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1.1 Begriffe zur Beschreibung der Kinder mit Lernschwierigkeiten im Deutschunterricht

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Aus inklusionspädagogischer Perspektive sind definitorische Auseinandersetzungen über Begriffe wie Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibstörung, isolierte Rechtschreibschwierigkeiten, isolierte Rechtschreibschwäche, isolierte Rechtschreibstörung, kombinierte Schulleistungsschwierigkeiten, kombinierte Schulleistungsschwäche, kombinierte Schulleistungsstörung, Legasthenie, Beeinträchtigungen im Lesen, Beeinträchtigungen im Rechtschreiben oder sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Förderschwerpunkt Lernen u. v. m. aufgrund einer eher geringen Förderrelevanz damit assoziierter Gruppenbildungen auf den ersten Blick wenig hilfreich. Denn für die direkte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geringer Lese- und Rechtschreibkompetenz bringt eine Klassifikation der Problematik auf der Basis trennscharfer Begriffe wenig. Im schlimmsten Fall führen sie zu einer undifferenzierten oder sogar stigmatisierenden Betrachtung Betroffener. Hilfreicher sind genaue handlungsrelevante Beschreibungen von Lernausgangslagen, von z. B. Buchstabenverbindungen, Wörtern, Sätzen, Texten, welche die jeweilige Schülerin oder der jeweilige Schüler sicher flüssig lesen und verstehen kann, um zu erkennen, welche Fehler vorkommen, welche Lesestrategien genutzt werden und welche nicht. In Verbindung mit Modellvorstellungen über den Erwerbsprozess von Lesefertigkeit, Leseverständnis und Rechtschreibung sind vor allem präzise beschreibende Angaben entscheidend für eine gelingende Förderung. Diese Überlegungen sind im Hinblick auf die konkrete Arbeit im Einzelfall zutreffend. Hier sind ein differenziertes Sehen und Verstehen der aktuellen Lernausgangslage und der aktuell stattfindenden Lernprozesse entscheidend.

Auf der Ebene der Planung und Gestaltung eines Fördersystems einer Schule oder einer Region sind aussagekräftige Arbeitsbegriffe über Zielgruppen in verschiedener Hinsicht hilfreich:

• Erst mithilfe von klaren Begriffen für Zielgruppen lassen sich Erfahrungswerte über die Häufigkeit von unterschiedlichen Förderbedarfen gewinnen. Angaben zur Häufigkeit unterschiedlicher Förderbedarfe sind wesentliche Planungsgesichtspunkte eines schulweiten, regionalen oder überregionalen Fördersystems. Erst solche Angaben erlauben eine Abschätzung von personellen und damit verbundenen räumlichen und materialbezogenen Voraussetzungen von Förderung.

• Geklärte deskriptive Begriffssysteme erleichtern die Kommunikation in pädagogischen Teams und die Zuordnung von Ressourcen/Personal zu spezifischen Förderangeboten. Innerhalb von Mehrebenenpräventionskonzepten unterstützen klare Zielgruppenbeschreibungen die Zuordnung von Kindern mit Förderbedarf zu Förderebenen und damit die bewusste Arbeitsteilung in pädagogischen Teams. Stehen beispielsweise einer Schule personelle Ressourcen an freiwilligen Helfern (z. B. »Lese-Buddies« oder Hausaufgabenhilfen), Integrationsfachkräften, Lehrerwochenstunden für Förderung oder sonderpädagogische Förderung zur Verfügung, stellt sich die Frage einer passenden Zuordnung von personellen Ressourcen für förderbedürftige Schülerinnen und Schüler. So kann für leseschwache Kinder eine regelmäßige Hausaufgabenhilfe und ein häufiges Üben des Lesens mit einem »Lese-Buddy« ausreichen, für ein Kind mit einer ausgeprägten Lese-Rechtschreibstörung ist hingegen ein individualisierter, durch einen Förderplan unterlegter Förderunterricht einer Lehrkraft mit einer Zusatzqualifikation für LRS-Förderung notwendig.

