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Kapitel 2

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Gabi Weber war der einzige Mensch, der seit zwei Jahren Mias nackte Haut berührt hatte. Es tat gut, dass damit keine Emotionen verbunden waren. Keine Zugeständnisse und Versprechungen.

An ihre Hände hatte Mia sich sofort gewöhnt. Voller Vertrauen hatte sie ihr in dem neonnüchternen Licht des Souterrains ihren Rücken überlassen. Frau Webers Finger drückten die Nerven an den abwegigsten Stellen und an den naheliegenden noch dazu. Warme, wellenförmige Wonne durchwogte Mias Körper, wenn die Masseurin ihre obere Gesäßmuskulatur knetete. Das Glück begegnete einem an unerwarteten Orten. Wenn sie nach Schlickpackung und Massage den Kellerraum verließ, fühlte Mia sich wie nach einer Woche Urlaub. Und geradezu unternehmungslustig. An der Promenade setzte sie sich in das weiße Café mit den bunten Blumen und bestellte einen Espresso Macchiato. Wenn sie Kaffee trank, wollte sie den Kaffee auch schmecken. Modegetränke wie Latte Macchiato waren ihr zuwider. Nicht umsonst hatten die Italiener den beigen Schlabber für ihre Kinder erdacht.

Im Pavillon spielte eine Band. Die blonde Sängerin sah aus wie eine Mischung aus Frida und Agneta von ABBA. Die Musiker trugen Hawaii-Hemden. Sie spielten ein buntes Medley von Fly me to the Moon bis Die kleine Kneipe, so dass für wirklich jeden etwas dabei war. Selbst Mia wippte bei dem einen oder anderen Ohrwurm mit den Beinen. Vor einem Jahr wäre ihr das wahrscheinlich nicht passiert.

Nach dem Kaffee setzte sie sich auf ihr schlichtes rotes Mietfahrrad und trotzte dem Westwind im ersten Gang. Der regierte die Insel, wie sonst nur die Gezeiten. Die Windsurfer und Segler konnten sich freuen. Beim Radeln war er eher hinderlich. Da blieb nur der Trost auf Rückenwind bei der Heimfahrt. Über Wiesen und durch ein kleines Eichenwäldchen, vorbei an Möwen- und Austernfischer-Konferenzen steuerte Mia den hübschesten Ort der Insel an. Leider der Favorit der meisten Touristen. Die Reetdächer des Dorfes duckten sich unter dem Wind. In den Cafés saßen Menschen und aßen Kuchen. Mia mochte den Trubel nicht. Sie sehnte sich nach Ruhe. Wie meistens in den vergangenen zwei Jahren. Die Kirche überragte alles wie ein Leuchtturm. Das Tor zum Friedhof quietschte. Sie zog die Sandalen aus und lief durch das weiche knöcheltiefe Gras, mit Gänseblümchen und Löwenzahn, das zwischen den alten Gräbern wucherte. Schiffe, Blumen, Menschen und ganze Geschichten fanden sich auf den grauen Gedenksteinen. Sie waren meist Kapitänen gewidmet. Die Insel hatte viele große Seefahrer hervorgebracht. Darauf war man hier stolz und pflegte dieses Erbe. Noch heute fuhren viele Schiffe über die Weltmeere unter dem Kommando eines Kapitäns von der Insel. Navigation lernten und lehrten die Insulaner bereits im 18. Jahrhundert.

Wie jung die Kapitäne oft waren, wenn sie hier die letzte Ruhe fanden. Dirck Jansen war einer von ihnen gewesen. Sein Leben hatte mit nur dreiundvierzig Jahren auf hoher See abrupt geendet. Das war Siebzehnhundertneunundachtzig gewesen. Seine Familie hatte im Gedenken an ihn einen kunstvollen Stein fertigen lassen. Die Inschrift trat aus dem Sandstein hervor. Das war die kostspielige Variante, wie Mia aus einer kleinen Broschüre wusste, die sie in der Kirche gekauft hatte. Die Inschrift krönte das Bild eines stolzen Dreimasters.

