Читать книгу Der Kampf der Balinen - Kathrin-Silvia Kunze - Страница 13
11. Kapitel
ОглавлениеSeline befand sich im Ratsgebäude von Melan. Denn dort, in jenem großen Saal, der auch Hort zur Wahrung des Friedens genannt wurde, fand nun soeben ein Einführungsritus statt. Der Einweihungsritus, bei dem ein Heranwachsender die von ihm ausgewählte Lebensaufgabe kundtat, war ein wichtiger Bestandteil im Leben der Balinen. Er diente dazu, die Gemeinschaft zu festigen und den Jungen Halt und Hilfe durch die Alten zu gewähren. Und eben weil er so wichtig war, hatte immer ein Mitglied des Rates diesen Ritus durchzuführen. Heute oblag diese Aufgabe der erwählten Empathin von Melan. Eingedenk dieser großen Ehre, war Seline etwas nervös. Aber sie versuchte, sich das auf gar keinen Fall anmerken zu lassen. Denn ein Blick auf den heute vorsprechenden jungen Mann zeigte ihr, dass seine Aufregung bei weitem größer war. Seine großen braunen Augen leuchteten fast fiebrig. Sein dicker brauner, langer Zopf drohte bereits sich aufzulösen, weil er den Kopf nicht stillhalten konnte und unwillkürlich mal hierhin und mal dorthin blickte. Ganz so, als würde er nach einer Möglichkeit zur Flucht suchen. Dieser Anblick flutete Selines Herz mit tiefer Zuneigung. Und so riss sie sich zusammen und nahm sich vor, besonders viel Ruhe und Würde auszustrahlen. Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, das ihre Schönheit mehr noch betonte, als das hellblaue Kleid, das sie trug, sprach Seline die uralten, rituellen Worte. „Wer ist es, der heute seine Lebensaufgabe vor dem Volk kundtun will?“ Einen kurzen, Augenblick zuckte der Junge erschrocken zusammen. Dann jedoch trat er tapfer einen Schritt vor und rief laut, womöglich etwas zu laut, die rituelle Antwort. „Ich, Falronn, vom Volk der Balinen, Bewohner des Gebietes CumMelan und Einwohner der Stadt Melan. Seline lächelte ihn strahlend an und blickte ihm fest in die Augen. Und wie durch unsichtbare Hand beruhigte sich Falronn endlich und beschloss auf einmal, den Rest der Zeremonie einfach zu genießen. „Nun, Falronn, wer wird heute hier für dich eintreten?“, fragte Seline weiter. Das bin ich, rief ein alter Mann mit dichtem, kurzen blonden Haar, in dem man die weißen Strähnen nur erahnen konnte und Augen, die von der gleichen Farbe waren wie Selines Kleid. Er trat hinter Falronn und sprach ruhig und volltönend. „Mein Name ist Keel!“ „Du bist der Lehrmeister des Jungen?“, fragte Seline dem Ritual entsprechend. „Ja das bin ich!“, antwortete Keel und lächelte selbstbewusst, wobei sich die vielen Falten in seinem Gesicht noch vertieften und ihm ein weises und Respekt einflößendes Aussehen verliehen. Seline erfühlte eine starke geistige Präsenz bei diesem Mann und nickte zufrieden. Und an Falronn gewandt fuhr sie mit den rituellen Worten fort. „Das Finden der Lebensaufgabe ist ein geheimnisvoller, intuitiver Vorgang. Indem man seine eigenen Fähigkeiten bemisst und mit seinen Wünschen vergleicht, zeigt sich einem was man tun möchte und auch tun kann. Nur durch diese Ehrlichkeit sich selbst gegenüber findet man eine Lebensaufgabe, die auch zur Freude gereicht. Um einen Platz zu füllen, der vorher leer war und den man auszufüllen vermag. Als wertvoller Teil der Gemeinschaft.“ Falronns Eltern, die etwas abseits standen und alles gespannt mitverfolgten, lächelten einander bei diesen Worten glücklich an. Auf ihren strahlenden Gesichtern konnte man sehen, wie stolz sie auf ihren Sohn waren. „Und so frage ich dich, Falronn.“, erhob Seline nun feierlich ihre Stimme. „Gelobst du deine Lebensaufgabe nach bestem Wissen und Gewissen vor dir selbst gewählt zu haben?“ „Das gelobe ich!“, antwortete der Junge schnell und ohne Zögern. „Und gelobst du mit all deinen Fähigkeiten auch denen in der Gemeinschaft zur Seite zu stehen, die Hilfe brauchen?“, fuhr Seline fort. „Das gelobe ich!“, antwortete Falronn mit einem Tonfall tiefster Überzeugung. Seline lächelte, zufrieden mit dieser ehrlichen Antwort und stellte dann die wichtigste Frage innerhalb des Ritus. „Welche Aufgabe innerhalb des Volkes hast du dir also erwählt?