Читать книгу Der Kampf der Balinen - Kathrin-Silvia Kunze - Страница 22
20. Kapitel
ОглавлениеStille lag über dem Vorplatz. Eine angenehme, wohlige Stille. Wie das gemächliche, behäbige Vorsichhinträumen eines jungen Samenkorns, das noch in der Erde ruht und darauf wartet, endlich zu erwachen. Die Sonne glitt lautlos über das endlose Blau. Noch befand sie sich auf ihrem flachen, kurzen Frühlingsweg über den Himmel und hatte dabei schon fast wieder ihren Höchststand für den Tag erreicht. Kleine weiße, bauschige Wolken mit rundlich dicken Bäuchen zogen träge an ihr vorbei. Sie warfen vereinzelte Schattenflecken auf die fettig grünen Wiesen. Obschon noch früh im Jahr, so glänzte die Grasebene vor Melan doch schon jetzt in ihrer voller Kraft, wenn der Wind durch sie hindurch strich und die dicken Grashalme sich taumelnd vor ihm verneigten. Und mit ihren weichen, haarbeflaumten, dicklippigen Mäulern zupften und knabberten die Limtaane genüsslich schmatzend das üppige Grün, während sie warteten. Als jedoch die ersten Boten begannen ihrer Limtaane zu besteigen, wich die entspannte Ruhe schnell einer rege zunehmenden Geschäftigkeit. Hier und dort wurden letzte Gepäckstücke verstaut und der Proviantbeutel zu oberst sicher befestigt. Reisewege wurden noch einmal besprochen und viele Segenswünsche für ein gutes Gelingen getauscht. Die ersten Boten waren schon zum Aufbruch bereit und warteten geduldig, während andere noch von Familie oder Freunden Abschied nahmen. Auch Trismon saß schon auf Neminns Rücken und wartete darauf, dass es endlich losging. Dabei beobachtete er seine neue Freundin Gleah, die Gebietserkundermeisterin von Melan, wie sie einen kleinen Jungen zu sich auf ihren Limtaan hob. Sie küsste ihn und zerzauste mit der Hand lachend sein kurzes, nachtschwarzes Haar. Dann reichte sie den Jungen wieder hinab an den großen, schweigsamen Mann, der neben ihrem Limtaan stand. Dieser stellte das Kind vorsichtig zurück auf den Boden und ergriff dann Gleahs Hand, die sie ihm entgegengestreckt hatte. „Hier, für dich!“ Trismon zuckte leicht zusammen, als er aus seinen Gedanken gerissen wurde. Neben ihm stand ein kleiner Junge mit nussbraunem langem Haar und sah aus leuchtend grünen Augen, den Kopf angestrengt reckend, zu ihm auf. Er hielt Trismon mit seinem kleinen ausgestreckten Arm eine Blume entgegen, so hoch wie er es eben vermochte. Aber da Neminn selbst für einen Limtaan sehr groß war, musste Trismon sich sehr weit nach unten beugen, um zu verhindern, dass der kleine Junge auf seinen wackeligen Beinchen nicht das Gleichgewicht verlor. Doch schließlich schaffte er es, die schlichte, kleine Blume mit den vielen kleinen blauen, in sich gedrehten Blütenblättern, zu ergreifen, wobei sie dabei vollständig in seiner großen Hand verschwand. Einige der Umstehenden lachten, als sie das beobachteten. Der kleine Junge jedoch strahlte vor Freude, mit der Sonne am Himmel um die Wette! Dann jedoch wurde das Kind plötzlich verlegen, drehte sich um und wollte schnell davonrennen. Dabei stieß es jedoch mit seiner Mutter zusammen, die es schon gesucht hatte. „Nicht so stürmisch, Zylan!“, ermahnte die junge Frau ihren Sohn. „Und überhaupt, hatte ich dir nicht gesagt, du sollst hier nicht zwischen all den großen Tieren umherlaufen?“, fragte sie ihn vorwurfsvoll, während sie sich zu ihm hinabkniete und ihn kurz an sich drückte. Dann erhob sie ihren Blick und sah zu Trismon auf. Sie hat dieselben leuchtend grünen Augen, wie ihr Sohn, dachte Trismon. Und dann hörte er sie sagen: „Wir alle wünschen dir eine gesegnete Reise, Fremder. Mögest du wohlbehalten deinen Weg zu uns zurück vollenden!