Die Radtour hatte Mia erschöpft und sie ließ sich ins Gras sinken. Mit ihrer Tasche als Kissen schaute sie in den Himmel, der hier drei Dimensionen zu haben schien. Die Wolken schwebten in unterschiedlichen Schichten und verschiedenen Formen. Sie starrte hinauf und schon war sie eingeschlafen. Mia wehrte sich nicht mehr gegen den Schlaf. Er war ihr Freund geworden. Unmittelbar nach Thoms Tod war das anders gewesen. Damals hatte der Schlaf keine Erholung gebracht, sondern den immer gleichen Traum. Sie stand an der Klippe auf Mallorca und sprang hinterher. Das Meer hatte sie dunkel umschlossen und sie hatte keine Luft mehr bekommen. Aus der Atemnot heraus war sie erwacht – über ihrem Gesicht hatte ihre schwere Daunendecke gelegen. Und neben ihr war Leere gewesen. Kein Traum, kein Wunsch und keine Anstrengung konnten Thom wieder zurückholen. Die Verzweiflung darüber hatte sich auch nach einem Jahr nicht gelegt. Aber das Leben musste weitergehen. Sie musste Geld verdienen. Als freie Journalistin wurde sie nur bezahlt, wenn sie etwas lieferte. Die Arbeit lenkte sie ab, das schon, aber abends war sie so erschöpft, als hätte sie jedes einzelne Wort per Hand modelliert.

Wenn sie fliegen musste, fragte sie sich, ob man wohl sofort ohnmächtig würde, wenn das Flugzeug abstürzte oder ob man alles genau mitbekam – die Hilflosigkeit in diesem Moment, die Ausweglosigkeit und den eigenen Tod. Plötzlich hatte sie das Fliegen gehasst. Dabei war sie mit Thom zum Arbeiten um die ganze Welt geflogen, mehr als einmal.

Eines Tages war sie dann durch einen langen Tunnel gefahren und musste auf den Notstreifen fahren, weil sie am ganzen Körper zitterte. Ihr Herz raste und sie war überzeugt, dass sie jeden Moment an einem Herzinfarkt sterben würde. Die gleiche Mischung aus Todesangst und beinahe Ohnmacht erlebte sie eines Abends, als sie von der Arbeit nach Hause radelte. Es war dunkel und sie fuhr durch einen Park. Plötzlich wurde die stattliche Baumallee zum Tunnel und Mia geriet in Panik.

Sie war zu ihrer Hausärztin gegangen und hatte ihr alles erzählt. Die Ärztin hatte sie ernst aber freundlich angeschaut und gesagt: „Haben sie schon mal eine Therapie gemacht?“ Auf Mias Überweisungsschein hatte sie „Angststörung“ schreiben lassen.

Das war das gewesen.

Und jetzt war Mia also hier auf der Insel, um sich von der Arbeit an ihrer Seele zu erholen. In eine Decke in ihren blauweiß gestreiften Strandkorb gekuschelt, betrachtete sie das Meer. Die letzte Fähre vom Festland leuchtete orangefarben im Abendlicht. Über der Hallig hingen violette Haufenwolken, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten. Alles war ein einziges Leuchten.

Doch noch immer wirkte die nahende Nacht wie eine Bedrohung. Zwar nicht mehr ganz so finster wie noch vor ein paar Monaten. Aber das Schwarze war dunkler als vor Thoms Tod. Der Atem ging schwerer, als drückte etwas von außen gegen ihre Gurgel, als würgte sie jemand. Vorher waren Nächte für sie einfach nur das Gegenstück zum Tag gewesen. Sie hatte diese Tageszeit gemocht, wenn alles zur Ruhe kam. Thom und sie hatten abends oft zusammen gekocht, wenn sie nicht gerade auf Pressereisen waren. Und dann immer bis spät am Tisch gesessen und geredet. Nach seinem Auftrag in Afghanistan, hatte sich ein Dämon zwischen sie gelegt. Nachts hatte sich Thom oft gewälzt und im Schlaf geredet. Am nächsten Morgen konnte er sich meistens nicht mehr daran erinnern. Aber irgendwie war das Lachen aus seinem Leben verschwunden.

Sie hatte ihn dabei beobachtet, wie er die Freude am Dasein verloren hatte. Zuerst hatte sie versucht, ihn abzulenken. Mit Kino, gutem Essen, Theater, Reisen. Ganz egal wie schön sie es zusammen hatten, der Schatten, der auf seiner Seele lag, wurde nicht kürzer. Und dann waren sie nach Mallorca geflogen, weil alle es dort immer so romantisch fanden. Die Buchten, die Wälder, die Klippen, das Wasser. Er hatte seine Fotoausrüstung dabei gehabt. An jenem letzten Tag war er allein aufgebrochen. Sie war zu müde gewesen. Wollte lieber etwas länger schlafen. Doch Thom hatte darauf bestanden, dass um diese Zeit das Licht am schönsten war. „Schlaf ruhig noch ein bisschen, Süße. Ich bin in einer Stunde zurück.“

Nach einer Stunde war er nicht zurück. Auch nach zwei Stunden nicht. Nach fünf Stunden begann sie, nach ihm zu suchen. Auf halber Höhe einer Klippe stand das Stativ mit seiner Kamera.

Mia am Meer

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