• Ein Erfahrungswissen über unterschiedliche Zielgruppen innerhalb der Gesamtgruppe von förderbedürftigen Schülerinnen und Schülern beinhaltet Erkenntnisse über die voraussichtliche Dauer der Förderung. Bei der Planung der Förderung ist deren vermutete zeitliche Dauer ein wesentlicher Aspekt, der sowohl die Ressourcenbindung als auch emotional-soziale Aspekte der Förderung berührt. Gerade Kinder mit emotional-sozialen Problemen bedürfen kontinuierlicher vertrauensvoller Beziehungen, um unsichere Bindungsmuster zu überwinden (Julius, 2010). So sollte ein Kind mit einer isolierten Rechtschreibstörung und einem emotional-sozialen Förderbedarf mit einer langfristig zur Verfügung stehenden Lehrperson zusammenarbeiten, während bei einem emotional-sozial stabilen Kind Förderlehrkräfte eher wechseln können.

• Neben Angaben zur Häufigkeit beinhalten Erkenntnisse über Zielgruppen auch Angaben über das gemeinsame Auftreten von Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben als auch im Rechnen, emotional-sozialen Schwierigkeiten sowie Aufmerksamkeits- und Sprachproblemen. Dieses Hintergrundwissen kann bei der Gestaltung eines Fördersystems genutzt werden, indem bspw. als Schwerpunkt einer Fördergruppe eine parallele Unterstützung von Lese- und Rechtschreibkompetenz in Verbindung mit Aufmerksamkeitsförderung konzipiert wird.

Begriffssysteme zur Beschreibung der Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben werden von unterschiedlichen Auffassungen über Erscheinungsbilder und Ursachen sowie Vorstellungen über Diagnostik und Förderung beeinflusst. So weist der Begriff Legasthenie auf ein bio-physisches, medizinisches Ursachenverständnis hin. Begriffe wie Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, -schwäche oder -störung lassen hingegen weitere verursachende Faktoren zu, die durch die Psychologie, Linguistik, Soziologie und Didaktik genauer analysiert werden. Aufgrund der Erkenntnis, dass deutliche Schwierigkeiten im schulischen Lernen multifaktoriell bedingt sind (Hartke & Diehl, 2013, 11 ff; Hattie, 2013; Helmke & Weinert, 1997), insbesondere psychologische und soziale Faktoren beim Erwerb der Schriftsprache eine wesentliche Rolle spielen, findet der Begriff Legasthenie kaum noch Verwendung. Stattdessen finden die Begriffe Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, -schwäche und -störung Anwendung. Zudem wird zwischen isolierten Lese- oder Rechtschreibschwierigkeiten, -schwächen und -störungen sowie kombinierter Störung und Schwäche schulischer Leistungen (auch kombinierte Schulschwierigkeiten, -schwächen, -störungen = gemeinsames Auftreten von Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb und im Rechnen) unterschieden.

Der Begriff Lernschwierigkeiten wird vorwiegend als Sammelbegriff verwendet, der auf das Nichterreichen oder nur sehr knappe Erreichen schulischer Mindestlernziele verweist. Lernschwierigkeiten bzw. Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten können in jeder Klassenstufe und in jeder Schulart auftreten. Die Art und das Ausmaß der mit dem Begriff bezeichneten Problematik müssen daher weiter erläutert werden, durch die Angabe der betroffenen Bereiche, der Klassenstufe und der Schulart, durch eine qualitative Beschreibung der Schwierigkeiten und schließlich durch ein Testergebnis in einem standardisierten und normierten Test.

Von einer Lernschwäche bzw. einer Lese-Rechtschreibschwäche, isolierten Lese- oder Rechtschreibschwäche oder kombinierten Schwäche schulischer Leistungen (ebenfalls schwache Leistungen im Rechnen) wird gesprochen, wenn die jeweilige Schulleistung unterhalb der alters- und klassentypischen Durchschnittsleistung liegt. Es gilt hier das sogenannte einfache Diskrepanzkriterium. Dies gilt als erfüllt, wenn die jeweilige Schulleistung mindestens eine Standardabweichung unterhalb des Mittelwerts eines zuverlässigen und gültigen Schulleistungstests liegt. Operational ausgedrückt bedeutet dies, dass der ermittelte T-Wert kleiner als T=40 und der ermittelte Prozentrang kleiner als 16 (PR < 16) sind.