“ „Ich möchte ein Gesteinsformer werden!“, antwortete Falronn voller Freude. Seline nickte. So etwas Feinsinniges hatte sie von dem eher scheuen Jungen auch schon erwartet. Deshalb fragte sie nun, ganz so wie es Brauch war: „Was hat dein Lehrmeister dazu zu sagen?“ Keel trat neben Falronn und sprach ruhig und bedächtig. „Falronn hat die notwendigen Fähigkeiten zur Gesteinsformung. Aber mehr noch als das, hat er eine natürliche Begabung dafür. Es ist mir eine Freude, mein Wissen an den Jungen weiterzugeben.“ Gerührt sah Seline, wie Falronns Vater der Mutter ein kleines weißes Baumwolltuch reichte, mit dem diese sich dann die Augenwinkel betupfte. Schließlich nickte Seline und beglaubigte die Wahl dieser Lebensaufgabe mit den seit jeher üblichen, schlichten Worten: „Dann soll es so sein!“ Falronn strahlte bei ihren Worten über das ganze Gesicht. Und sein Lehrmeister Keel klopfte ihm auf die Schulter. „Doch bevor du nun deine Lebensaufgabe antrittst, wirst du mir heute hier deine Fähigkeiten unter Beweis stellen!“, kam Seline nun zum letzten Teil des Rituals. Der Junge nickte, als Zeichen seines Einverständnisses. Denn so war es bei jedem Einführungsritus üblich. Falronn trat an einen Holztisch, der dafür schon vor Beginn der Zeremonie von ihm und Keel vorbereitet worden war. Auf dem Tisch lag ein dicker Klumpen feuchter, glänzender, fettiger Gesteinsmasse. Daneben stand eine einfache Schale mit klarem Wasser. Abgesehen davon, war der Tisch völlig leer. Alle Anwesenden scharrten sich nun um Falronn und sahen dabei zu, wie er die Gesteinsmasse zu formen begann. Der Junge tauchte seine Hände immer wieder in die Wasserschale, um dann sofort mit schnellen, geschickten Handbewegungen über den zähen Gesteinsklumpen zu streichen. Während er mit feuchten Handflächen hier ein wenig knetete, dort etwas glättete und mit seinen scharfen Fingernägeln von unten nach oben dicke Rillen in die zähe Masse trieb, nahm das Gebilde langsam Gestalt an. Vor Selines erstauntem Blick kam eine Landschaft zum Vorschein mit Wäldern und Feldern. Eigentliche war es nur eine Ansammlung vieler, verschieden großer Wülste oder unterschiedlich tiefer Rillen. Und doch musste man beim Betrachten an eine Landschaft denken. Mehr noch, man wurde förmlich in den Anblick hineingezogen. Denn die Landschaft war wild. Die geneigten Bögen im Gesteinsklumpen verliefen in Gruppen und waren mal nach links und mal nach rechts geneigt. Seline konnte förmlich hören, wie die Bäume in dieser Landschaft ächzten und stöhnten und sich so wie das hohe Gras der Kraft des Windes beugten. Denn von oben, vom Gesteinshimmel, drückten breite Wülste und tiefe Rillen, gnadenlos herab. „Ich nenne es Gewittersturm!“, erklang plötzlich die Stimme von Falronn. Seline blinzelte und blickte sich, wie aus einem Traum erwacht, um. Alle Anwesenden hatten bis jetzt schweigsam auf das Werk des Jungen gestarrt. Sie selbst erstaunt, die Eltern voller Stolz und Keel mit tiefer, zufriedener Gelassenheit. „Ganz wundervoll!“, entfuhr es Seline aus tiefstem Herzen. Falronn strahlte und konnte vor Glück nicht sprechen. Und unwillkürlich, weil sie nicht an sich halten konnte, berührte Seline den Gesteinsklotz sanft mit ihrer Hand. Ein Teil von ihr erwartete beinahe, Sturmwind und Regen auf der Haut zu fühlen. „Vorsicht!“, rief Falronn und Seline zuckte zusammen. „Er ist noch nicht im Ofen gebrannt und deshalb feucht! Nicht das ihr euer schönes Kleid damit beschmutzt!“ Doch es war schon zu spät. Von Falronns Ruf aufgeschreckt, hatte Seline die Hand schnell zurückgezogen und wie ein ertapptes Kind an ihre Wange geführt. Und so prangte nun in ihrem Gesicht ein graubrauner Flecken Erde. Oh weh, klagte Seline, die diese Zeremonie ja eigentlich besonders würdevoll hatte abhalten wollen. Doch alle Umstehenden lachten und so war die Stimmung nun zumindest gelöst und fröhlich. „Wenn er euch gefällt“, hörte man Falronn plötzlich zaghaft und verlegen zu Seline sagen, „dann möchte ich euch den Gewittersturm gerne schenken!“ „Oh, wirklich?“, fragte Seline freudig überrascht und erklärte: „Ich finde ihn ganz außergewöhnlich!