Читать книгу Die lustlosen Touristen - Katixa Agirre - Страница 8
Оглавление04 Wir sind also in Vitoria. Hier bin ich vor zwanzig und etlichen Jahren zur Welt gekommen. Hier habe ich fast zwanzig Jahre lang gelebt. Hier bin ich an den frühreifen Oktoberabenden zuerst zum Ballett-, später zum Klavierunterricht gegangen. Hier habe ich das Radfahren gelernt, und wie wichtig es ist, den Hals immer schön zu bedecken, wenn man das Haus verlässt. Hier wurde ich zum Milchkaffee-Fan. Hier habe ich mich allmählich zur Exzentrikerin entwickelt oder einfach begriffen, dass ich nie im Zentrum würde stehen können. Hier habe ich mein erstes Mal erlebt, gegen eine Tür gepresst: Und dieses Detail habe ich hervorgehoben, als ich dir die ganze Geschichte erzählte, dabei hätte ich vielleicht andere Aspekte betonen sollen. Von hier bin ich voller Ungeduld aufgebrochen, bin geflüchtet und unversehens dir begegnet, an einem Märzmorgen, gegen Ende des Winters.
Es ist drei Uhr nachmittags, als wir endlich das Haus meiner Mutter betreten. Einen Parkplatz zu finden war schwierig: Meine Überzeugung, dass das Parken im Sommer in dieser Stadt kein Problem wäre, ist offensichtlich veraltet. Beim Eintreten fällt mir als Erstes die Stelle auf, wo bis vor sechs Jahren das Klavier gestanden hat. Denn die leere Stelle an der Wohnzimmerwand gibt es immer noch. Ein befreiter Raum.
— Ich komme um vor Hunger, sagst du.
— Lass uns irgendwo zum Mittagstisch gehen.
— Es ist schon spät, ich gehe besser runter zum Supermarkt und besorge ein paar Kleinigkeiten. Ruh du dich aus.
Und so lässt du mich im Haus meiner Mutter allein. Hier stelle ich sie mir normalerweise vor, hier, auf diesem Sofa. Oder am Küchentisch, auf der Stuhlkante sitzend. Oder wie sie vom Balkon, falls der Regen und die Temperaturen es zulassen, auf den Río Batán schaut und dabei eine Mandarine schält, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, um mit mir zu sprechen. All diese Orte, an denen ich sie mir vorstelle, habe ich jetzt vor Augen, sie aber fehlt, ihre Stimme, ihr Körper. Ich gehe zu ihrem Schlafzimmer und schaue von der Tür aus hinein, traue mich nicht einzutreten. Über dem Kopfende des Bettes hängt ein Druck von Chagalls »Les mariés dans le ciel de Paris«, der den ganzen Raum beherrscht. Hier und da etwas Hippie-Kram, kaum mehr als Fossilien: An der Wand hängt ein Pashmina, ein paar bunte Kissen im Patchwork-Stil liegen herum, auf der Kommode steht ein Räucherstäbchenhalter aus Holz, ohne Reste von Räucherstäbchen. Ich schließe die Augen und meine, sie zu riechen. Genau wie mir der Geruch von Aldeburgh in den Sinn kommt. Der von der Nordsee kommende Wind mischt sich mit Möwenkacke. In Wirklichkeit ist es nicht leicht, in Wirklichkeit rieche ich gar nichts.
Etwas beschämt schließe ich die Tür und gehe in mein Zimmer. Mein Zimmer. Jetzt ist es voller Bücher, die nicht mir gehören, Bücher auf dem Boden, zu wackligen, schiefen Stapeln aufgetürmt. Bücher über reisende Frauen, Bücher übers Abnehmen, Biographien von Mata Hari und Mary Pickford. Neben dem Bett zwei Gedichtbände von mir unbekannten Autoren. Nur an den Wänden sind noch Spuren von mir geblieben, die Poster von damals: eine Ankündigung für das Konzert, das mein Chor unter der Schirmherrschaft des Instituto Cervantes in Moskau gegeben hat (viele durcheinandergewürfelte, umgedrehte Buchstaben), und ein anderes Poster, vom Instituto de la Mujer aus den achtziger Jahren: »Beschneide ihre Bildung nicht: Sie ist eine Frau des 21. Jahrhunderts.« Auf dem Foto ein Mädchen in einer Jeanslatzhose, die auf einer Obstkiste steht; vor einem Notenständer mit einer Partitur aus großen bunten Noten hält sie einen Stab in der Hand und tut fröhlich so, als dirigierte sie ein großes Orchester. Sie muss etwa sieben oder acht Jahre alt sein, ungefähr so alt, wie ich war, als meine Mutter mir dieses Plakat an die Wand hängte. Jetzt blickt mich das Poster ironisch an, mich, diese Frau des 21. Jahrhunderts, eines Jahrhunderts, in dem eine Frau, die ein Orchester leitet, nichts weiter ist als eine exotische Ausnahme. Wenn überhaupt.
Neugierig durchstöbere ich den Schrank (alte Mäntel und Geruch nach Mottenpulver), als ich die Wohnungstür aufgehen höre.
— In fünf Minuten ist das Essen fertig!, rufst du begeistert.
Ich antworte nicht, setze mich aufs Bett und teste die Matratze.