieebene finden Teilprozesse statt, wie u. a. die Aktivierung von Vor- und Textformatwissen (Hinzuziehen von Vorwissen z. B. bei Sachtexten oder von Kenntnissen über bspw. die Gattung Fabel), Selbstregulation (Auswahl und Anwendung von Lesestrategien und Monitoring des Verständnisprozesses), globale Kohärenzbildung (Verdichtung der erfassten Bedeutungseinheiten (Propositionen) zu einem übergreifenden (globalen) Zusammenhang) sowie das Ziehen von Inferenzen (Ziehen von Schlussfolgerungen, die über direkte Aussagen im Text hinaus gehen, »Lesen zwischen den Zeilen«).
Während es bei den hierarchieniederen Lernprozessen zunächst um eine fehlerfreie und schnelle Worterkennung und ein Verstehen von Sätzen und kurzen Textabschnitten (lokale Kohärenzbildung) geht, führen hierarchiehohe Prozesse zu einem Situationsmodell bzw. mentalen Modell des gelesenen Textes, also zu einer übergeordneten (globalen) Kohärenzbildung über einzelne Bedeutungseinheiten hinweg.
Der Ablauf der genannten Teilprozesse des Leseverständnisses wird durch allgemeine individuelle kognitive Voraussetzungen beeinflusst. Zu diesen gehören das bereichsspezifische Vorwissen, die Arbeitsgedächtniskapazität, die Geschwindigkeit des Worterkennens (des Zugriffs auf das semantische Lexikon), die phonologische Bewusstheit und das schlussfolgernde Denken. Laut Lenhard (2013, 15) besteht zwischen den erläuterten Teilprozessen des Leseverständnisses keine strenge Abfolge, sie verlaufen vermutlich parallel und stehen in einer Wechselwirkung mit dem Ziel des Lesens (der Leseanforderung) und der Komplexität des Textmaterials.
Für die Entwicklung des Leseverständnisses bzw. der Lesekompetenz bedeutet dies, dass die Vermittlung und Steigerung hierarchieniederer Teilkompetenzen eng mit der Steigerung hierarchiehoher Teilkompetenzen (z. B. Aktivierung von relevantem Wissen, Selbstregulation) verbunden sind. Zwar können hierarchiehohe Teilprozesse des Leseverständnisses auch anhand von vorgelesenen oder durch Medien dargebotenen Texten entwickelt werden, dennoch ist die Entwicklung des Leseverständnisses eng mit der Entwicklung der Lesefertigkeit verbunden. Vermutlich sind die in der Praxis entstandenen unterschiedlichen curricularen Schwerpunktsetzungen in Klassenstufen bei der Vermittlung von Lesekompetenz für die meisten Schülerinnen und Schülern vorteilhaft: 1. Lesefertigkeit (Klasse 1 und 2), 2. Leseverständnis (ab Klasse 3) und 3. Literalität (in höheren Klassen). Wobei sich diese groben Schwerpunktsetzungen im Vermittlungs- und Erwerbsprozess von Lesekompetenz für das einzelne Kind unterschiedlich gestalten können und sie eher als sich überlappende Phasen zu konzeptualisieren sind. Die Hinführung zur Literatur als Kunstform und Teil von Kultur kann als parallel und überlappend zur schulischen Entwicklung der Lesekompetenz angesiedelte Intention schulischer Bildung angesehen werden, die mit dem Prozess der Entwicklung von Lesefertigkeit und Leseverständnis interagiert.
Abb. 4: Lesefertigkeit und Leseverständnis als Teil von Lesekompetenz (konzeptualisiert im Sinne von Teilhabe an der Kultur des geschriebenen Wortes)
Die Kunst eines auf Lesekompetenz ausgerichteten Deutschunterrichts besteht in einer systematischen Kompetenzentwicklung. Diese beginnt mit dem Schwerpunkt Lesefertigkeit unter Berücksichtigung von Aspekten des Leseverständnisses und setzt sich fort mit dem Schwerpunkt Leseverständnis bei gleichzeitiger Steigerung der Leseflüssigkeit sowie der Freude und des Interesses am Lesen. Weitergeführt wird sie mit Techniken der systematischen Texterschließung einschließlich von Lesestrategien. Leicht zeitversetzt bzw. -verzögert zu den Schwerpunkten des Lesekompetenzerwerbs sind Prozesse des Schreibenlernens, des Rechtschreiberwerbs und des schriftlichen Ausdrucks in den Deutschunterricht zu integrieren. Übungen des Rechtschreibens und der Textproduktion unterstützen den Erwerb der Lesekompetenz.