“ Darauf war Trismon nicht gefasst gewesen. Und da er nicht wusste was er antworten sollte, nickte er ihr nur einmal kurz zu. Doch die Frau war es zufrieden und lächelte. Dann richtete sie sich auf und zog beim Gehen ihren quengelnden Sohn hinter sich her. Trismon sah ihr nach. Dabei bemerkte er erst, dass nun viele der Umstehenden ihn neugierig anstarrten. Das war ihm nun erst recht unangenehm. Sogar Neminn merkte das schon und fing an unruhig hin und her zu tänzeln, so dass Trismon ihn mit sanftem Zuruf beruhigen musste. Was geht hier vor, fragte er sich, während er in die Gesichter ringsumher blickte. Da fielen ihm wieder die Worte Gleahs ein: „Der Überbringer der Kunde, so nennen sie ihn in Melan.“ Das sehen sie nun in mir, dachte Trismon verächtlich, weiter darum bemüht, Neminn ruhig zu halten. Nur weil durch Zufall ich es war, der ihnen vom Fund in meiner Heimat berichtet hat? Dabei wünschte ich, wir hätten dort niemals angefangen zu graben. Niemand wäre glücklicher als ich, läge das schändliche Etwas noch unter der Erde. Jeglichem Blick verborgen und für alle Zeiten begraben. Denn was, wenn am Ende ich es war, der das Unheil über uns alle gebracht hat? Trismon biss die Zähne so stark zusammen, das es unschön knirschte. Denn hier, unter diesen freundlichen und bewundernden Blicken, zwang er sich zum ersten Mal die Erinnerung darüber auf, wie damals überhaupt erst alles gekommen war. Niemand in NordcumMelan hatte ihn jemals darauf angesprochen. Niemand wusste es auch wirklich, außer seinem Bruder. Aber es war Trismon gewesen, der plötzlich unbedingt darauf beharrt hatte, eine weitere Vorratshöhle in den Boden zu treiben! Und er selbst war es gewesen, der die Stelle dafür ausgewählt hatte! Das war zuviel. Die Erinnerung flutete Trismon mit Gram und Neminn reagierte sofort darauf und stieg! Nur mit Mühe und Not konnte Trismon ihn durch festen Griff ins Nackenfell und starken Schenkeldruck dazu bewegen, wieder still zu stehen. Gleichzeitig war Trismon dem Limtaan aber unendlich dankbar dafür, vor seiner schlimmsten aller Erinnerungen gerettet worden zu sein. Was hatte er ihnen allen damit bloß angetan? Aber nun endlich hatte Trismon sich seine volle Schuld eingestanden und er war bereit, sie zu tragen! Er sah wieder zu den Umstehenden hinüber und war schon kurz davor sie alle um Vergebung zu bitten. Doch in ihren Blicken konnte er es lesen! Sie waren ihm dankbar! Und selbst wenn er ihnen von den Schrecken erzählen würde, sie wären es noch immer. Trismon hatte es nun erkannt. Sie fühlten sich von diesem Unbekannten angezogen. Mehr noch, sie empfanden eine unerklärliche Verbindung. Man kann förmlich in der Luft danach greifen, dachte Trismon verwundert. Sie warten! Ja wirklich, fast so, als hätten sie bisher nicht gewusst, dass sie schon immer darauf gewartet haben. Gewartet auf Antworten. Zu drängenden Fragen, die sie sich bis heute noch nicht einmal gestellt hatten. Nun, dachte Trismon verärgert. Offenbar war er wirklich der Einzige des Volkes, der nicht voller Vorfreude war. Doch sei es drum, schwor er sich trotzig. Er würde aufpassen! Ja, das würde er. Und selbst wenn das gesamte Volk in einen Freudentaumel verfallen sollte. Seine Wachsamkeit würde nicht einen Augenblick nachlassen! Denn er war gegen dieses Etwas. Und das nicht nur, weil es seine Gefährlichkeit schon zu genüge bewiesen hatte. Alles war gut so, wie es bis jetzt war. Und so sollte es auch bleiben. Also weg mit dieser Entdeckung. Wenn es nach ihm ging, Erde drüber und noch Steine oben auf. Und ausgerechnet ihm huldigte man noch deswegen. Das ist wirklich zum aus der Haut fahren, dachte Trismon. Und weil er keine Lust mehr hatte sich länger darüber zu ärgern, fing er einfach an zu lachen. „Schön, dass du so guter Laune bist!“, hörte er plötzlich eine Frauenstimme. Er blickte auf und sah Gleah, die auf ihn zugeritten kam. „Kannst wohl auch kaum noch erwarten, dass es endlich losgeht.