Читать книгу Die lustlosen Touristen - Katixa Agirre - Страница 7

Оглавление

03 Sie hatte ihn gesehen. Mal hier, mal da. Als sie endlich genug Mut beisammenhatte, fragte sie nach seinem Namen. Möglichst ohne allzu großes Interesse durchscheinen zu lassen. Man nannte ihn ihr. Einen Namen. Dann einen anderen. Sie hat nicht weiter nachforschen wollen. Das klingt nicht einmal wie ein richtiger Name. Eher wie ein Spitzname, ein Deckname. Jetzt steht er da vorne, am Altar. Ohne Bart, mit kurzem Haar – unverkennbar er. Und dann seine Stimme. Vor allem diese Stimme. Seine Stimme. Es ist nicht so sehr, was er sagt, vielmehr wie er es sagt. Dieser selbstsichere Ton. Irgendwie erinnert er sie an den gutaussehenden Geschichtslehrer aus der achten Klasse. Der dann einen Monat nach der Hochzeit ein für alle Mal miesepetrig wurde. Diese Stimme. Sie hallt von den Zementwänden der Kirche wider. Und die Gemeindemitglieder sind ganz Ohr, alle sind sie fügsam, wie gezähmt. Jetzt heißt es Ruhe bewahren und Widerstand leisten. Natürlich, das ist es. Die Gemeindemitglieder nicken, applaudieren, machen sich gegenseitig Mut. Aber die Nervosität ist spürbar. Die Polizei bewacht beide Eingänge der Kirche. Schutzhelme, Waffenmündungen. Eine Rückkopplung, das schrille Kreischen des Mikrofons füllt die Kirche. Die Messe ist gleich zu Ende.

Ihre erste Begegnung mit den Schreckgespenstern, die jetzt den Kircheneingang bewachen, ereignete sich in der Calle Reyes Católicos. Zwei von ihnen sind auf sie zugekommen, haben ihre Lehrerinnenmappe durchsucht. Weshalb sind Sie nicht im Unterricht, Fräulein? Ich bin krank, ich bin auf dem Weg nach Hause, hat sie ihnen erklärt und war sich nicht sicher, ob sie husten sollte oder lieber nicht; immerhin hat sie den Mantel fest über der Brust zusammengezogen. Ihre Beine haben gezittert. Dann ab nach Hause und halten Sie unterwegs ja nirgendwo an. Jaja, ich gehe schon. Aber sie ist nicht nach Hause gegangen. Sie ist in die Kirche gegangen.

— Auf der Avenida haben sie angegriffen, sagt einer in der Bank hinter ihr, im Flüsterton. — Und hier, hier werden sie auch nicht untätig zuschauen, du wirst schon sehen.

Kaum hatte sie diesen beängstigenden Gesprächsfetzen mit angehört – fast wirkte es wie ein schlechter Witz! –, war von draußen das erste Wummern zu hören. Bumm-bumm-bumm. Sofort hämmerte es auch an den Türen. Bumm-bumm-bumm. Und wieder hat die Stimme die Kontrolle übernommen, sicher, die Hand fest am Mikrofon: Alle ganz ruhig, hier werden sie nicht reinkommen, das wagen sie nicht.

Es heißt jetzt Widerstand leisten. Im Sitzen auf den Bänken. Oder im Stehen. Jedenfalls Widerstand leisten. Die Kräfte vereinen. Der Stimme zuhören. Die Schreie hören, die von draußen kommen. Warten. Friede sei mit dir, Bruder.

Es ist der dritte Generalstreik seit Schuljahresbeginn. Die Mädchen freuen sich. Mit dreizehn Jahren braucht es nicht viel, um überglücklich zu sein. Sie applaudieren jedes Mal heftig, wenn sie ihnen ankündigt, dass am nächsten Tag keine Schule ist. Sie muss um Ruhe bitten. Bitte, Mädchen, ich bitte euch.

Zum Beispiel einen Monat vor Weihnachten, als Schwester Mercedes ganz niedergeschlagen und verzagt in ihre Klasse kam:

— Der Caudillo ist gestorben, beten Sie mit den Mädchen ein Vaterunser für den Frieden seiner Seele und schicken Sie sie für drei Tage nach Hause.

Der Gefühlsaufruhr jener Tage, das Lachen der Backfische, das dringende Bedürfnis, rauszugehen und tief durchzuatmen. Kommt schon, Mädchen, packt eure Sachen ein und ab nach Hause, aber ganz ruhig, ja? Mari Carmen, was habe ich gerade gesagt? Eine nach der anderen und ohne Radau. Am Montag geht es weiter. Ja, am Montag schreiben wir den Test, vergesst das bloß nicht.