Die ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert im individuellen Leistungsprofil besonders schwerwiegende Lernschwächen als Lernstörungen (umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, häufig auch als Teilleistungsstörungen bezeichnet), wenn die Leistungen einer Person im Lesen, Rechnen oder im schriftlichen Ausdruck bei individuell durchgeführten Tests unter den Leistungen liegen, die aufgrund der Altersstufe, der Schulbildung und des Intelligenzniveaus zu erwarten wären. Die Lernprobleme sind hierbei so stark ausgeprägt, dass sie die schulischen Leistungen oder die Aktivitäten des täglichen Lebens, bei denen Lese-, Rechen- und Schreibfähigkeiten benötigt werden, deutlich beeinträchtigen. Eine Störung im Bereich der schriftsprachlichen Fähigkeiten wird also dann festgestellt, wenn neben dem ersten Diskrepanzkriterium (siehe oben: Testergebnisse T-Werte < 40 bzw. PR < 16) auch eine zweite Diskrepanz (=doppeltes Diskrepanzkriterium) gegeben ist: Die schwache Schulleistung weicht von der aufgrund des Intelligenzniveaus erwarteten Schulleistung deutlich negativ ab. Diese zweite Diskrepanz wird operational durch den Vergleich des Ergebnisses des jeweiligen Schulleistungstests mit dem Ergebnis des Intelligenztests ermittelt. Zugunsten der Vergleichbarkeit werden beide Testergebnisse in T-Werten dargestellt. Bei einem deutlichen Unterschied ist das zweite Diskrepanzkriterium erfüllt und es wird von einer Lernstörung gesprochen. In der Fachliteratur ist die Höhe der Diskrepanz zwischen dem T-Wert für die Intelligenz und dem T-Wert der Schulleistung allerdings strittig. Die ICD-10 verlangt zwei Standardabweichungen Unterschied, was 20 T-Wert-Punkten Unterschied entspricht. In der Forschung und in der Praxis werden hingegen Diskrepanzen zwischen einer und 1,5-Standardabweichung verwendet (also zwischen 10- und 15-T-Wert-Punkten). Bei der förmlichen Feststellung einer Schulleistungsstörung werden in der Praxis in der Regel mindestens 1,2 Standardabweichungen Diskrepanz verlangt (also mindestens 12 T-Wert-Punkte höhere Intelligenzwerte). Die ICD-10 setzt mindestens einen IQ ≥ 70 für die Diagnose einer Lernstörung voraus, in der Praxis kommt die Diagnose einer Lernstörung bei einem IQ < 85 selten vor.

Bei der Bestimmung einer Störung im schriftsprachlichen Bereich sind mehrere Diagnosen möglich. Man spricht von einer Lese-Rechtschreibstörung, wenn das doppelte Diskrepanzkriterium sowohl im Bereich Lesen als auch Rechtschreibung erfüllt wird oder mindestens in einem der beiden Leistungsbereiche bei gleichzeitig schwachen Leistungen im anderen Bereich. Eine isolierte Lese- oder Rechtschreibstörung wird attestiert, wenn der jeweils besser ausgeprägte Leistungsbereich zumindest im Durchschnittsbereich liegt.

Eine kombinierte Störung schulischer Leistungen liegt vor, wenn das doppelte Diskrepanzkriterium nicht nur im schriftsprachlichen Bereich mindestens einmal erfüllt ist, sondern auch im Rechnen.

Problematisch an der doppelten Diskrepanzdefinition bzw. der damit verbundenen Definition einer Lernstörung ist vor allem, dass Kinder, die deutliche Schwächen im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen und gleichzeitig eine geminderte Intelligenz aufweisen, innerhalb bisheriger Förderstrukturen keine frühzeitige Förderung und keinen Nachteilsausgleich erhalten. Häufig müssen Kinder mit deutlichen Lernschwächen und unterdurchschnittlicher Intelligenz erst einen langen Leidensweg gehen, bevor eine angemessene Förderung für sie einsetzt. Oftmals endet die ausbleibende Förderung mit der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs mit dem Förderschwerpunkt Lernen (s. u.). Problematisch an der an der ICD-10 orientierten Diagnosepraxis von Lernstörungen ist zudem deren »Timing« für betroffene Schülerinnen und Schüler. In der Regel werden z. B. Lese-Rechtschreibstörungen frühestens im zweiten Schuljahr diagnostiziert und eine intensive Förderung beginnt erst mit dem dritten Schuljahr und damit nach aktuellen Erkenntnissen über wirksame Hilfen bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zu spät.

