Читать книгу Die lustlosen Touristen - Katixa Agirre - Страница 11

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07 Die vergessenen Straßen von Álava. Die vergessenen Täler. Die aus dem Gedächtnis getilgten Schlachten. Du findest das toll. Diese Stille, dieses Sich-selbst-überlassen-Sein. Und ich auch, warum nicht. So weit weg von Madrid. Weit weg von der grausamen Drohung des unendlichen Stadthimmels. Elftausend Kilometer weit weg von dem Büro für Doktoranden im Fach Musikwissenschaft. Weg. Weit weg. Weit weg von diesem Geruch. Und mich noch weiter entfernend, so das möglich ist.

Im Tempo eines Kreuzfahrtschiffs stoßen wir mit deinem BMW nach und nach auf Namen, die mir vertraut sind: Etxabarri-Ibiña, Murguía, Izarra. Alle bekannt und nah, jedoch ohne dass eine konkrete Erinnerung damit verbunden wäre, wie bei schon vor Jahrzehnten verstorbenen Verwandten.

Im Nu sind wir im Tal von Kuartango angekommen, wie schnell selbst auf den Nebenstraßen alles vorbeifliegt. Einen Moment lang haben wir uns wie Forschungsreisende gefühlt, wie Eroberer, wie britische Geographen. Wir sind allein. Das Auto ist auf einem leeren Parkplatz geblieben.

Du hast einen nicht unbeträchtlichen Teil deines Lebens damit verbracht, von A bis Z die eintausendsechshundert Seiten »Verfall und Untergang des Römischen Imperiums« von Edward Gibbon zu lesen, und zum Schluss ist der Funke auch auf mich übergesprungen. Deshalb hast du dich übermäßig für das winzige Dörfchen Urbina Basabe interessiert, und es war für dich ein absolutes Muss, das Schlachtfeld von Andagoste zu besuchen, das in der unmittelbaren Umgebung liegt. Und deshalb willigte ich auch gern ein. Eine der wenigen oder möglicherweise die einzige archäologische Fundstätte, die Beweis dafür ist, dass die Ureinwohner einmal imstande waren, den römischen Invasoren eins überzubraten. Im hintersten Winkel der Provinz Álava. Wir fahren hin, oder? Na klar, mein Liebster, weiter, immer weiter.

Für einen Eingeweihten wie dich sind die Angaben, die uns das Informationszentrum in der Casa Torre Urbina Basabe liefert, viel zu simpel. Ein ganz anderes Lied ist das Schlachtfeld. Ein friedlicher Hügel, Gras in seiner ganzen sommerlichen Pracht, wenig betretenes Land – hierher verirren sich kaum Touristen, das ist offensichtlich – und einige nicht sonderlich eindrucksvolle Bäumchen. Wenn wir still sind, hören wir den Gesang verschiedener Vögel. Man kann sagen, hier gibt es nicht viel, was Interesse wecken könnte, aber das Vorhandene reicht, um deine Vorstellungskraft anzufachen. Jetzt möchtest du mich als Copilotin mit auf die Zeitreise nehmen, die du gleich antreten wirst:

— Stell dir die römische Legion vor, eine perfekte, quasi wissenschaftlich aufgebaute Tötungsmaschine, entwickelt und immer weiter verbessert von den herausragendsten und blutrünstigsten Köpfen des Imperiums, dafür gedacht, zahlenmäßig zehnfach überlegenen Feinden zu widerstehen und sie sogar zu besiegen. Und trotzdem konnten sie gegen den hiesigen Stamm nichts ausrichten. Schmachvoll mussten sie fliehen, ließen Waffen und Tote zurück, zwei niedergemetzelte Kohorten. Haben sie ihre Gegner unterschätzt? Sicherlich. Haben sie die Kräfte schlecht kalkuliert? Ziemlich schlecht, so wie es aussieht.

— Das war der Überraschungseffekt, füge ich im Expertenton hinzu, den Blick auf den Horizont gerichtet, als kämen all meine Kenntnisse über das Thema nicht nur von dem dreizehnminütigen Video, das wir uns im Informationszentrum angeschaut haben.

— Die Römer wurden in dem Moment angegriffen, als sie ihre Befestigungen bauten, sie waren unvorbereitet, vielleicht erschöpft infolge einer anderen, kürzlich geschlagenen Schlacht. Die Bewohner des Tals hingegen hatten sich strategisch zusammengeschlossen und kannten sich wohl auch mit dem Gelände aus, schließlich war das hier ihr Zuhause. Sie tauchten aus dem Nichts auf und gingen volle Kanone auf die armen Legionäre los. Ehe sie sich versahen, war es wahrscheinlich schon vorbei.

— Das glaube ich nicht, Schatz, denk an die Überreste, die hier gefunden wurden: Bleieicheln, caligae, Pfeilspitzen … Hunderte davon! Zu Zeiten der rudimentären Waffen war der Tod langsam und schmerzhaft, hab daran mal keinen Zweifel.

