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1.5 Zur Entwicklung der Rechtschreibkompetenz

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»Die ganze Republik leidet an Rechtschreibschwäche…«, berichteten die Stuttgarter Nachrichten am 13.10.2017 und beziehen sich dabei auf die Ergebnisse einer großen Bildungsstudie des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB; Stanath, Schipolowski, Rjosk, Weirich & Haag, 2017). In einer für Deutschland repräsentativen Stichprobe von knapp 30.000 Schülerinnen und Schülern erreichten 22,1 % nicht die Mindeststandards, die an das rechtschriftliche Können von Viertklässlern angelegt werden. Die Analyse der rechtschriftlichen Kompetenzen zeigt, dass bei fast einem Viertel aller Kinder in der 4. Klasse die Laut-Buchstabenzuordnung nur ansatzweise gelingt, die Groß- und Kleinschreibung lediglich bei Substantiven mit gegenständlicher Bedeutung umgesetzt werden kann und Fehlerkorrekturen kaum möglich sind (Stanath et al., 2017). Die Frage, die sich Bildungsministerien, Schulen und Universitäten vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse stellen müssen, ist, wie der Rechtschreibunterricht verbessert werden kann, damit deutlich mehr Kinder davon profitieren. Dass dies keine einfache Aufgabe für die Lehrkräfte ist, zeigen Studien, die sich den Lernvoraussetzungen der Schulanfänger widmen. Die Leistungsdifferenzen können bis zu drei Entwicklungsjahre betragen (Brügelmann, 1984, S. 38), d. h., dass im Anfangsunterricht ein (Lese- und) Schreiblehrgang gewählt werden muss, in dem die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder berücksichtigt werden. Notwendig sind zudem umfassende Kenntnisse darüber, aus welchen Hauptkomponenten Rechtschreibung besteht und wie Kinder Rechtschreibung erwerben. Wie äußern sich besondere Schwierigkeiten im Rechtschreiberwerb und wie lässt sich durch einen präventiv ausgerichteten Unterricht Rechtschreibschwäche verhindern oder zumindest mindern? Bevor die letztgenannten Fragen im vierten Kapitel geklärt bzw. diskutiert werden können, stellt sich die Frage nach dem Rechtschreiberwerb von Kindern.

Nach Lindauer und Schmellentin (2017) sind die drei Hauptkomponenten der Rechtschreibkompetenz die orthografische Verschriftung, die Korrekturkompetenz und das explizite Regelwissen. Die orthografischen Verschriftungskompetenzen umfassen das implizite Rechtschreibwissen und beispielhafte Vorlagen für häufig verwendete Wort- und Satzstrukturen. Die Korrekturkompetenz erfordert eine bestimmte Sensitivität gegenüber fehlerhaften Schreibungen und Strategien zur Korrektur. Die Vermittlung des expliziten Regelwissens stellt einen großen Bereich des Rechtschreibunterrichts während der Primar- und Sekundarstufe I dar. Ziel ist es, dass Kinder eigene und vorgegebene Texte flüssig und korrekt schreiben können. Dazu müssen die notwendigen Grundlagen, u. a. Rechtschreibregeln, didaktisch aufbereitet und vermittelt werden. »Regelwissen umfasst neben dem Verstehen der (fürs Lernalter relevanten) Rechtschreibregeln ein Verständnis für die sprachsystematischen Konzepte, die der Regel zugrunde liegen …« (Lindauer & Schmellentin, 2017, 27).

Die Abfolge des Erwerbs dieses expliziten Regelwissens lässt sich in Stufenmodelle vermittlungs- und entwicklungslogisch grob einordnen. Als klassisches Beispiel für eine Vielzahl der in den 1980er Jahren entstandenen Stufenmodelle sind das Entwicklungsmodell zum Erwerb des Lesens und Schreibens von Uta Frith (1986) und die Erweiterung dieses Modells durch Klaus B. Günther (1986) anzusehen. Das Modell von Frith stellt im angloamerikanischen Bereich eines der einflussreichsten und empirisch am besten abgeklärten Modelle dar (Bryant & Bradley, 1980) und hat auch im deutschsprachigen Raum weite Verbreitung gefunden. Es beschränkte sich zunächst auf die Erklärung des Leseerwerbs und enthielt drei aufeinander aufbauende Stufen: die logographemische Stufe, die alphabetische Stufe und die orthografische Stufe (Rezeption: Lesen). Um ihr Modell durch die Prozesse des Rechtschreiberwerbs zu erweitern, fügte Frith drei parallele Stufen hinzu (Produktion: Schreiben) (Frith, 1986). Dabei werden das Lesen und das Schreiben als zwei miteinander in Verbindung stehende und sich gegenseitig beeinflussende Modalitäten gesehen ( Tab. 1).

