Читать книгу Die lustlosen Touristen - Katixa Agirre - Страница 9
Оглавление05 Bei dem, was je nach Blickwinkel unser erstes oder unser zweites Rendezvous sein könnte, gingen wir in ein Jazzkonzert. Du hast mich mitgenommen, nach Huertas. Es war ein Flamenco-Jazz-Konzert, mit Chano Domínguez am Klavier. Damals mochte ich Jazz nicht sonderlich und Flamenco überhaupt nicht. Aber du hast die wenigen Infos, die du über mich hattest, zusammengezählt und eine in jeder Hinsicht forcierte Schlussfolgerung gezogen: Du warst nämlich der Meinung, dass Jazz mir gefallen müsse, oder vielleicht gingst du einfach davon aus, dass du mich mit Jazz beeindrucken könntest. Jedenfalls hast du die Tickets gekauft und dir das ganze Konzert lang nichts anmerken lassen. Damals mochtest du Flamenco eher weniger und Jazz absolut gar nicht. Aber manchmal ist es halt so, perfekte Momente sind nur möglich, wenn wir uns trauen, die Grenzen, die uns von unserem Charakter her gesetzt sind, zu überschreiten. Die Vorsicht fällt von uns ab, je weiter wir uns auf unbekannte Wege vorwagen. Innerhalb der Grenzen unserer Persönlichkeit mögen wir angenehme, ruhige, ja sogar glückliche Momente genießen können. Aber keine perfekten. Denn perfekte Momente haben unweigerlich etwas Überraschendes an sich: Ist es nicht ausgesprochen sonderbar, wenn man keine Wünsche mehr hat, dieses unwirkliche Gefühl vollkommener Zufriedenheit? Zusammen haben wir den Jazz lieben gelernt, wie die Pawlow’schen Hunde, an einem Tischchen im Café Central. Dort, vor ein paar Gin Tonics, berührten sich unsere Knie zum ersten Mal, und du sahst mir in die Augen, während ich auf deine Zigaretten schielte. Ich dachte, Sängerinnen rauchen nicht. Einmal wird schon nichts machen, sag’s keinem weiter, ja? All das, während Chano Domínguez eine besonders langsame Version von »La Tarara« spielte.
Nehmen wir mal an, so war es. Wort für Wort.
Später dann, nachdem wir uns geoutet hatten, beschlossen wir, zum Spaß weiterzumachen. Wir kehrten oft ins Café Central zurück und probierten neue Sachen aus, die uns bis in die Sala Clamores an der Metrostation Bilbao brachten. Und genau wie die Mode mit den Gin Tonics sich weiter ausbreitete, genau so, wie wir mit neuer Coolness Cocktails mit Kardamom und Süßholz bestellten, genau wie wir streng diese oder jene Art von Tonic für diesen oder jenen Gin verlangten, auf genau dieselbe Art wurde unser Geschmack bei allem, was mit Jazz zusammenhing, immer raffinierter. Zum Spaß, aber voller Ernst. Wir verpassten kein Konzert. Wir fingen auch an, Platten zu kaufen. Lasen Rezensionen in Fachzeitschriften. Immer du und ich, ohne diese Vorliebe mit irgendwem zu teilen. Damit niemand sonst etwas davon mitbekam.
Und dieser Vorliebe frönen wir immer noch. Du hast mir viel beigebracht. Von Anfang an habe ich deine Fähigkeit bewundert, Liebhabereien zu kollektionieren. Im Allgemeinen ist die Tendenz eine andere: Es gibt Menschen, die viele Hobbies ausprobieren, ja sogar versuchen, ein paar davon leidenschaftlich zu verbinden. Aber nach einer gewissen Zeit geben die meisten fast alle dieser Hobbies wieder auf (die Ölfarben kommen in die Rumpelkammer, die Ski in den Second-Hand-Laden). Bestenfalls ist es, als ob der Geschmack nach einer Jugend voll trial and error nach und nach ausgefeilter wird und es nur noch Zeit und Lust für eine einzige Sache gibt: Ölfarben oder Ski, aber nie beides zusammen. Ich komme aus der Welt der Musik, einer manischen, in sich geschlossenen und selbstbezüglichen Welt, in der Musik das einzige Gesprächsthema ist, ebenso auch Tätigkeit, Nahrung, Leidenschaft, Ansporn. Und plötzlich lerne ich dich kennen, Gustavito, der du es liebst, viele Interessen gleichzeitig zu unterhalten, sie zu sammeln und zu praktizieren, und dabei einem für mich völlig neuartigen Phänomen folgst, das ich bei mir »Harmonische Polymanie« nenne.
So warst du mein Mentor und hast mir geholfen, diese neue Vorliebe auszubauen. Jazzmusik. Das ist nicht der Raum, der alle Elemente enthält, die A und B, also du und ich gemein haben, wie die Mengenlehre es behauptet. Sondern eher ein Raum, der aus unseren Kreisen herausgelöst ist, den wir beide miteinander geschaffen haben, und der uns hermetisch von allen anderen absondert.
Und der nennt sich in der Mengenlehre Ehe.
Dennoch herrscht im tiefsten Inneren unserer Herzen weiterhin unser wahres Wesen vor. Weiterhin hältst du an deiner Liebe zur Popmusik fest, und ich werde mich, komme was wolle, zur kulturellen Überlegenheit der klassischen Musik bekennen. Der Pop ist in meinen Augen wenig mehr als eine kindische Schnapsidee (Pop! Schon der Name sagt alles!), während die klassische Musik für dich ein schwülstiges Marmordenkmal ist, mit dem du nichts anzufangen weißt. Deshalb soll auf deiner Beerdigung einmal »Watching the Wheels« gespielt werden, der posthume Song von John Lennon. Ich hingegen werde dafür sorgen, dass jemand »Erbarme dich, mein Gott«, die schmerzvollste Arie aus der Matthäus-Passion singt. Nichts davon wird aus unseren Testamenten gestrichen werden. Wir werden uns wehren. Und selbst wenn wir bis zum Ende unserer Tage zusammenbleiben, werden wir zur letzten Party weder Esperanza Spaldings Kontrabass einladen, noch Lorraine Feathers Scat und Vocalese und erst recht nicht Brad Mehldaus Klavier. Nach dem letzten Atemzug werden wir zum Ursprung zurückkehren.
Auch wenn wir momentan noch leben und den Jazz haben.