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Gila

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Kalt greift die Furcht nach Gilas Eingeweiden.

Als sie vom Einkaufen nach Hause kommt, steht die Wohnungstür offen. Nicht Ich-bringe-mal-eben-den-Müll-raus offen. Nein, sperrangelweit offen. Räumt-mir-gerne-die Wohnung-aus-sperrangelweit offen.

„Enno?“, ihre Frage schallt mit drei Frage- und drei Ausrufezeichen durch den Eingangsflur.

Doch es kommt keine Antwort.

Stattdessen versperren ein Kühlschrank und eine Waschmaschine den Eingangsbereich.

Nicht ihre, das sieht sie auf den ersten Blick.

Gilas Herz setzt einen Schlag aus.

Sie geht durch die Wohnung. Von einem Ende zum anderen. Aber außer einer großartigen Unordnung in seinem Zimmer, findet Gila keine Spur von Enno.

Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen, denkt sie.

Es ist eher ein Reflex als eine rationale Handlung, als sie die Telefonnummer ihrer Tochter wählt.

„Mami“, sagt Hannah. Eigentlich ruft sie es eher und es klingt wie eine Frage.

Ihre Mutter ist nicht die Art Frau, die einfach nur mal so anruft, um mit ihr zu plaudern. Meistens haben ihre Anrufe einen ernsten Hintergrund.

„Alles in Ordnung?“, schiebt sie daher sofort hinterher.

Zumal die Mutter ihr beim letzten Mal gesagt hat, dass Enno, also Hannahs Vater, sich seit Neustem seltsam verhält. Er wirkt oft apathisch und reagiert versetzt oder gar nicht auf seine Frau.

Die Rollen waren bei Hannahs Eltern ein Leben lang eher auf die konservative Art verteilt. Enno ist ein Gentleman alter Schule.

Er hat seine Gila nach allen Regeln der Kunst erobert. Er ist von Haus aus wohlerzogen, zuvorkommend, Versorger durch und durch und sehr familienaffin.

Hannah hat noch zwei Schwestern, eine jüngere und eine ältere und Enno fühlte sich stets sehr wohl im Kreise seiner Frauen.

Vielleicht war er ein bisschen zu streng mit den Mädchen, vor allem mit Hannah, aber das ist Gilas Sicht der Dinge.

Sein Verhalten ändert sich ohnehin gerade.

„Stell dir vor, dein Vater ist weg“, sagt Gila mit einer etwas ins Schrille tendierenden Stimme. Man merkt ihr an, dass sie nervlich angegriffen ist. Was wiederum nicht Gilas Art ist. Selbst die schwierigsten Klassen hatte sie immer gut im Griff. Gila ist die Güte in Person, doch ihre hochgewachsene Statur, sympathische Ausstrahlung und natürliche Autorität haben ihr immer Respekt verschafft bei den Kindern.

„Wie meinst du das?“, fragt Hannah. „Hat er dich verlassen?“

„Ach du“, sagt Gila. Ihr ist gerade – auch das ist nicht normal – nicht zum Scherzen zumute. „Natürlich nicht. Ich hoffe nur, es ist ihm nichts zugestoßen. Die Tür stand offen, als ich nach Hause kam.“

„Offen? Steckte der Schlüssel?

„Nein, der Schlüssel steckte nicht.“

„Fehlt irgendetwas?“

„Ja, dein Vater fehlt. Wie ich schon sagte.“

„Soll ich vorbeikommen, Mama?“ Allein die Stimme ihrer mittleren Tochter, die als einzige noch in der Nähe wohnt, beruhigt Gila.

Die anderen beiden Töchter leben mit ihren Familien in anderen deutschen Großstädten weit entfernt. Sie sehen sich selten.

„Du bist lieb. Danke, aber ich glaube, ich schaffe es jetzt“, antwortet Gila. „Es tat einfach gut, deine Stimme zu hören. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.“

Noch bevor Hannah etwas erwidern kann, hat Gila schon aufgelegt und beginnt alle Krankenhäuser in der Umgebung abzutelefonieren.

Gottseidank hat keines einen Patienten namens Enno Gerstner aufgenommen.