Der Gefühlsaufruhr jener Tage ist heute auch in der Stimme des Mannes. Aufregung und Angst. Er legt das Gefühl hinein, die anderen steuern die Angst bei. Junge Körper, nicht mehr ganz so junge, schwitzend, zitternd, alle warten. Zum ersten Mal sucht sie mit dem Blick nach ihrem Bruder. Er kann nicht weit sein. Aber das ist, als suchte sie die Nadel im Heuhaufen, hier drängen sich tausende Menschen. Er ist erst sechzehn Jahre alt. Versteht fast nichts. Er arbeitet nicht, rasiert sich nicht. Aber sicher ist er gekommen. Ohne sich darum zu scheren, was der Vater ihm gesagt hat. Ihr war das auch egal. Doch sie ist ja auch schon erwachsen. Zwanzig Jahre. Eine richtige Frau. Und plötzlich schlägt ein Stein durch ein kleines Fenster in die Kirche, und als zwei- oder dreitausend Blicke in die Richtung fliegen, segelt eine harmlos aussehende Rauchbombe durch die Öffnung. Die Bombe segelt weiter und fällt zu Boden, direkt vor den Beichtstuhl. Und von dort beginnt sie ihr Gift zu verbreiten. Stille tritt ein, auch am Mikrofon. Es braucht noch zwei weitere Rauchbomben, bis Panik ausbricht. Dann kommen noch mehr, aber keiner verfolgt mehr ihre Flugbahn. Man sieht nichts mehr. Nur noch Rauch überall, und plötzlich sind da auch Schüsse. Bumm-bumm-bumm. Gummigeschosse prallen gegen den Zement. Aber vor allem der Rauch, der Rauch, der Rauch. Die Geschosse sind nicht zu erkennen, treffen aber Jung und Alt gleichermaßen. Schreie. Angst, totgetrampelt zu werden. Alle wollen hier raus, doch es scheint unmöglich, es gibt keine Fluchtmöglichkeit, keinen Ausweg. Angst zu ersticken. Niedergetrampelt und erstickt, doppelte Todesangst. Eine neue Angst, eine konkrete Angst. Der Rauch brennt in der Kehle. Sie hustet. Diesmal wirklich.

— Wir müssen hier raus! Wir müssen hier raus!

Mit tränenden Augen, die Füße bleiern vor Angst, versucht sie auf das Licht zuzulaufen. Sie muss aus dieser Kirche raus, mit dem Frieden des Herrn. Das Licht ist dort, so nah. Zwei- oder dreitausend fromme Seelen drängen dem Licht entgegen. Ein grauer Tag, alle wollen raus in den grauen Tag. Splitterndes Glas. Die Fenster sind zerschlagen, die Leute klettern durch sie hindurch ins Freie. Das ist die Rettung. Alles andere ist Rauch. Glassplitter, Schnitte an den Händen. Auf der anderen Seite der Fenster warten die Maschinengewehre. Die Flüchtenden drücken jetzt nach hinten zurück, niemand möchte jetzt noch raus, sie kommen zurück nach drinnen und überrollen die, die hinter ihnen waren. Und dann hört man: die erste Gewehrsalve, sie dauert ewig, eine Schussorgie. Alle Schreie verstummen, wie im Unterricht, wenn sie mit dem Lineal auf den Tisch klopft. Nur für einen Moment, es ist der Schreck. Dann beginnt das Schreien wieder, das Schubsen, der Druck auf der Brust. Sie möchte nicht mehr raus, sie möchte ganz still bleiben, vom Rauch verborgen. Die Augen schließen. Ein bisschen ersticken, ohnmächtig werden und später aufwachen, wenn alles wieder vorbei ist.

Doch dann kommt es so, dass sie plötzlich draußen ist, sie weiß nicht, wie das geschehen ist, die Menge hat sie bis hierher gedrängt. Sie ist draußen, und die Schüsse wummern weiter. Sie ist draußen und sieht Männer, fast noch Jungs, einige Frauen. Viele fallen. Sie schreien, ohne dass ein Laut aus ihren Mündern dringt (und wo ist ihr Bruder? Ist das nicht ein Freund von ihm aus Jesús Obrero?). Manche werden ohnmächtig. Ein paar starke Männer versuchen, die Gefallenen aufzuheben, doch die Schüsse pfeifen zu dicht an ihren Ohren vorbei, und sie fliehen mit eingezogenem Kopf. Wo entlang flüchten? Wieder denkt sie daran, sich tot zu stellen, bis alles vorbei ist. Die Schüsse wummern weiter, und das Geschrei schrillt unaufhörlich. Da sind blutdurchtränkte Hemden und Kinder, die in die Knie sacken und nicht wieder aufstehen. Und dann, mitten im Getümmel, eine Hand:

— Mariluz, hierher, los, komm!

Auch er hat nach ihrem Namen gefragt, hier und da. Sie müssen einander nicht vorgestellt werden, offiziell. Das wird nie geschehen. Seine Stimme. Und jetzt auch seine Hand. Ist sie gerettet? Der Mann weiß, wo sie langgehen, wo entlang sie fliehen können. Die Schüsse wummern weiter, und der Platz färbt sich allmählich rot. Sie springen über eine niedrige Mauer und entkommen.

Gehet hin in Frieden.

Die lustlosen Touristen

Подняться наверх