Dass der Schriftspracherwerb bereits sehr früh beginnt, wird durch die Berücksichtigung der präliteral-symbolischen Phase deutlich, die Kinder im Alter zwischen zwei bis vier Jahren erreichen (Wygotski, 1974). Durch das Ansehen von Bilderbüchern und das Entschlüsseln von Bildern als symbolische Zeichen eines Gegenstandes oder einer Situation entwickelt sich das Abstraktionsvermögen für visuelle Objekte. Dazu gehört auch das Malen von Bildern, das sowohl für die späteren graphomotorischen Fähigkeiten als auch für das Kritzeln bedeutsam ist. Das Kind orientiert sich dabei am Verhalten der Erwachsenen oder älterer Kinder und erhält so erste Einsichten in die Schrift. Während der logographemischen Phase nähert sich das Kind der Schrift in Form einer Bilderschrift. Es erkennt, dass Buchstaben etwas mit Sprache zu tun haben. Kinder beginnen bereits sehr früh Embleme (McDonald’s-Zeichen) und Schriftzeichen (eigener Name) zu deuten (Stufe 1a). Auf der Grundlage einer rein visuellen Strategie werden Wörter identifiziert, indem sich an den hervorstechenden bildlichen Merkmalen orientiert wird (z. B. Wortlänge oder besondere Buchstabenform). Am emotional bedeutsamsten und daher auch oft in dieser Phase zu beobachten, ist das Aufmalen des eigenen Namens oder anderer wichtiger Personen (Mama, Oma, Papa) (Stufe 1b). Vereinzelt versuchen sie bereits in dieser Phase, bestimmte Wörter zu schreiben, jedoch noch ohne Einsicht in die Phonem-Graphem-Korrespondenz. Schmid-Barkow (1999) setzt das Alter der Kinder für diese Stufe von der frühen Vorschulzeit bis in die Schulanfangszeit. Eine Einschränkung hinsichtlich der Bedeutung der logographemischen Phase ist bei deutschsprachigen Kindern vorzunehmen. In einem Anfangsunterricht, in dem die Phonem-Graphem-Korrespondenz kleinschrittig, aber konsequent betrieben wird, erlernen die Kinder bereits nach wenigen Wochen das phonologische Rekodieren, sodass von einem »globalen« Erkennen, wie es die logographemische Phase beschreibt, nicht mehr ausgegangen werden kann. Die Forschungsgruppe um Klicpera (Gasteiger-Klicpera & Klicpera, 2005; Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera, 2003) nimmt daher für deutschsprachige Schulanfänger einen viel früheren Eintritt in die im Folgenden beschriebene alphabetische Phase an, als für englischsprachige Kinder vermutet ( Kap. 1.3). Inwieweit frühe logographemische Kenntnisse für den direkten Leseweg ( Kap. 1.3) und die Rechtschreibung des Deutschen bedeutsam sind, ist gegenwärtig wissenschaftlich noch nicht geklärt. Die Bedeutung eines möglichst frühen ganzheitlichen Erkennens von Wortteilen und Wörtern für ein flüssiges Lesen ist hingegen unumstritten.

In der alphabetischen Phase erkennen die Kinder, dass zwischen Lauten und Buchstaben ein Bezug besteht, in dem sich bestimmte Phoneme durch feststehende Grapheme abbilden lassen (Stufe 2a). Diese Phase lässt sich in mehrere Unterphasen gliedern. Zunächst gelingt es den Kindern nur unvollkommen, einzelne Laute aus dem Sprachfluss herauszuhören und darzustellen. Es werden lediglich prägnante Merkmale eines Wortes abgebildet, wie beispielsweise der Anlaut und der Hauptvokal in einer Silbe. Mit zunehmender Vermittlung der Phonem-Graphem-Korrespondenzen und Erfahrungen in der Lautdurchgliederung treten die Kinder in das Stadium phonemischer Verschriftlichung ein (Stufe 2b). Nach Studien von Klicpera et al. (2003) lassen sich nach einer präalphabetischen Phase die alphabetische Phase mit geringer Integration, danach die eigentliche alphabetische Phase und die alphabetische Phase mit voller Integration unterscheiden. Die Schreibungen sind rein lautgetreu und können dialektale Besonderheiten widerspiegeln.