Als Gila gerade eine der letzten in Frage kommenden Nummern wählt, klingelt es an der Wohnungstür.

Gila läuft den kurzen Weg bis zur Tür so schnell, dass sie völlig aus der Puste ist, obwohl sie eigentlich sehr fit ist für ihre sechsundsiebzig Jahre.

Vor der Tür stehen zwei Polizisten. Sie haben Enno in ihrer Mitte und halten ihn an je einem Arm fest, während er versucht sich loszureißen.

„Enno“, ruft Gila und streckt einen Arm nach ihm aus.

„Sind Sie Frau Gerstner?“, fragt der eine Polizist, ein junger Typ mit kantig-ebenmäßigem Gesicht.

„Wer sollte ich denn sonst sein?“, entgegnet Gila gereizt und schämt sich im selben Moment für ihre ungeduldige Art. Woher soll der Knilch das auch wissen? Er kennt sie ja nicht. Aber sie will, dass die beiden jetzt sofort Enno los- und ihre Wohnung ver-lassen.

„Wir haben Ihren Mann vor dem Rathauscenter gefunden. Er irrte dort umher und hat scheinbar nach Ihnen gesucht. Uns hat dann eine junge Frau benachrichtigt, die er wohl mit Ihnen verwechselt hat.“ Nach diesen Worten macht er eine Pause und schaut ein wenig belustigt.

Dass diese jungen Kerle einen immer und immer wieder daran erinnern müssen, dass man alt geworden ist. Sie wundert sich doch selbst allmorgendlich über diese fremde Frau mit ihrem feinziselierten Gesicht und den müden Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegen schaut. Die hat ja nun wirklich nichts mit der Gila zu tun, die sie einst war.

Wenn der Polizist wüsste, was für eine Schönheit sie gewesen ist. In ihrer Jugend hätte sie jeden Mann haben können. Aber sie hat sich für Enno entschieden. Und hat es an nur sehr wenigen Tagen ihres Ehelebens bereut. Er ist immer ein guter Mann gewesen.

Bis jetzt.

„Danke, dass Sie meinen Mann nach Hause gebracht haben“, sagt Gila, streckt wiederum ihren Arm nach Enno aus und hofft, dass die Sache jetzt erledigt ist.

„Gern geschehen“, sagt der andere Polizist, er ist etwas älter als sein Kollege, etwas weniger attraktiv, aber dafür etwas freundlicher. Dein Freund und Helfer, denkt Gila. Da scheint manchmal ja doch noch etwas dran zu sein.

Sie würde ihnen an einem besseren Tag vielleicht noch einen Kaffee anbieten. Aber den Jüngeren mag sie nicht und nach dem Schrecken ist sie ohnehin zu erschöpft. Sie will, dass die Beiden verschwinden.

Energisch zieht sie ihren Mann in die Wohnung und der lässt es geschehen. Dann schließt sie die Tür vor den Nasen der beiden Beamten. Sollen die doch denken, was sie wollen! Gila hat sich schließlich nichts zu Schulden kommen lassen. Und auch Enno nicht.

Der wirkt ebenfalls ganz erschöpft. Sagt die ganze Zeit kein Wort. Aber jetzt tappt er zu seinem geliebten Wohnzimmerohrensessel und lässt sich seufzend hineinplumpsen. Er schließt die Augen und atmet tief durch. Dann öffnet er seine Augen wieder und lässt sie durch den Raum schweifen, wie Suchscheinwerfer, bis sie Gila gesichtet haben.

Gila setzt sich Enno gegenüber aufs Sofa. Sie ringt sich ein Lächeln ab, nach dem ihr nicht ist. „Ich hatte dich doch längst gefunden. Warum tust du mir das an? Jetzt, wo unsere gemeinsamen Tage gezählt sind, muss ich dich wieder suchen“, sagt sie. Ihr ist zum Heulen. Trotzdem lächelt sie tapfer weiter.

Enno schaut sie nur emotionslos an, als verstünde er den Sinn ihrer Worte nicht. Er sagt noch immer nichts. Aber in seinem Kopf ist jede Menge los.

Wie schaffen das die Schwäne?

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