“ Falronn blickte nun vollkommen verlegen zu Boden. Aber seine Eltern und Keel lächelten verzückt. In diesem Moment jedoch klopfte es leider an der schweren Saaltür. Und kurz darauf betrat eine junge Frau den Raum, der es augenscheinlich sehr unangenehm war, stören zu müssen. Entschuldigungen murmelnd eilte sie mit lautlos federnden Schritten auf die erstaunt dreinblickenden Anwesenden zu. Ihre roten Augen blickten nervös und ihre langen, dichten braunen Locken, wippten auf und ab. „Falenna?“, rief Seline bei ihrem Anblick, runzelte verwundert die Stirn und trat einige Schritte von den anderen weg. Falenna war eine Anwärterin auf die Ratsmitgliedschaft und kannte die hiesigen Gepflogenheiten doch eigentlich genau. „Verzeiht die Störung erwählte Empathin!“, hauchte die junge Frau mit ihrer lieblich sanften Stimme. Seline neigte sich ihr zu, als Falenna begann, ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Neugierig schauten die anderen den beiden zu, wie sie dort geheimnisvoll die Köpfe zusammensteckten. „Ein Bote ist soeben eingetroffen. Er wünscht euch zu sprechen.“ „Jetzt?“, fragte Seline unsicher. „Ich habe den Einführungsritus noch nicht beendet.“ Seline blickte sich kurz nach hinten um und warf den Wartenden ein entschuldigendes Lächeln zu. Und wieder an Falenna gewandt fragte sie: „Ist Trahil denn nicht zugegen?“ „Der Bote kommt von sehr weit her und sagt es sei eine Angelegenheit von aller höchster Dringlichkeit. Deshalb bat er darum, das höchste Mitglied des Rates sprechen zu dürfen.“ Falenna untermalte ihren bittenden Tonfall noch mit einem flehenden Blick aus ihren großen, feurig roten Augen, die sowieso schon immer so wirkten, als wäre da eine versteckte reine Träne, in ihrem Augenwinkel. Seline wollte dennoch in dieser Sache hart bleiben. Einen ganz kurzen Augenblick konnte dieser Bote doch bestimmt noch warten. Allerdings war auch Falenna eine Empathin und gut darin Stimmungen und Gefühle zu erkennen. Deshalb half sie ihrer Bitte noch ein wenig nach, indem sie sagte: „Und bedenkt, das wir jedem Fremden unsere Ehre erweisen müssen, vor allem dann, wenn er uns um Hilfe ersucht!“ Seline seufzte ergeben. Ehrlich gesagt, konnte sie sich auch nicht daran erinnern, in irgendeinem dieser Gespräche, die sie mit Falenna geführt hatte, schon einmal gewonnen zu haben. Seline fragte sich langsam, ob das junge Mädchen nun so klug, oder aber so einfühlsam war. Oder waren es am Ende doch nur diese Augen? Also seufzte sie ergeben und sprach: „Gut. Geleite ihn in einen der Nebenräume. Ich komme dann sofort nach!“ Falenna nickte eifrig, verneigte sich dann noch einmal entschuldigend in Richtung der Wartenden und verließ so leise und rasch wie sie gekommen war, den Saal. Nachdenklich blickte Seline der jungen Frau noch einen Augenblick nach und strich sich mit der rechten Hand eine Haarsträhne aus der Stirn. Dabei vergaß sie aber völlig, dass ihr an dieser Hand noch etwas Erde klebte. Die Handfläche zumindest war danach nun wieder sauber. Aber dafür zierte nun ein graubrauner Streifen Erde ihre helle Stirn. Seline wandte sich wieder den Anwesenden zu und sprach: „Ich bitte euch um Verzeihung für diese unübliche Störung!“ Und sie schloss die Zeremonie nun mit den uralten Worten: „Der Einführungsritus ist hiermit vollzogen. Das Volk der Balinen begrüßt seinen neuen Gesteinsformer und wünscht ihm Geschick und Glück wohin auch immer seine Schritte ihn leiten mögen!“ Falronn lächelte und verneigte sich dankbar. „Wenn ihr mich nun leider bitte entschuldigen würdet?“, fragte Seline so ruhig und zuvorkommend wie möglich. „Ich muss kurz eine dringende Angelegenheit klären und komme sofort zurück!“ Ohne wirklich eine Antwort abzuwarten, eilte Seline verlegen davon. Dabei war es bis hierher eine so schöne Zeremonie gewesen, dachte sie ärgerlich. Doch ihre Sorge deswegen war hier unbegründet. Denn noch während sie den Saal verließ, nutzten Falronn, seine Eltern und der alte Keel die Gunst des Augenblicks, um sich glücklich zu umarmen. Und die Zeit wurde ihnen nicht lang. Denn sie betrachteten, besprachen und bestaunten den Gewittersturm.