“, grinste sie ihn wieder auf ihre herausfordernde Art an. Trismon schüttelte lächelnd den Kopf, ob dieser unglaublichen Zusammenballung von Missverständnissen und dachte nur, ich gebe mich geschlagen, Schicksal. Wenn es dir beliebt, so stelle mich ruhig als Fürsprecher dieser ganzen Sache hin. Nur, um mir damit meine Schuld noch ärger bewusst zu machen! Gleah wertete diese Geste jedoch als Zustimmung und antwortete deshalb: „Dann komm mit mir! Du wirst neben mir an der Spitze reiten.“ Und tatsächlich. Kaum hatte Trismon seinen Limtaan neben den von Gleah gelenkt, da sah er auch schon, wie andere Boten sich hinter ihnen einreihten. Gleah ritt in Schritttempo an und Trismon folgte an ihrer Seite. Immer mehr Boten schlossen von allen Seiten zu ihnen auf. Trismon sah, dass vor ihnen in einiger Entfernung ein hoher Sockel aus Holz aufgebaut worden war. Und er konnte erkennen, dass daneben die Mitglieder des Rates standen. Plötzlich hob Gleah neben ihm die Hand und auf dieses Zeichen hin, verhielten alle Boten in ihrem Ritt. Trismon tat es ihnen gleich und fragte sich, was nun wohl folgen würde. Derweil stand Seline bei den Ratsleuten und wartete. Denn noch hatte die Sonne ihren höchsten Platz am Himmel nicht eingenommen. Dies galt den Balinen jedoch als ein Zeichen des Glücks. Halfen die hellen, lichten Strahlen der Sonne doch, den Geist zu klären, was wiederum eine Vorraussetzung war für jegliches gute Gelingen. Als Seline die Gruppe der Boten heranreiten sah, war sie zunächst irritiert. Der Mann aus dem Norden war unter ihnen? Wie kann das sein, fragte sie sich. Wollte er womöglich zurück in seine Heimat, um dort nach dem Rechten zu sehen? Seline hatte die tiefe Besorgnis um seine Ansiedlung wohl gespürt. Aber er muss doch vor der Allversammlung sprechen, dachte sie erschrocken. Trahil jedoch deutete Selines Erstaunen richtig und erklärte ihr Trismons Vorhaben. Auch wenn er nun als Bote reite, so würde er sich rechtzeitig zur Allversammlung wieder in Melan einfinden. Den Einwand Selines, dass es töricht sei sich vorher noch in Gefahr zu begeben und im Ernstfall ein Scheitern der Versammlung herbei zu führen, konnte Trahil jedoch nicht widerlegen. Er konnte nur kleinlaut anmerken, dass man einem Gast solchen Herzenswunsch nur schwerlich verweigern könne. Selines abschätziger, vielsagender Blick auf diese Antwort hin, brachte ihn jedoch vollends zum Verstummen. Er wusste ja selbst, dass er Trismon dringend davon hätte abraten müssen. Aber er hatte den jungen Mann vom ersten Moment an ins Herz geschlossen, gleich einem Sohn. Du kinderloser, alter Narr, lachte Trahil im Stillen über sich selbst. Und instinktiv spürte er, dass er seine väterlichen Gefühle für Trismon vor Seline besser verborgen hielt. Aus unerfindlichem Grund schien sie den Mann aus dem Norden, wie sie ihn zumeist nannte, nicht sehr zu mögen, wunderte sich Trahil. Und das war noch milde ausgedrückt. Seline war nämlich soeben ein Stein vom Herzen gefallen, zu erfahren, dass dieser Trismon bis zur Allversammlung Melan verlassen würde. Bei allen gebotenen Einwänden dagegen, die sie erhoben hatte, weil es hier um wichtigeres ging, als um ihr eigenes Glück, atmete sie nun doch tief aus und fühlte sich wie von einer schweren Last befreit. Ich habe auch so schon genug Schwierigkeiten, dachte Seline trotzig. So viele Aufgaben und Pflichten, denen ich mich jeden Tag nach besten Kräften stelle. Und dann kommt auch noch dieser unfreundliche Mann aus dem Norden daher, mit seiner beängstigenden Entdeckung. Seline spürte, dass dieser Mann sie auf unbestimmte Weise ablehnte. Und das schon vom ersten Augenblick an. Es hatte sie tief verletzt, so grundlos abgeurteilt zu werden. Schlimm genug, doch nun musste sie ihm auch noch dauernd begegnen. Und dabei