Читать книгу Die lustlosen Touristen - Katixa Agirre - Страница 12

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08 Jahre nach dem Krieg, nach der Hochzeit, der Tochter, der Scheidung, sah sie ihn in einer Bar wieder. Nicht direkt ihn, aber sein Bild. Ein Schwarz-Weiß-Foto. In der verwaschenen Qualität der Fotokopie einer Fotokopie. Unter dem Bild, das Datum seines Geburtstags. Schreib ihm, stand in dem Text, beglückwünsche ihn zur Würde, die er beweist, jeden Tag aufs Neue. Das war in einer Bar, in der sie noch nie zuvor gewesen war und die sie nach jenem Abend auch nie mehr aufsuchte.

Eine Kollegin, Txari, sollte in die Rente verabschiedet werden. Deshalb das Essen. Deshalb die Bar. Ein Abend, der anders war, ein Abend, passend, um mit Themen und Motiven gefüllt zu werden, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. Gelegenheit zu beweisen, dass sie außerhalb der Schule so fröhlich und interessant wie jeder andere sein konnten. Sich das vor allem selbst zu beweisen. Txari, gerade sechzig geworden, beneidenswerte Gesundheit und ein frisch erworbenes Häuschen in Cabo de Gata: ein sonniger Ruhestand zusammen mit ihrer Bildhauer-Freundin.

Und wer wird wohl die Nächste sein?, haben alle gefragt. Ein schneller Blick über die versammelten Kolleginnen und Kollegen, die ältesten schütteln diese Ehre ab, wie man sich ein paar Brotkrumen vom Pullover streicht. Mariluz, also das wirst du sein. Und Mariluz: Wie bitte? Ich? Im Ernst? Das kann nicht sein. Und die Augen dieser Frau, die, ohne es zu wollen, zum ersten Mal an ihr eigenes Altern gedacht hat, treffen direkt auf die Augen des Häftlings. Jung, immer jung auf diesem Bild, fern, sehr fern der Rente, sofern er überhaupt in einer Welt leben würde, in der es so etwas gibt. Aber mir bleiben noch ein paar Jahre, mal schauen, nicht mein Problem, wenn ihr wirklich alle ein Haufen Jungspunde seid, und verderbt mir nicht länger den Abend, kommt schon, und lenkt vor allem nicht von Txari ab. Übrigens, wer hat heute Abend die Kasse?

Lachen, Fußstüber, Klapse, manch einer nimmt sich ab einer gewissen Uhrzeit gewisse Freiheiten bei der einen oder anderen Kollegin heraus. Dinge, die bei Sonnenaufgang schon wieder vergessen sind. Futter für die Amnesie. Zum Beispiel bei Mariluz. Frisch geschieden. Unmöglich, das Angebot von einem deutlich jüngeren Kollegen abzulehnen. Er sieht nicht schlecht aus, Mariluz. Der Hintern sitzt noch am richtigen Fleck, sicher treibt er Sport. Und in diesem Leben muss man eben alles ausprobieren.

Mariluz hingegen würde lieber in der Bar bleiben. Lernen, wie es sich an diesem Ort so lebt. Warten, bis hier die Angehörigen und Freunde der anderen Häftlinge von den anderen Fotos auftauchen. Und sie fragen. Wie läuft das Ganze an diesen weit entfernten Orten? Wahrt ihr bei den Besuchen den Anschein? Kommen euch eure Angehörigen vertraut vor, bleibt noch etwas, wenn auch nur wenig, von dem, was sie einmal waren?

Zwanzig Jahre sind vergangen, denkt sie. Aber es sind noch einige mehr. Jetzt gerade ist es zu spät, um genau nachzurechnen. Sie bleibt bei dieser Zahl, zwanzig, die muss wohl etwas Magisches haben, so viele Tangos und Boleros können nicht irren. Que veinte años no es nada, que febril la mirada6

Dann geht die Nacht weiter, es wird weitergedrängt. Raus aus der Bar. Jetzt in eine Diskothek. Als die Hälfte der Kollegen sich schon verabschiedet hat. Die Stunde der Mutigen. Oder anders gesagt: die Stunde derer, die nichts zu verlieren haben.

Diskothek, na gut, auf geht’s. Ein heftiger Ansturm von Sinneseindrücken. Eine Hand, eine kleine Spuckesalve, ein Gesicht, das ihrem, um ihr etwas zu sagen, zu nahe kommt, die Lippen liebkosen fast ihr Ohrläppchen. Keinen Widerstand leisten. Nicht denken. Mit dem Strom schwimmen. In diesem Leben muss man eben alles ausprobieren.

Koldo ist Englischlehrer. Kahlköpfig. Muskulös. Jung. Im Grunde könnte es auch jeder andere sein. Weil sie getrunken hat, weil sie frisch geschieden ist, weil sie das Foto von dem Häftling gesehen hat. Wegen all dem, oder einfach so. Weil sie es möchte, weil sie es kann. Jedenfalls hat sie sich die Adresse der Strafvollzugsanstalt Teneriffa II eingeprägt. Sie hat sie sich die ganze Nacht lang immer wieder insgeheim vorgesagt, auch während der Mann sich, schon bei ihr zu Hause, auf sie gelegt hat, auch als sie sich auf ihn gehockt hat. Und am nächsten Morgen, als Koldo sich ohne größere Umschweife von ihr verabschiedet hat (mach dir wegen mir keine Gedanken, ich frühstücke normalerweise sowieso nicht), hat sie sich hingesetzt und einen Brief geschrieben. Ohne dem zugedröhnten Kopf groß Beachtung zu schenken. Mit einem Kaffee und dann noch einem. Ohne vorher zu duschen. Sie hat über ihre Scherze aus der Vergangenheit gelacht. Sich gefragt, was das für Leute sind, die normalerweise nicht frühstücken.

Sie weiß nicht recht, wo sie anfangen soll, deshalb fängt sie damit an. Jota, ich weiß nicht, wie ich verdammt noch mal diesen Brief anfangen soll …

Die lustlosen Touristen

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