Die orthografische Phase ist durch den Eintritt der Erkenntnis, dass beim Schreiben orthografische Regeln beachtet werden müssen, gekennzeichnet (Stufen 3a und b). Zu orthografisch korrekten Schreibungen führen u. a. das Einsetzen der Morphemkonstanz (3b) und der Erwerb phonologischer, morphematischer und orthografischer Strategien. Eine kompetenzorientierte Ausdifferenzierung dieser Phase wird im »Kompetenzmodell Rechtschreibung« (Reber & Kirch, 2013) dargestellt, das den Angaben in der in Kapitel 4 befindlichen Tabelle 5 zugrunde liegt. Abgeschlossen wird das Modell durch die integrativ-automatisierte Phase, die nicht als eine neue Strategie beim Lese-Rechtschreiberwerb angesehen werden soll, sondern als hochkomplexe Fähigkeit des lese-rechtschreibkompetenten Menschen nach dem erfolgreichen Absolvieren der vorangehenden Phasen (Günther, 1986).

Tab. 1: Das Sechsstufenmodell von Frith (Frith, 1986, 225) mit Erweiterung (kursiv) von Günther (Günther, 1989, 15).


Rezeption: LesenProduktion: Schreiben

Ein deutlicher Kritikpunkt an den Stufenmodellen ist, dass wichtige Vorbedingungen für das Lesen- und Schreibenlernen, wie Erfahrungen mit Literacy und der Erwerb metaphonologischer Fähigkeiten, nicht explizit berücksichtigt werden.

Neben den Stufenmodellen gibt es weitere Modellvorstellungen, die den Erwerb des Schreibens erklären. So lassen sich Dual-Route-Modelle, Netzwerkmodelle (Reber, 2009) und die Einteilung in hierarchieniedere und hierarchiehöhere Schreibprozesse (Lindauer & Schmellentin, 2017; Sturm, Nänny & Wyss, 2017) unterscheiden. Dabei werden die basalen, hierarchieniederen Schreibfähigkeiten als mehrdimensionale Konstrukte verstanden. Diese verbinden die beiden Komponenten Formulieren und Transkription mit Prozessen der Automatisierung und des flüssigen Abrufens von sprachlichem Wissen. Automatisiert werden können lediglich die hierarchieniederen Prozesse, da die höheren Fähigkeiten der bewussten Reflexion zugänglich bleiben müssen. Sobald rechtschreibliche Prozesse automatisiert sind, belasten sie kognitive Systeme nur gering und werden auch nicht von anderen Prozessen beeinflusst oder unterbrochen (Sturm et al., 2017).

Innerhalb der Rechtschreibdidaktik herrscht keine Einigkeit darüber, wie Rechtschreibregeln am besten zu vermitteln sind oder auf welchen sprachlichen Analysen eine didaktisch gelingende Vermittlung aufbaut, jedoch wird allgemein akzeptiert, dass Rechtschreibunterricht auf der Grundlage des Sprachsystems und der Grammatik konzipiert werden sollte (Lindauer & Schmellentin, 2017). Interessante Erkenntnisse aus der Schriftspracherwerbsforschung zeigen, dass sich die Vorläuferfähigkeiten zwischen dem Lese- und dem Rechtschreiberwerb unterscheiden. So wiesen Wimmer und Kronbichler (2002) nach, dass Kinder mit isolierter Leseschwäche v. a. Probleme im schnellen Benennen von Zeichen (automatisierter Abruf bekannter Symbole und Grapheme) haben, aber keine Probleme in der phonologischen Sensitivität (Sensibilität für Sprachstrukturen wie Prosodie, Satzmuster usw.). Schülerinnen und Schüler mit isolierter Rechtschreibschwäche zeigen dagegen Schwächen in der phonologischen Bewusstheit und keine Auffälligkeiten im schnellen Benennen. Die Schülergruppen mit (späteren) isolierten Schwächen in der Rechtschreibung oder im Lesen unterscheiden sich somit bereits zu Schulbeginn bezüglich spezifischer Vorläuferfähigkeiten. Diese Erkenntnisse sollten in aktualisierten Modellvorstellungen zum Schriftspracherwerb eine Rolle spielen.

Aus den Modellen zum Schriftspracherwerb lässt sich erkennen, dass Rechtschreibung nicht isoliert vom Leseprozess erworben wird, sondern sich beides gegenseitig beeinflusst. Dieser Einfluss sollte jedoch nicht überschätzt werden, da es eine Reihe von Kindern gibt, die in einer, aber nicht in beiden Modalitäten Probleme aufweisen. Weiterhin wird deutlich, dass die Rechtschreibung eine Kompetenz ist, die sich in aufeinander aufbauenden Phasen stetig weiterentwickelt. Die Dauer einer Phase kann von Kind zu Kind unterschiedlich sein und lässt sich bei vielen Kindern nicht eindeutig den Zeitvorgaben der Rahmenrichtlinien Deutsch (Kultusministerkonferenz (KMK), 2004) zuordnen.

Inklusionsorientierter Deutschunterricht

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