Anders als im englischsprachigen Raum wird im deutschsprachigen neben den Gruppen der Kinder mit Lernstörungen im Sinne der ICD-10 auch eine Gruppe mit umfassenden, schwerwiegenden und langanhaltenden Schulleistungsschwächen und niedrigen Intelligenzwerten (IQ-Wertebereich zwischen 70 und 84) gebildet. Sie wurden im 20. Jahrhundert nach der von ihnen besuchten Schulart als »Hilfsschüler« bezeichnet, ab den 60er Jahren als Lernbehinderte. Gegenwärtig wird die Diagnose Sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Förderschwerpunkt Lernen gestellt. Hierbei werden in der Regel traditionelle Kriterien der Diagnostik einer Lernbehinderung verwendet:

• gravierende Schulleistungsrückstände in Deutsch und Mathematik (Testergebnisse mit einem Prozentrang kleiner als 10) trotz

• einer Klassenwiederholung oder einer Zurückstellung im Schuleingangsbereich,

• ein IQ-Wert zwischen 70 und 84 (=unterdurchschnittlich) sowie

• weitere Entwicklungsauffälligkeiten in Bereichen wie Sprache, Gedächtnis, Motorik oder Arbeits- und Sozialverhalten.

Aufgrund einer entsprechenden Befundlage wird prognostiziert, dass ein erfolgreicher Besuch der Grundschule in sechs Jahren nicht möglich sein wird und der Hauptschulabschluss bzw. die Berufsreife nicht erreicht werden kann. Betroffene Schülerinnen und Schüler werden auf der Grundlage eines sonderpädagogischen Förderplans entweder in der allgemeinen Förderschule oder mit zusätzlichen sonderpädagogischen Förderstunden im gemeinsamen Unterricht gefördert. In der folgenden Abbildung werden die bisher erläuterten Zielgruppen inklusiver Förderung als Untergruppen aller Schülerinnen und Schüler mit Schulschwierigkeiten dargestellt. Die gestrichelten Linien sollen sowohl auf den vorläufigen zeitlichen Charakter aller Diagnosen bzw. Zielgruppenbestimmungen hinweisen als auch auf eine hohe Fehleranfälligkeit der Diagnosen im Einzelfall aufgrund der zu beachtenden Messfehler der gängigen Tests.


Abb. 2: Zum Zusammenhang von Lernschwierigkeiten, Lernschwächen, Lernstörungen und sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen

Inklusionspädagogisch stellt sich die Herausforderung, alle in unterschiedlicher Art und Weise von Lernschwierigkeiten betroffenen Schülerinnen und Schüler optimal zu fördern. Für den Bereich der Lese- und Rechtschreibförderung stimmt der häufig replizierte Forschungsbefund optimistisch, dass sich die Inhalte und Methodik der Lese- und Rechtschreibförderung für Kinder mit Lernschwächen, Lernstörungen und sonderpädagogischem Förderbedarf nicht grundsätzlich unterscheiden. Die Vermittlungs- und Aneignungslogik der Schriftsprache ist trotz unterschiedlicher Diagnosen grundsätzlich gleich. Unterschiede bestehen in der Intensität und Spezifität der notwendigen Förderung. Hierauf kann durch eine Förderung auf mehreren Förderebenen zielführend eingegangen werden. Während auf Lernschwierigkeiten im Unterricht durch Lernhilfen (Förderebene I: zusätzliche Erläuterungen der Lehrkraft, Lehrerhilfe, tutorielles und kooperatives Lernen, Lernzeitverlängerung) eingegangen werden kann, können Kinder mit Lernschwächen von einer systematischen Lernförderung in der Kleingruppe (Förderebene II) profitieren. Kinder mit einer Lernstörung oder einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen erhalten dagegen eine sonderpädagogische Einzelfallhilfe (Förderebene III), ohne dass sie von der Förderung auf den Förderebenen I und II ausgeschlossen werden. Das hier vorgestellte Begriffssystem ordnet dem internationalen Forschungsstand entsprechend Lernstörungen sowie förmlich festgestellten Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen als Arbeitsschwerpunkt der Sonderpädagogik zu, wobei die Förderung aller betroffener Schülerinnen und Schüler eine gemeinsame Aufgabe aller beteiligten Lehrkräfte in einer inklusiven Schule ist.

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