dann jedes Mal diesen abschätzigen, bemessenden Blick von ihm ertragen. Ich bin zu mir selbst schon hart genug, dachte Seline traurig. Da brauche ich Niemanden, der mir diese Aufgabe auch noch abnimmt. Doch jetzt nicht mehr, schöpfte Seline neue Hoffnung. Vorerst war sie also zumindest davon erlöst, jubilierte sie innerlich. Dabei bemerkte sie gar nicht, wie sie vor lauter Vorfreude angefangen hatte, still vor sich hin zu lächeln. Bis sie plötzlich ein Räuspern hinter sich vernahm. Es war Trahil. Er fing Selines erschrockenen Blick ein und gab ihr kaum merklich ein Zeichen. So, dass nur sie es sehen konnte, deutete er mit geweiteten Augen auf die schweigend wartende Menge der Boten zu ihrer Linken. Oh nein, dachte Seline beklommen und konnte es gerade noch vermeiden, sich vor Schreck mit der Hand an die Stirn zu fassen. Doch ein schneller Blick hinauf zur Sonne zeigte ihr, dass es auch erst jetzt an der Zeit war für den Segen. Zufrieden seufzend bestieg Seline das Holzpodest vor ihr. Und wie sie es gelernt hatte, atmete sie tief durch, um ihren Geist zu beruhigen und ihre Gedanken zu klären. Doch als sie in all die Gesichter sah, die schweigend und erwartungsvoll zu ihr aufblickten, da wurde ihr das Herz von ganz alleine weit und jeglicher Kummer verflog. Sie lächelte voller Liebe. Denn sie spürte die Furcht, aber auch den Mut und die bereitwillige Entschlossenheit, die hinter den ernsten Gesichtern der zum Aufbruch bereiten Boten verborgen lag. Und auch in den Gesichtern der hinter ihr stehenden Ratsmitglieder und Bürger von Melan konnte sie Furcht, Hoffnung und Schicksalsbereitschaft erkennen. Tiefes Mitgefühl für alles Lebendige durchflutete Seline. Alles Lebendige, das sich Tag um Tag mühte. Bereit das Leben zu leben, immer auch in letzter Ungewissheit und letztlich auch immer in der Angst vor dem Tod. Und mit einem Mal erkannte Seline auch das wahre Wesen Trismons. Seine Härte, nur erwachsen aus einem tiefen sorgenvollen Bemühen. Unfreundlichkeit, letztendlich nur erwachsen aus dem Wunsch, alles möge sich doch noch immer wieder zum Guten wenden. Das helle Licht der Sonne schien Seline mit einem Mal so gleißend und strahlend, dass sie kaum mehr sehen konnte. Alles wurde von dieser Helligkeit überstrahlt. Seline musste ihre Augen schließen. Unvermögen, drang es durch ihren Geist. Alles, was Lebewesen einander antun, ist nur erwachsen aus ihrem Unvermögen dem Leben gegenüber. Aus der Angst eines beängstigend ungewissen Lebens. Tränen rannen Seline über die Wangen, als sie ihre Arme dem Himmel entgegenstreckte, um den Segen für alle Anwesenden hier zu erflehen. Vermutlich waren ihre Augen von dem unglaublich hellen Licht zu stark geblendet worden. Was sie jedoch nicht wusste war, dass das Licht für alle Umstehenden nicht anders wirkte als sonst. Seline fühlte, wie die Liebe, gleich dem wärmenden Licht der Sonne, vom Himmel herab in ihren Körper drang, ihn anfüllte bis er davon überfloss und sich dann auf die Umgebung ergoss. Seline fühlte Liebe und Mitleid für das Land, das sich ewig Wandelnde. Fühlte Liebe und Mitleid für alle Pflanzen, Tiere und Balinen, die immer aufs Neue wurden und vergingen. Und sie bewunderte den tiefen unendlichen Mut des Lebens zu leben. Seline merkte gar nicht, welch tiefen Frieden sie auf die Umgebung verströmte. Einige der Kinder hatten sogar angefangen zu schnurren. Und mit gelöst entrückter Stimme sprach sie: „Reitet nun. Reitet mit unser aller Segen. Reitet mit dem Segen des Allliebenden!“ Und der aufbrandende Donner in ihren Ohren, der darauf folgte, das Vibrieren des Bodens zu ihren Füßen und der Wind auf ihrem Gesicht, als die Limtaane an ihr vorbeistürmten, waren ein Zeichen dafür, dass das Leben selbst, Selines Ruf beantwortet hatte. Mit all seiner berstenden Kraft.