— Wie kannst du Bleieicheln sagen, ohne zu lachen?

— Weil die wirklich einschüchternd waren. Wir sprechen hier von fünfzig Gramm schweren eichelförmigen Bleigeschossen, die von gut ausgebildeten Legionären mit einer Schleuder abgeschossen wurden. Genug, um dem Feind mit einem einzigen Treffer den Schädel zu zerschmettern; und von denen wurden hier noch nach über zweitausend Jahren einhundertvierzehn Stück entdeckt. Das ist kein Spaß, meine Liebe. Stell dir das Blut vor. Überall verspritzte Gehirnmasse. Morituri, wo man auch hinsieht.

Die Vaskonen im heutigen Navarra kamen mit den Römern gut aus und wurden ohne große Dramen zu Verbündeten der Invasoren. Die Ureinwohner dieses alavesischen Tals, die für das heutige Publikum nicht einmal einen Namen haben (dem Video zufolge nur »Individuen keltiberischen Ursprungs«), widersetzten sich den römischen Kohorten jedoch, eine saubere Scharte im Mythos der unblutigen Romanisierung des Baskenlandes (oder wie man es nennen möchte oder es zur damaligen Zeit genannt wurde, falls es überhaupt irgendwie genannt wurde). Und das alles hier, im wildesten Westen, in diesem vergessenen Tal. Wild, wild west.

Jetzt machst du Fotos, haufenweise, sicher lädtst du sie dann in dem Forum für Geschichte und Archäologie hoch, das du so super findest.

— Acht Legionäre bildeten ein Contubernium; zehn Contubernia eine Zenturie; sechs Zenturien eine Kohorte, erzählst du der Windschutzscheibe, als du den Wagen wieder in Gang setzt.

— Wie interessant. Ist das das Einzige, woran du dich aus dem Buch von Gibbon erinnerst?

— Ach was, ich erinnere mich an einen Haufen Sachen. Hör doch mal die Geschichte von Kaiser Elagabal, die ist faszinierend. Wir sind schon wieder auf der Straße. — Er war der erste Kaiser aus dem Orient, er stammte aus dem heutigen Syrien. Und heiratete fünfmal, fünf Frauen, die längsten Beziehungen hatte er aber mit Männern. Zuerst mit seinem Wagenlenker, und später mit einem Athleten aus Smyrna. Den hat er öffentlich geehelicht, in einem von ihm selbst entworfenen Ritus. Er spielte nämlich gern mit der Religion und ging sogar so weit, Elagabal, den in seiner Heimatstadt verehrten Gott, von dem in späterer Zeit sein heute bekannter Kaisername abgeleitet werden würde, ins Pantheon der römischen Götter zu stellen, sogar noch über Jupiter. Aber am allerliebsten verkleidete er sich als Frau, er rasierte und schminkte sich entsprechend. Böse Zungen behaupten, so sei er durch die Straßen Roms gezogen, bereit sich dem Erstbesten hinzugeben, der ihm ein paar Münzen zuwarf. Er verwandelte das Leben im Kaiserpalast in eine einzige Orgie. Außerdem gewährte er seiner Mutter und seiner Großmutter einen Sitz im Senat, sie waren die ersten weiblichen Senatorinnen. Er bot demjenigen der Ärzte die Hälfte seines Reichs, der es schaffen würde, ihm den Schwanz abzuschneiden und durch weibliche Genitalien zu ersetzen. Schließlich machte ihm gerade ebendie Prätorianergarde, die ihn eigentlich schützen sollte, den Garaus: Sie schlugen ihm den Kopf ab, vierteilten seinen Körper und warfen ihn in den Fluss. Ciao, Elagabal. Die Lebenserwartung der römischen Kaiser war zwar allgemein gering, aber Elagabal brach alle Rekorde: Als er ermordet wurde, zählte er erst achtzehn Jahre.

— Wir haben es also mit dem ersten Transgender-Märtyrer zu tun.

— Ganz genau.

— Sieh mal einer an, die Geschichte ist wirklich interessant.

— Ich wusste, dass sie dir gefallen würde. Du hast eine dunkle Seele.

Beim Reisen in die Vergangenheit vergeht die Zeit wie im Flug. Jetzt müssen wir schneller essen, als uns lieb ist, in dem Restaurant in einem anderen winzigen Örtchen namens Escota (wieder dank des Blogs, ich hatte weder von dem Restaurant noch von dem Ort je zuvor gehört), sonst kommen wir zu spät zu der Führung, die wir für den frühen Nachmittag im Salztal, in Salinas de Añana, vereinbart haben. Keiner hat behauptet, das Leben von Forschungsreisenden wäre einfach.

Die lustlosen Touristen

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